Interview mit einem Mitglied der stalinistischen Palästinensischen Volkspartei

Abed, 73 Jahre alt, ist Mitglied der Palästinensischen Volkspartei (PPP), der stalinistischen Partei auf der Westbank. Er bat uns, nicht seinen wirklichen Namen zu nennen. Er ist arbeitsloser Akademiker. Wir fragten ihn nach seinen Eindrücken von der Demonstration und nach seiner Meinung zur Lage der Palästinenser. Seine Darstellung der Ereignisse macht deutlich, dass der Protest die Klassenspannungen in den Palästinensergebieten zum Ausdruck bringt, die von der PPP und anderen scheinbar linken Organisationen mit der Behauptung unterdrückt werden, dass der Klassenkampf dem nationalen Kampf und der Führung der palästinensischen Bourgeoisie untergeordnet werden müsse.

Abed betont seine Loyalität zu Arafat und vertritt die Ansicht, dass die palästinensische Arbeiterklasse mit der Verwirklichung ihrer sozialistischen Ziele warten müsse, bis ein bürgerlicher Staat entstanden sei. Damit artikuliert er einen Standpunkt, den die stalinistischen Parteien historisch überall auf der Welt vertreten haben - den der Volksfrontpolitik und der sogenannte Zwei-Stadien-Theorie der Revolution. Dieser Standpunkt lehnt den Kampf für den Sozialismus und für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse ab und behauptet, dass erst ein Kampf für die nationale Befreiung im Bündnis und unter der Führung der Bourgeoisie erfolgen müsse und ein Kampf für Sozialismus erst anschließend möglich sei. Auf diese Weise hemmen die PPP und ihresgleichen die unabhängige politische Aktivität der Arbeiterklasse und behindern die Entwicklung einer antiimperialistischen und sozialistischen Bewegung, die die arabische Arbeiterklasse in der ganzen Region mit ihren jüdischen Brüdern und Schwestern vereinen könnte.

Abed : Als erstes möchte ich klarstellen, dass ich in meinem eigenen Namen spreche und nicht im Namen meiner Partei. Zweitens: Ich weiß, dass viele in Israel glauben möchten, wir seien gegen Arafat. Ich sage ganz klar: Wir sind nicht gegen Arafats Führung, sondern gegen seine Wirtschafts- und Sozialpolitik. Arafat zu kritisieren ist etwas ganz anders, als gegen seine Führung zu sein.

In meiner Sicht war die Demonstration eine sehr erfolgreiche Mobilisierung der palästinensischen Arbeiterklasse. Als Kommunist bin ich für die soziale Befreiung meines Volkes, und das wird nach der Erlangung der nationalen Befreiung kommen. Bis dahin kämpfen wir für Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Unser Sprecher hat Tayeb Abed el-Rahim, dem Repräsentanten des Präsidenten in Gaza einen Brief mit sozialen Forderungen überreicht. Ein anderer Vertreter traf sich mit Beamten des palästinensischen Arbeitsministeriums und mit der Organisation der Palästinensischen Arbeitergewerkschaften (OPWP).

WSWS : Warum ist Arafat bereit, mit den Arbeitern zu verhandeln?

Abed : Ich glaube, dass unsere Führung versteht, dass sie den Bedürfnissen des Volkes Beachtung schenken muss, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Arafat hat die Namen von Arbeitern veröffentlicht, die wahrscheinlich Arbeitslosengeld erhalten werden. Wir sagen, dass unsere Forderungen keine Gefahr darstellen, sondern den Wunsch nach Veränderung ausdrücken.

WSWS : Ich habe den Eindruck, dass die Verärgerung der Arbeiter über Arafat tiefer geht, als Sie einzugestehen bereit sind. Die Leute wollen eine Führung für die Arbeiterklasse und wollen die alte bürgerliche Führung los werden.

Abed : Wenn Sie das sagen, dann spielen Sie letztlich dem israelisch-amerikanischen Ziel in die Hände, Arafat zu stürzen. Im Moment ist er unser Führer.

WSWS : Wir sind vollkommen gegen Israels Plan, der vom amerikanischen Präsidenten George Bush unterstützt wird, Arafat durch eine pro-imperialistische Marionettenführung zu ersetzen. Aber eine wirkliche Arbeiterführung ist die Voraussetzung für den Sieg im sozialen und nationalen Kampf.

Abed : Sie müssen verstehen, dass wir uns in einem sehr frühen Stadium befinden; wir brauchen die nationale Befreiung. Ich glaube an den Sozialismus, aber wie kann man über Sozialismus diskutieren, wenn Israel Kriegsverbrechen begeht und Dutzende Menschen im Flüchtlingslager Dschenin abschlachtet?

WSWS : Die Tageszeitung Haaretz berichtete am 2. Juli, dass die Arbeiter sich mit Menschenrechtsgruppen und Nicht-Regierungs-Organisationen beraten haben, und dass eine NGO eine kleinere Testdemonstration vor zwölf Tagen finanziert und eine die Transparente der gestrigen Demonstration bezahlt hat. Haaretz betont: "Die Mitglieder dieser Organisation haben jedoch darauf geachtet, nicht den Inhalt der Parolen auf den Transparenten zu diktieren oder zu beeinflussen." Es gibt offensichtlich die Gefahr, dass diese Bewegung in den Dienst feindlicher Interessen geraten könnte. Gab es äußere Einflüsse?

