Ukraine: Parlamentswahl bringt keine Lösung der politischen Krise

Auch die dritten Wahlen innerhalb von drei Jahren konnten die tiefe politische Krise in der Ukraine nicht lösen. Einmal mehr wurde deutlich, dass der Kampf der unterschiedlichen politischen Cliquen, der auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung ausgetragen wird, mit Demokratie nichts gemein hat.

Bei der vorgezogenen Parlamentswahl vom 30. September haben die Parteien Unsere Ukraine von Präsident Viktor Juschtschenko etwa14 Prozent und der Block Julia Timoschenko (BJT) gut 30 Prozent erreicht. Zusammen kommen die beiden Parteien, die vor drei Jahren die so genannte "orange Revolution" anführten, auf 44,8 Prozent der Stimmen. Sie hätten damit eine hauchdünne Mehrheit von 228 der 450 Parlamentssitze.

Die anderen Parteien erhielten laut Wahlkommission zusammen rund 44 Prozent. Die "blaue" Partei der Regionen von Regierungschef Viktor Janukowitsch kam auf 34 Prozent, die verbündete Kommunistische Partei zieht mit 5 Prozent ebenfalls in die Rada, das ukrainische Parlament ein. Die bisher ebenfalls in der Regierungskoalition beteiligte Sozialistische Partei wird im künftigen Parlament nicht mehr vertreten sein.

Erstmalig schaffte auch der Block Litwin des früheren Parlamentspräsidenten Wladimir Litwin mit 3,9 Prozent den Sprung über die 3-Prozent Hürde. Da sich dieser bislang noch nicht eindeutig positioniert hat und wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse werben vor allem die orangen Parteien um seine Gunst.

Die Wahlbeteiligung betrug gerade einmal 63 Prozent, ein Ausdruck der tief sitzenden Abneigung der Bevölkerung gegen sämtliche rivalisierenden Lager.

Anfang April hatte Präsident Juschtschenko das Parlament aufgelöst und gehofft, dass Neuwahlen den lang andauernden Machtkampf mit Janukowitsch zu seinen Gunsten lösen würden. Nachdem Janukowitsch siegreich aus den letztjährigen Parlamentswahlen hervorgegangen war, hatte er sich gezwungen gesehen, ihn zum Ministerpräsidenten zu ernennen.

Im Frühjahr liefen dann mehrere Abgeordnete der orangen Opposition zur blauen Regierungskoalition über. Juschtschenko bezeichnete dies als Verfälschung der Wahlergebnisse von 2006 und löste das Parlament auf. Doch Janukowitsch und seine Koalitionspartner widersetzten sich. Erst nach langen Verhandlungen stimmten sie vorgezogenen Wahlen zu.

Zwei Jahre nach der "orangen Revolution" schwinden die Gegensätze zwischen der neureichen Elite des Landes, deren Sprachrohre Juschtschenko und Timoschenko sind, und den Oligarchen um Janukowitsch zusehends. Hatten sich letztere bisher stark an Russland orientiert, suchen auch sie verstärkt nach Verbindungen zum Westen, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu sichern. Immer deutlicher tritt zu Tage, dass es keine prinzipiellen politischen Differenzen zwischen den politischen Lagern gibt.

Juschtschenko hat inzwischen alle politischen Kräfte, die in das neue Parlament einziehen werden, aufgerufen, ein Modell zur Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition zu entwickeln sowie Maßnahmen zur Konsolidierung des Staates zu ergreifen. Er bot der knapp unterlegenen Partei Janukowitschs Regierungsämter an. "Vom Vizepremier abwärts bis hin zum Ministerposten" sei alles denkbar. Nur so könne es Stabilität im Parlament und in der Regierungsarbeit geben, erklärte Juschtschenko.

Janukowitsch reagierte positiv auf das Angebot des Präsidenten und sprach sich ebenfalls für die Bildung einer "breiten Koalition" aus. Timoschenko hingegen lehnt bislang jede Zusammenarbeit mit der Partei Janukowitschs ab und kündigte an, sie werde sich ausschließlich an einer Koalition mit "demokratischen" Kräften beteiligen. Sollte es zu einer Koalition der Parteien von Juschtschenko und Janukowitsch kommen, werde ihre Partei in die Opposition gehen.

Juschtschenkos Vorstoß ist zum einen ein Versuch, die politische Spaltung des Landes zu überwinden. Während der Westen und die Mitte des Landes überwiegend die Kräfte der orangen Revolution von 2004 unterstützen, stimmen die Wähler im Süden und im Osten seit Jahren mit großer Mehrheit für Janukowitsch. Zum anderen zeigt sich, dass selbst das "orangene" Lager tief gespalten ist.

Eine Koalition des BJT und Unsere Ukraine wäre alles andere als stabil. Das Bündnis würde nur über eine sehr dünne Mehrheit verfügen. Dabei ist immer noch unklar, welche Position der Block Litwin einnehmen wird. Aber vor allem werden die einzelnen Parteien nicht so sehr durch Politik und Programm als vielmehr von wirtschaftlichen und persönlichen Interessen beherrscht, und die Bestechlichkeit von Abgeordneten ist bekannt. "Zwei oder drei Stimmen lassen sich immer kaufen", erklärte dazu der Politologe Vadim Karasyov in der Kyiv Post.

