Trotsky: A Biography Robert Service Harvard University Press Cambridge, Massachusetts, 2009
(Anm. d. Übers.: Die hinter Zitaten in eckigen Klammern angefügten Nummern beziehen sich auf diese Ausgabe und wurden aus dem englischen Original ins Deutsche übersetzt)
Das Gespenst des Leo Trotzki
1955 besprach James Burnham, der intellektuelle Pate des modernen amerikanischen Neokonservatismus, den ersten Band der groß angelegten Biographie Leo [Lew Dawidowitsch] Trotzkis von Isaak Deutscher. Es war fünfzehn Jahre her, seit Burnham die Vierte Internationale auf dem Höhepunkt einer politischen Auseinandersetzung verlassen hatte, in deren Verlauf er sich heftige polemische Gefechte mit Trotzki geliefert hatte. Für Burnham war das eine schwierige Erfahrung gewesen, fühlte er sich doch in diesem politisch literarischen Wettbewerb ziemlich unterlegen. "Ich muss verwundert innehalten", schrieb Burnham an Trotzki, "wegen der technischen Perfektion Ihrer Satzgebilde, der dynamischen Wucht Ihrer Rhetorik, dem glühenden Ausdruck Ihrer unbezwingbaren Hingabe an das Ideal des Sozialismus, den spontanen, geistreichen, treffenden Metaphern, die auf ihren Seiten aufblitzen." (1)
Nach seiner Abkehr vom Sozialismus bewegte sich Burnham rasch weit nach rechts (wie Trotzki bereits vorausgesagt hatte). Mitte der 1950er Jahre sah er Trotzkis Leben und Werk durch das Prisma seines eigenen ideologischen Engagements für den globalen Kampf gegen den Marxismus. Deutschers Werk alarmierte ihn. Dabei ging es nicht um literarische Fragen. Burnham erkannte sofort, wie meisterhaft der Autor Trotzkis revolutionäre Persönlichkeit wieder aufleben ließ.
Burnham schrieb: "Mr. Deutscher hat seine Geschichte Trotzkis in klassischer Weise gestaltet, und dies zu Recht. Sein Trotzki ist ein Protagonist von höchster Brillanz, der 1905, 1917 und im Bürgerkrieg immer neue Höhen erklomm, wobei er mit der Geschichte verschmolz und zu ihrer Stimme wurde." Burnham gestand dem Autor zu, dass es ihm gelungen war, seinen Lesern Trotzkis außerordentliche Fähigkeiten zu schildern, "die Begeisterungsfähigkeit eines Redners, von dem viele, die ihn hörten, überzeugt waren, dass er der größte unseres Jahrhunderts sei, seine Wortgewandtheit, seine geistreiche und lebhafte Prosa, die Geschwindigkeit, mit der Trotzki jedes neue Thema durchdrang, seine weit gefächerten Interessen, die unter entschlossenen Revolutionären so selten sind."
Burnham bemerkte, dass Deutschers Porträt von Trotzki nicht einseitig sei, vielmehr habe er "bewusst auch Trotzkis Schwächen dargestellt..." Aber trotz der vielen literarischen Vorzüge der Biographie erklärte Burnham sie zu einer "intellektuellen Katastrophe". Burnhams Grund für dieses Urteil war, dass "Mr. Deutscher von einem Standpunkt aus schreibt, der die bolschewistische Revolution billigt und rechtfertigt". Die Biographie sei "organisch verzerrt" und nicht zu akzeptieren. "Alle gelehrten Zitate aus allen möglichen Bibliotheken reichen nicht aus, um den Makel des Bolschewismus abzuwaschen."
Burnham bekannte, es erschrecke ihn, dass Deutscher "sich der Unterstützung unserer führenden Forschungsinstitute, der Hilfe unserer Stiftungen, unserer Zeitschriften, Publikationen und der Förderung der großen angelsächsischen Oxford Press erfreuen durfte". Hatte das Establishment etwa nicht bemerkt, welche Gefahr darin lag, wenn es zuließ und sogar förderte, dass Trotzkis heroisches Leben und seine revolutionären Ideen in allen Einzelheiten einem breiten Publikum bekannt gemacht wurden?
