161. Die Verbindung von Geschichte und Politik drückte sich in den Umständen aus, die Wohlforths Rückzug aus der Workers League umgaben. Zwar hatte er ursprünglich zugegeben, dass er die Sicherheit der Bewegung ernsthaft gefährdet hatte, als er weder die Führung der Workers League noch das Internationale Komitee über Nancy Fields Familienverbindungen unterrichtete. Doch nachdem Wohlforth die Workers League verlassen hatte, erklärte er, dass die von der Partei erhobenen Bedenken vollkommen ungerechtfertigt waren. Gerry Healys Sorgfalt in Sicherheitsfragen, erklärte Wohlforth, sei ein Beweis für „Wahnsinn“. Joseph Hansen, der wichtigste politische Vertreter der Socialist Workers Party und Herausgeber des pablistischen Magazins Intercontinental Press unterstützte Wohlforth mit einer wüsten Beschimpfung Healys: „Wohlforth nennt Healys Auftreten ,Wahnsinn‘. Sollte man nicht eher und zutreffender einen modernen Begriff dafür wählen, z.B. ,Paranoia?‘“[99]
162. Hansens Eingreifen auf Seiten Wohlforths zielte darauf ab, die Notwendigkeit der Sicherheit in der revolutionären sozialistischen Bewegung herunterzuspielen und jene zu diskreditieren, die solche Fragen ernst nahmen. Hieraus ergaben sich Fragen von größter politischer und historischer Bedeutung.
„i. Hansen verteidigte Wohlforths laxe Haltung gegenüber der Sicherheit seiner eigenen Organisation zu einem Zeitpunkt, als nach dem Rücktritt Nixons eine ungeheure Menge an Beweismaterial über massive staatliche Spionagetätigkeit gegen radikale und sozialistische Organisationen ans Licht kam. Hansens eigene Organisaton war über nahezu fünfzehn Jahre Zielobjekt einer Spionageoperation. Dokumente über die so genannte COINTELPRO-Operation, die das FBI unter J. Edgar Hoover ins Leben gerufen hatte, zeigten, dass die SWP zwischen 1961 und 1975 massiv von Polizeiagenten und Informanten unterwandert worden war.
ii. Der trotzkistischen Bewegung wurden durch die Infiltration der Vierten Internationale durch Agenten der Sowjetunion und der USA vernichtende Schläge zugefügt. Die Ermordung wichtiger Führer der Vierten Internationale zwischen 1937 und 1940 wurde von den stalinistischen Agenten, die in die Bewegung eingedrungen waren, vorbereitet und ausgeführt.
iii. Hansen, der Healys Sorge um die Sicherheit der internationalen trotzkistischen Bewegung als ,Paranoia‘ verunglimpfte, war Zeuge der Ermordung Leo Trotzkis durch Mercader gewesen. Niemand anderer als Hansen hatte dem GPU-Agenten am Tag des Mordes Einlass in Trotzkis Villa in Coyoacan gewährt. Hansen wusste auch, dass Mercader zu einem jungen Mitglied der SWP eine persönliche Beziehung aufgebaut hatte, um so an Trotzki heranzukommen. Nach Trotzkis Ermordung kritisierte James P. Cannon die ,Sorglosigkeit‘, die Trotzkis Sicherheit geschadet hatte: ,Wir haben die Vergangenheit selbst führender Leute nicht genug geprüft – woher sie kamen, wie sie leben, mit wem sie verheiratet sind, etc. Wenn in der Vergangenheit solche Fragen aufkamen – die von größter Bedeutung für eine revolutionäre Organisation sind –, schrie die kleinbürgerliche Opposition regelmäßig: ,Meine Güte, ihr dringt in das Privatleben der Leute ein!‘ Ja, genau das tun wir, genauer gesagt, wir drohen es an – in der Vergangenheit war das nicht so. Hätten wir solche Dinge genauer unter die Lupe genommen, hätten wir vielleicht einige schlimme Dinge in der Vergangenheit verhindern können‘.“[100]
163. In diesem Zusammenhang war Hansens Attacke gegen Healy nicht nur ehrenrührig. Sie war nichts Geringeres als ein Versuch, den Kader der trotzkistischen Bewegung angesichts realer Gefahren von Seiten des kapitalistischen Staates und seiner Einrichtungen zu entwaffnen. Das Internationale Komitee entschied, dass die angemessene Antwort auf Hansen und Wohlforth darin bestand, die historischen Erfahrungen der Vierten Internationale im Hinblick auf Sicherheitsfragen aufzuarbeiten. Dies schloss insbesondere auch eine Untersuchung der Ereignisse ein, die zur Ermordung Leo Trotzkis führten. Auf seinem Sechsten Kongress im Mai 1975 beschloss das IKVI diese Untersuchung, deren Ergebnisse später unter dem Titel „Sicherheit und die Vierte Internationale“ veröffentlicht wurden.