Abed : Ich möchte das weder bestätigen, noch verneinen. Das ist nicht meine Aufgabe; ich habe keine offizielle Funktion und bekleiden keine führende Position. Ich muss allerdings sagen, das dies der erste Massenprotest ist, eine sehr organisierte Bewegung, die sagt: genug ist genug. Wir sagen unserem Präsidenten: Ja, wir stehen hinter ihnen, aber sie können unsere Unterstützung nicht erwarten, ohne in der Autonomiebehörde Ordnung zu schaffen.

WSWS : Aber Sie sind Sich darüber im Klaren, dass jede von Arafat geschaffene Ordnung nur der palästinensischen Bourgeoisie nützen wird?

Abed : Welcher Bourgeoisie? Wir haben nicht einmal soviel Kapital, dass wir überhaupt über Fragen der Privatisierung oder Verstaatlichung reden können. Arafat vertritt die herrschende Elite, aber gleichzeitig unsere historische Führung.

WSWS : Sie sagen also, egal wie groß die Proteste sind, sie werden der nationalen Bourgeoisie untergeordnet bleiben.

Arbed : Ich möchte keine Polemik über Trotzki und den Trotzkismus führen, aber ich fordere Sie auf, noch einmal über unsere Realität nachzudenken. Glauben Sie nicht, dass wir, bevor wir über Revolution sprechen oder "Sozialismus jetzt" rufen können, erst einmal "Frieden jetzt" fordern und entschlossen für unseren eigenen palästinensischen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt kämpfen müssen? Und für das Rückkehrrecht aller Flüchtlinge? Danach werden wir über Sozialismus diskutieren.

WSWS : Sprechen wir wieder über die Bewegung. Neben ihrer Beteiligung an der palästinensischen Führung spielt eure Partei eine entscheidende Rolle in den Gewerkschaften. Heute lese ich in Haaretz, dass, wenn Lehrer oder Ärzte gegen ihre niedrigen Löhne protestieren, die Autonomiebehörde ihnen sagt, sie sollten sich an ihre sogenannten gewählten Vertreter in den Gewerkschaften wenden. Aber die Führer der Gewerkschaften bekommen ihre Gehälter von der Autonomiebehörde. Ihr gehört letztlich ihre Loyalität, nicht den Arbeitern.

Abed : Korruption hat sich in den Gewerkschaften und im ganzen palästinensischen Establishment verbreitet. Deswegen protestieren wir gegen diese Korruption. Es ist an der Zeit, unsere sozialen und politischen Interessen zu vertreten; das wird unseren Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus und die israelische Aggression stärken.

Dieser Protest war historisch; seit 1993 gab es kein Anzeichen einer unabhängigen Bewegung von Arbeitern. Tatsache ist, dass das kein politischer Protest war, der von Oppositionskräften gegen Arafat organisiert wurde, wie der Volks- oder der Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas - selbst Hamas oder der Islamische Dschihad waren nicht beteiligt. Ich glaube unser Protest hat eine klare Botschaft an Arafat und die anderen Herrscher der Region geschickt: Die Arbeiter werden für ihre Rechte aufstehen. Wäre dieser Protest unterdrückt worden, dann hätte das palästinensische Volk seine Kollegen verteidigt.

WSWS: Glauben Sie, dass diese neue Entwicklung ein revolutionäres Potential beinhaltet?

Abed : Es ist zu früh, das zusagen. Wenn Israel glaubt, dass uns dieser Kampf entzweit, dann irrt es. Er wird uns in unserem Kampf für die Befreiung nur stärken. Soziale Reformen parallel zum entschlossenen Kampf für die Befreiung wird uns auf dem Weg zu Demokratie und Unabhängigkeit voranbringen. Ich glaube, dass die jetzt anstehenden Veränderungen unter Arafats Führung gemacht werden müssen, und wenn Israel versucht, ihn zu beseitigen, dann werden wir Israel beseitigen.

WSWS : Es gibt schon Versuche, die Führer der Proteste zu kaufen und ihnen Jobs anzubieten.

Abed : Na und? In jeder kapitalistischen Gesellschaft ist das doch fast die Norm. Unsere Führer haben diese Bestechung zurückgewiesen.

WSWS : Und wie geht's weiter?

Abed : Wie Sie schon gesagt haben, brauchen wir eine Arbeiterführung. Ich denke, wenn wir unseren eigenen Staat haben, dann steht die Frage auf der Tagesordnung. Unsere Zukunft liegt in einer sozialistischen Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass Arafat ein Sozialist ist, aber im Kampf gegen die israelische Besatzung sind wir vereint: Der Widerstand geht weiter, bis wir unseren Staat in den Grenzen von 1967 haben.

WSWS : Haben Sie auch eine Perspektive für die israelische Arbeiterklasse?

Abed : Was meinen Sie mit ‚israelisch'? Juden? Araber? Es gibt zwei Nationen in Israel. Ich glaube, wenn die Israelis ihre blutige Führung stürzen, dann gibt es eine gemeinsame Zukunft für die beiden Nationen. Meine letztendliche Lösung ist zweifellos ein gemeinsamer sozialistischer Staat. Aber bis dahin gibt es, glaube ich, nur eine Lösung mit zwei Staaten: ein bi-nationales Israel und Palästina.

Siehe auch:
Palästinenser demonstrieren in Gaza für Arbeit
(23. Juli 2002)
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