Burnham schloss seine Besprechung mit einem Schrei der Verzweiflung: "Der Geist unserer Universitätsstudenten und Meinungsmacher wird stark geprägt durch die äußerst wichtigen Fragen, die Deutscher behandelt, durch seine Ideen. Es ist eines von vielen Anzeichen für den selbstmörderischen Kurs der westlichen Welt." (2) Die Besprechung legte nahe, Deutschers Buch und ähnliche Bücher, die die Oktoberrevolution und ihre Führer sympathisch darstellen, sollten besser nicht veröffentlicht werden.
Zumindest von seinem eigenen politischen Standpunkt aus, hatten Burnhams Befürchtungen durchaus ihre Berechtigung. Er sah voraus, welches subversive Potential die Rehabilitierung Trotzkis durch Deutscher in sich barg. Schließlich hatte ein Berg stalinistischer Lügen Trotzkis historische Rolle und politische Ideen viele Jahrzehnte lang begraben. Im Februar 1956 hatte Chruschtschow in seiner "Geheimrede" auf dem Zwanzigsten Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mehr oder weniger zugegeben, dass Stalin ein Massenmörder war, und damit die Anklagen bestätigt, die der unversöhnlichste Gegner des Diktators schon zwanzig Jahre zuvor erhoben hatte. In den folgenden Jahren wurde die politische Persönlichkeit Trotzkis auf der ganzen Welt immer stärker wahrgenommen.
Vor dem Hintergrund einer wachsenden Militanz der Arbeiterklasse und Radikalisierung der Jugend brachte Deutschers biographische Trilogie - Der bewaffnete Prophet, Der unbewaffnete Prophet und Der verstoßene Prophet - zahllosen Jugendlichen, Intellektuellen und Arbeitern das Wirken und die Ideen Leo Trotzkis nahe. In den 1950er und 1960er Jahren entstanden etliche Organisationen, die sich auf das Erbe Trotzkis beriefen. Das war vor allem in Großbritannien der Fall. Bereits 1964 ging die Führung der Young Socialists, der Jugendbewegung der britischen Labour Party, in die Hände der trotzkistischen Socialist Labour League über. Während der 1960er, 1970er und bis in die 1980er Jahre kümmerte sich der britische Verfassungsschutz MI5 intensiv um die trotzkistischen Organisationen. (3)
Eine neue Offensive gegen Trotzki
Diese historische Erfahrung sollte man sich in Erinnerung rufen, wenn man ein eigenartiges literarisches Phänomen betrachtet: Die Veröffentlichung von drei Biographien Leo Trotzkis von britischen Historikern innerhalb von etwas mehr als fünf Jahren. 2003 erschien bei Routledge das Trotzki-Buch von Ian Thatcher von der Universität Leicester (früher an der Universität Glasgow). Drei Jahre später veröffentlichte Geoffrey Swain, ebenfalls von der Universität Glasgow, eine Trotzki-Biographie bei Longman. Und jetzt, Ende 2009, bringt Robert Service, Professor am St. Antony’s College in Oxford, sein Buch Trotsky: A Biography heraus. In Großbritannien wurde das Buch von Macmillan verlegt, und in den Vereinigten Staaten von der Harvard University Press. Was macht Trotzki, der seit mehr als siebzig Jahren tot ist, für britische Historiker heute so interessant?
