30.1. Das IKVI begann nach der Entstehung separatistischer Bewegungen auf dem Balkan, in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion die nationale Frage erneut kritisch zu überdenken. Lenin hatte in seinen Schriften von 1913-16 das „Selbstbestimmungsrecht“ als Mittel zur Vereinigung der Arbeiterklasse und zur Gewinnung von Unterstützung unter den unterdrückten Nationalitäten im Kampf gegen Zarismus und Imperialismus befürwortet. Trotzki erklärte dazu: „Damit nahm die bolschewistische Partei noch keinesfalls auf sich, Separatismus zu predigen. Sie übernahm nur die Verpflichtung, jeglicher Art von nationaler Unterdrückung, auch der gewaltsamen Festhaltung irgendeiner Nationalität in den Grenzen des Gesamtstaates, unversöhnlichen Widerstand zu leisten. Nur dadurch konnte das russische Proletariat allmählich das Vertrauen der unterdrückten Völker gewinnen.“ [65] Aber die Pablisten und andere kleinbürgerliche Pseudomarxisten verzerrten das „Selbstbestimmungsrecht“ in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu der Position, die Arbeiterklasse sei gezwungen, alle Forderungen nach nationalem ethnischem Separatismus zu unterstützen.
30.2. Lenins Position war immer von sozioökonomischen Umständen und der Entwicklung des Klassenkampfs abhängig. Als er vor dem Ersten Weltkrieg für die Völker Osteuropas, des Balkans und des Zarenreiches das Selbstbestimmungsrecht forderte, waren diese Regionen noch hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt, der Kapitalismus und die nationale Bewegung steckten noch in den Kinderschuhen. Fast ein Jahrhundert später waren die Bedingungen in diesen Ländern und der ganzen Welt völlig anders. Kleine Cliquen von ehemals stalinistischen Bürokraten schürten ethnische und kommunalistische Stimmungen in Osteuropa, dem Balkan und Russland, um im Rahmen der Restauration des Kapitalismus ihr eigenes Reich zu schaffen. Diese Bewegungen waren keineswegs antiimperialistisch, sondern bemühten sich aktiv um Unterstützung der imperialistischen Mächte. Diese förderten den Separatismus, um ihre eigenen wirtschaftlichen und strategischen Ziele zu erreichen, beispielsweise auf dem Balkan. Zu Lenins Zeit waren die nationalen Bewegungen in den kolonialen und halbkolonialen Ländern Afrikas und Asien gerade erst entstanden. Fast ein Jahrhundert später hatten die nationalistischen Bewegungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die „Unabhängigkeit“ errungen hatten, erbärmlich darin versagt, ihre demokratischen Aufgaben zu erfüllen, und stattdessen neue separatistische Tendenzen auf der Grundlage von Ethnie, Religion und Sprache geschaffen.
30.3. Die Globalisierung der Produktion war ein Schlüsselfaktor in der Ausbreitung nationalistisch-separatistischer Bewegungen zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Prozess der Globalisierung reduzierte die Bedeutung nationaler Märkte und national basierter Produktion im Vergleich zum globalen Markt und der global integrierten Produktion. Das Internationale Komitee erklärte dazu: „Die neuen globalen Wirtschaftsbeziehungen haben außerdem den objektiven Anstoß zur Entstehung eines neuen Typs von nationalistischen Bewegungen gegeben, welche die Zerstückelung existierender Staaten anstreben. Das global mobile Kapital hat kleineren Regionen die Möglichkeit verschafft, sich direkt an den Weltmarkt anzubinden. Hongkong, Singapur und Taiwan sind zu einem neuen Entwicklungsmodell geworden. Eine kleine Küstenenklave, die über die entsprechenden Transportverbindungen, die Infrastruktur und ein Angebot an billigen Arbeitskräften verfügt, kann sich als attraktiver für das multinationale Kapital erweisen als ein großes Land mit einem weniger attraktiven Hinterland.“[66]
30.4. Zusammenfassend erklärte das IKVI über den Charakter der neuen separatistischen Bewegungen: „In Indien und China stellte sich den nationalen Bewegungen die fortschrittliche Aufgabe, grundverschiedene Völker in einem gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus zu vereinen – eine Aufgabe, die unter der Führung der nationalen Bourgeoisie nicht gelöst werden konnte. Die neue Form des Nationalismus macht sich stark für einen Separatismus nach ethnischen, sprachlichen und religiösen Kriterien, mit dem Ziel existierende Staaten im Interesse lokaler Ausbeuter aufzuspalten. Solche Bewegungen haben nichts mit dem Kampf gegen den Imperialismus zu tun und genauso wenig verkörpern sie in irgendeiner Weise die demokratischen Bestrebungen der unterdrückten Massen. Sie dienen dazu, die Arbeiterklasse zu spalten und den Klassenkampf in einen ethnischen Bürgerkrieg umzulenken.“[67] Im Interesse der Vereinigung der Arbeiterklasse betonte das IKVI die Notwendigkeit einer kritischen und sogar feindseligen Einstellung zu nationalen separatistischen Bewegungen und ihrer Berufung auf „das Selbstbestimmungsrecht“, um die Gründung eigener kapitalistischer Staaten zu rechtfertigen.