Nicht zuletzt stellt Timoschenkos hoher Stimmenanteil eine Gefahr für Juschtschenkos politische Zukunft dar. Während Juschtschenkos Partei mit mageren 14 Prozent die Quittung für die katastrophalen sozialen Folgen der Regierungspolitik des letzten Jahres bekam, konnte Timoschenko aus der Opposition heraus mit einem populistischen Wahlkampf punkten. Es gilt als wenig wahrscheinlich, dass Juschtschenko in einem Bündnis mit dem BJT längerfristig eine bedeutende Rolle spielen würde.

Im pro-westlichen Lager gibt es mittlerweile Bedenken gegenüber Timoschenkos Politik. Analysten drückten die Sorge von Investoren aus, die auf Timoschenkos Rolle als Premierministerin 2005 verweisen. Damals hatte sie verkündet, sie wolle die Privatisierungen der Kutschma-Ära auf ihre Rechtmäßigkeit durchleuchten. Sie hatte angekündigt, dass mindestens 3.000 Privatisierungen ehemals staatlicher Firmen rückgängig gemacht werden sollen. Die ehemalige Führungsriege um Kutschma hatte seit der Unabhängigkeit des Landes das öffentliche Eigentum verscherbelt und sich dabei schamlos bereichert. Die Unternehmen wurden für Schleuderpreise nach politischen und regionalen Gesichtspunkten verkauft.

Hinter Timoschenkos Re-Privatisierung der Privatisierungen steckte die Absicht, das gestohlene Volkseigentum neu aufzuteilen. Nach der erneuten Verstaatlichung sollten die privatisierten Unternehmen - zu einem besseren Preis - an Oligarchen, die dem orangen Bündnis nahe stehen, oder an westliche Unternehmen verkauft werden.

Nachdem Timoschenko vergangenen Sonntag erneut erklärt hatte, nach ihrem Willen sollten sämtliche Privatisierungsvorgänge noch einmal vor Gericht landen, schrillten bei vielen Analysten die Alarmglocken. Es besteht die Befürchtung, dass dadurch wirtschaftliche und politische Konflikte ausgelöst werden, die nicht mehr beherrschbar sind.

Ein Beispiel dafür war die Privatisierung des Stahlwerks Krivorijstal, des größten Stahlexporteurs des Landes. Die Donezker Oligarchen Rinat Achmetov und Viktor Pintschuk hatte 2004 das Unternehmen weit unter Preis erworben. Damals soll es weit höhere Angebote, beispielsweise vom US-Unternehmen US Steel, gegeben haben. Anfang 2005 wurde der Verkauf auf Druck Timoschenkos per Gerichtsbeschluss aufgehoben und Ende des Jahres wurde Krivorijstal an den Mittal-Konzern verkauft.

Doch diese Angelegenheit löste einen derart ungeheueren Streit aus, das selbst die Weltbank mahnte, es mit dem "Fall Krivorijstal" bewenden zu lassen, da ansonsten ganz allgemein das Investitionsklima darunter leide. Auch der Wirtschaftswissenschaftler Oleksij Plotnikow sah darin einen "ernsten Anschlag auf das Investitionsklima. Der Effekt ist eine Erschütterung."

Die zunehmend skeptische Haltung der ukrainischen Elite gegenüber Timoschenko wird deutlich in einem Interview, dass der Leiter des Internationalen Instituts für Politische Studien in Kiew, Wladimir Malinkowitsch, gegenüber dem Wiener Standard gab. Auf die Frage, was das Wahlresultat für die Ukraine bedeute, antwortete er: "Nichts gutes". Timoschenko "verspricht Unmögliches und zerstört damit unsere Ökonomie. Am gefährlichsten aber ist, dass sie keine demokratischen Institutionen stärken will."

Über ihr Verhältnis gegenüber Juschtschenko befragt, erklärt Malinkowitsch: "Sie wird ihn jetzt noch mehr in der Hand haben. Wenn er sich gegen sie stellt, tritt sie bei den nächsten Präsidentenwahlen gegen ihn an und gewinnt eben dort. Die wahrscheinliche orange Koalition wird also nicht bruchfest sein. Zwei Personen werden zumindest bis zu den Präsidentschaftswahlen 2009 einander weiter bekämpfen. Unklar wird nur bleiben, wer das Land lenkt und im Westen vertritt, er oder sie."

Der Betrug der orangen Revolution

Eine Koalition von Unsere Ukraine und der Partei der Regionen würde die grundlegenden politischen Probleme ebenso wenig lösen wie eine Neuauflage der Regierung des "orangen Blocks". Letzten Endes vertreten alle - Juschtschenko, Timoschenko und Janukowitsch - die Interessen unterschiedlicher Oligarchenclans. Diejenigen im Osten des Landes, für die Janukowitsch spricht, sind enger mit Russland und der früheren Staatswirtschaft verbunden, diejenigen im Westen des Landes haben engere Verbindungen zu den USA und Westeuropa.