An anderer Stelle hat dieser Rezensent die Werke von Thatcher und Swain ausführlich analysiert und nachgewiesen, dass sie voll krasser historischer Fälschungen und absolut wertlos für jemanden sind, der etwas über das Leben und die Ideen Trotzkis erfahren will. Als ob sie Burnhams Aufforderung folgen würden, bemühten sich Thatcher und Swain, Trotzki auf keinen Fall eine Plattform zu geben. Daher waren sie so vorsichtig, möglichst wenig aus seinen Schriften zu zitieren. Beide Bücher zielten darauf ab, das positive Bild von Trotzki, das von Deutschers großer Trilogie gezeichnet wurde, ins Gegenteil zu verkehren. Thatcher und Swain bezichtigen Deutscher, er habe den "Mythos" von Trotzki als dem großen Revolutionär, marxistischen Theoretiker, militärischen Führer, Analytiker der Politik und Gegner der totalitären Bürokratie geschaffen. Die Biographien von Swain und Thatcher sollten ein neues, antitrotzkistisches Bild erzeugen, wobei sie sich der herkömmlichen stalinistischen Lügen und Fälschungen im Interesse eines zeitgenössischen Antikommunismus bedienten. (4)
Jetzt schließt sich Robert Service mit seinem Beitrag diesen Bemühungen an, Trotzkis historisches Ansehen zu diskreditieren. In ihrer Vorankündigung behauptet die Harvard University Press: "Obwohl Trotzkis Anhänger stur die Ansicht vertreten, er sei ein wahrer Revolutionär und mächtiger Intellektueller gewesen, der von Stalin ins Exil getrieben wurde, ist die Wirklichkeit doch recht anders. Das erhellende Porträt des Mannes und seines Erbes [von Service] rückt dieses Bild zurecht." Tut es das wirklich?
Biographie als Rufmord
Trotsky: A Biography ist ein geschmackloses und widerwärtiges Buch und wurde ohne Rücksicht auf elementare geschichtswissenschaftliche Standards verfasst. Service betrieb seine "Forschung", wenn man sie denn so nennen will, in böser Absicht. Sein Trotsky ist nicht Geschichte, sondern vielmehr der Versuch, einen Ruf zu vernichten. Service begnügt sich nicht damit, Trotzkis politische Taten und Ideen zu verzerren und zu fälschen. Häufig gleitet er auf die Ebene von Klatschgeschichten der Boulevard-Presse hinab. Service versucht, Schmutz über Trotzkis Privatleben auszugießen. Zu seinen Lieblingsthemen gehören "Gerüchte" über Trotzkis intime Beziehungen, ohne dass er die Quelle der Gerüchte nennt, geschweige denn ihre Glaubwürdigkeit überprüft.
Trotzki erklärte einmal, als er sich gegen die Verleumdungen des Stalin-Regimes verteidigte: "Auf meiner Ehre als Revolutionär gibt es keine Flecken." Service jedoch stellt Trotzki als ein Individuum dar, das überhaupt keine Ehre hat. Er versucht ihn nicht nur als revolutionären Politiker, sondern auch als Menschen zu diskreditieren. Trotzki ist bei Service eine herzlose und eingebildete Person, die ihre Mitarbeiter für ihre eigenen, egoistischen Zwecke benutzt, ein treuloser Ehemann, der kaltblütig seine Ehefrau verlässt, und ein Vater, der seinen Kindern gegenüber kalt und gefühllos, ja sogar für ihren Tod verantwortlich ist. "Die Leute merkten schnell, wie eingebildet und ichbezogen er war", heißt es bei Service an einer typischen Stelle. [56]
Die Biographie von Service ist voller solcher kleinkarierter Beleidigungen. Trotzki war "unberechenbar und unzuverlässig". "Er war eine arrogante Person", die "auf egozentrische Weise annahm, dass seine Überzeugungen ihm zum Sieg verhelfen würden, wenn er sie energisch genug vorbringe". "Seine Selbstbezogenheit war extrem. Als Ehemann behandelte er seine erste Frau einfach schäbig. Er ignorierte die Bedürfnisse seiner Kinder, besonders wenn sie seinen politischen Interessen zuwiderliefen."[4]