30.5. Diese Analyse war in Südasien von besonderer Bedeutung, wo die nationale Bourgeoisie die demokratische Revolution abgebrochen hatte und das Scheitern ihrer jeweiligen nationalistischen Projekte zur Entstehung einer Vielzahl von spalterischen bürgerlichen Tendenzen führte, die sich an Religion, Kaste, Sprache und Ethnie orientierten. In Indien haben die Abkehr von nationaler Wirtschaftsregulierung und die Orientierung auf ausländische Investitionen und die Integration in den weltweiten Produktionsprozess die regionalen wirtschaftlichen Ungleichgewichte und die soziale Ungleichheit verstärkt. Die Krise, die daraus entstanden ist, und die Wut der Bevölkerung darüber, werden von verschiedenen bürgerlichen Tendenzen ausgenutzt, um ethnischen Separatismus zu schüren, unter anderem für die Forderung nach unabhängigen Nationalstaaten in den Regionen Kaschmir, Tamil Nadu, Assam und anderen Landesteilen im Nordosten. Das IKVI erklärte dazu: „Die zentrale Frage ist hier, wie reagiert die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse auf den Zerfall der alten bürgerlich nationalistischen Bewegungen? Sollen die Massen in diesen Ländern ihre Interessen durch neue separatistische Bewegungen geltend machen, die sich auf Absplitterungen von diesen durch die Entkolonialisierung entstandenen Staaten und auf religiöse Kleinstaaterei gründen?
Wir lehnen eine solche Perspektive kategorisch ab. Solche Kleinstaaten weisen der Arbeiterklasse und den unterdrückten Massen in Indien oder wo auch immer keinen Weg vorwärts. Bestenfalls schaffen sie Profite für eine dünne Schicht der privilegierten Klassen, wenn diese in der Lage sind, Freihandelszonen zu schaffen und ihre eigenen Abkommen mit dem transnationalen Kapital zu schließen. Den Massen bieten sie nur die Aussicht auf ethnische Blutbäder und verstärkte Ausbeutung.“[68]
30.6. Im Rahmen der Diskussion des IKVI kam die RCL zu dem Schluss, dass Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht des tamilischen Volkes, was in der politischen Praxis Unterstützung für das nationale separatistische Projekt der LTTE bedeutet, keinen progressiven Inhalt mehr hat. Als der Krieg 1990 wieder begann, nahm die LTTE einen noch offener antidemokratischen und kommunalistischen Charakter an: Politische Opposition wurde verboten, politische Rivalen ermordet. Alle Muslime wurden als feindliche Agenten gebrandmarkt und aus Jaffna vertrieben; gefangene Soldaten und Polizisten wurden getötet und singhalesische Zivilisten gnadenlos angegriffen. Die RCL lehnte das separatistische Programm der LTTE ab, genauso jedoch die Anstrengungen der srilankischen Regierung, die Insel mit Gewalt und militärischen Mitteln vereinigt zu halten. Sie forderte den sofortigen Abzug der Truppen aus dem Norden und Osten nicht, um einen eigenständigen Staat Tamil Eelam zu unterstützen, sondern um durch den Kampf gegen die Unterdrückung der Tamilen durch das Militär die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen in einem revolutionären Kampf für die Sozialistische Republik von Sri Lanka und Eelam zu vereinigen.