2004 wurde Janukowitsch als Wahlfälscher gebrandmarkt und aus dem Amt gedrängt. Janukowitsch war vom damals aus dem Amt scheidenden Präsidenten Kutschma und vom Kreml als Kutschmas Nachfolger favorisiert worden.

Die USA und Westeuropa hatten seit längerem die angeblich "demokratische" Opposition finanziert und dabei auf Juschtschenko, den ehemaligen Notenbankchef und Ministerpräsidenten unter Kutschma, gesetzt. Sein Eintreten für "Marktreformen" zur Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft und sein Versprechen, sich außenpolitisch von Moskau zu distanzieren und die Ukraine näher an EU und NATO zu führen, machten ihn für den Westen attraktiv. Die amerikanische Regierung und westliche Medien unterstützten Juschtschenko und Julia Timoschenko - der reichsten Frau der Ukraine, die ihr Vermögen als Energieministerin unter Kutschma angehäuft hatte - als diese die Janukowitschs Wahl zum Präsidenten als manipuliert und illegitim angriffen.

Juschtschenko und Timoschenko stützten sich großenteils auf pro-kapitalistische, antikommunistische Schichten, die gegen Kutschma eingestellt waren. Ihre Gegnerschaft beruhte allerdings weniger auf der Ablehnung der grassierenden Repressionen und der allgegenwärtigen Korruption, als auf ihrem Wunsch, sich uneingeschränkt zu bereichern. Die aufrichtigen Gegner Kutschmas wurden dabei zynisch manipuliert.

Neun Monate danach brach die neue orangene Führung an gegenseitigen Korruptionsvorwürfen auseinander. Im September entließ Juschtschenko die Regierung seiner früheren Mitstreiterin Timoschenko. Anschließend schloss Juschtschenko mit seinem ehemaligen Gegenspieler Janukowitsch einen Pakt, um Timoschenkos Nachfolger im Amt des Premierministers, Juri Jechanurow, vom Parlament bestätigen zu lassen. Zuvor war Jechanurows Wahl mit knapper Mehrheit gescheitert, weil Timoschenkos Partei gegen ihn gestimmt hatte.

Es wurde vereinbart, dass die Partei der Regionen den stellvertretenden Premierminister stellen und Timoschenko und ihre Verbündeten keine wichtigen Ämter erhalten würden. Damit hatte Juschtschenko die Vertreter der beiden maßgeblichen Oligarchenclans der Ukraine - aus Dnjepropetrowsk und Donezk - ins Regierungsboot zurückgeholt und sich wieder ganz in die Tradition seines Amtsvorgängers Leonid Kutschma gestellt.

Es hat nicht einmal drei Jahre gedauert, und die "orange Revolution", die im Westen als Durchbruch für Demokratie und Freiheit gepriesen wurde, hat ihren wahren Charakter gezeigt. Hatten 2004 noch viele Ukrainer geglaubt, ihre politische und soziale Lage werde sich verbessern, hat sich mittlerweile die Erkenntnis breit gemacht, dass sich die gesamte herrschende Elite von der einfachen Bevölkerung abgehoben hat und nur die eigene Bereicherung im Sinn hat.

Einer aktuellen Umfrage zufolge, gibt es in der Ukraine keinen Politiker, dem mehr Menschen vertrauen, als ihm nicht vertrauen. Wie die Ukrainska Pravda berichtete, glaubten nach Untersuchungen des soziologisch-analytischen Instituts Rasumkom im Februar 2005 über 50 Prozent der Ukrainer, dass die Entwicklung im Lande in die richtige Richtung gehe. 20 Prozent hielten die neue Regierung und den neuen Präsidenten für schlechter als seinen Vorgänger. Sechs Monate später meldete dasselbe Institut, mittlerweile hielten über 60 Prozent sowohl den eingeschlagenen Kurs als auch den Präsidenten selbst für falsch. Eine Untersuchung des Sofija-Instituts zeigte, dass im Oktober 2005 die Unterstützung der Regierung um über die Hälfte auf etwas über 20 Prozent gefallen war. Dieser Prozess dürfte weiter anhalten.

Dies kommt nicht von ungefähr, denn während die politische Kaste nicht müde wird, die wirtschaftlichen Erfolge des Landes anzuführen, ist die Situation für die Mehrheit der Bevölkerung äußerst prekär. Das Preisniveau ist in den vergangenen zwei Jahren derart extrem gestiegen, das die geringen Zuwächse, die in einigen Branchen und im öffentlichen Dienst stattfanden, nicht spürbar sind. Besonders die Preise für Strom und Benzin sind in die Höhe geschossen, aber auch Lebensmittel und Kleidung verteuerten sich. Alleine bis September dieses Jahres stieg die Inflationsrate um über 6 Prozent.

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