Trotzkis Leben als Intellektueller und Politiker war, so möchte Service seine Leser glauben machen, ebenso schäbig wie sein Privatleben. Trotzkis "Hang zum Diktator wurde im Bürgerkrieg ganz offen sichtbar. Er trampelte auf den Bürgerrechten von Millionen Menschen herum, die Industriearbeiter eingeschlossen." Was seine spätere politische Niederlage angeht, so tut Service Trotzkis Analyse vom Anwachsen der Sowjetbürokratie und ihrer Machtergreifung ohne Begründung ab. Service unterstellt einfach, als läge es auf der Hand, dass Trotzki einem Mann [Stalin] und einer Clique unterlegen sei, die ein besseres Verständnis für das politische Leben der Sowjetunion hatten. [4]
Service zufolge war Trotzki lediglich ein zweit- oder drittklassiger Denker. Trotzki, so schreibt er, "erhob keinen Anspruch auf intellektuelle Originalität: Er hätte sich lächerlich gemacht, wenn er das versucht hätte."[109] "Geistig wechselte er von einem Thema zum nächsten und fühlte sich nicht bemüßigt, sein Denken zu systematisieren." [110] Trotzki habe rasch und oberflächlich geschrieben: "Er liebte es, einfach an einem Schreibtisch zu sitzen, den Füllhalter in der Hand, und das letzte Werk herunterzukritzeln. Niemand wagte, ihn zu stören, wenn sich der Strom der Worte in seinem Hirn formte." [319] Und was war das Ergebnis dieser "Kritzelei"? Service schreibt: "Sein Denken war ein verwirrtes und verwirrendes Durcheinander." [353] "Er verbrachte viel Zeit damit zu diskutieren, und wenig damit nachzudenken. Der Stil siegte über den Inhalt... Damit einher ging letztlich ein Mangel an intellektueller Ernsthaftigkeit." [356] Das ist Services Verdikt über das literarische Werk eines Mannes, der zu den größten Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts gezählt werden muss. (5)
Ein Biograph muss den Gegenstand seines Werks weder mögen noch respektieren. Niemand würde von Ian Kershaw verlangen, er solle Sympathie für Adolf Hitler hegen, dessen Leben er zwei umfangreiche Bände gewidmet hat, die das Ergebnis vieler Jahre intensiver Forschungsarbeit waren. Aber unabhängig davon ob ein Biograph das Objekt seiner wissenschaftlichen Arbeit bewundert, verachtet oder ihm kühl und mit unparteiischer Ambivalenz gegenübertritt, muss er sich an die überlieferten Fakten halten und versuchen, die betreffende Persönlichkeit zu verstehen. Der Biograph hat die Verantwortung, ihr Leben im Zusammenhang mit den Zeitumständen zu untersuchen, in der sie gelebt hat. Das übersteigt die intellektuellen Kapazitäten von Service und die Grenzen seiner Kenntnisse. Stattdessen nimmt er auf eine sinnlose und absurde Weise von Beginn an den Standpunkt eines tadelnden Berufsberaters ein. Er schreibt in der Einleitung seiner Biographie, Trotzki "hätte leicht eine große Karriere als Journalist oder Essayist machen können, wenn er nicht die Politik zu seiner Hauptbeschäftigung gemacht hätte". Aber Trotzki wählte eine politische Laufbahn, und zwar als revolutionärer Politiker. Diese Entscheidung kann Service weder akzeptieren noch verstehen.
Service nennt sein Buch "die erste ausführliche Biographie eines Autors außerhalb Russlands, der kein Trotzkist ist". [xxi] Was meint er mit "ausführlich"? Services Biographie ist sicher lang, quälende 501 Seiten lang. Aber was den Inhalt angeht, ist sie nichts weiter als eine XXL-Version der Biographien von Thatcher und Swain. Wie diesen früheren Werken, so fehlt es auch dieser Biographie an Geschichte. Es gibt nicht ein einziges historisches Ereignis, das auch nur annähernd in der erforderlichen Detailtreue dargestellt wird.
Service reduziert das große und komplexe Drama der revolutionären Epoche Russlands auf eine Reihe nichtssagender Bilder. Sie dienen allenfalls als Staffage für die angeblichen politischen, persönlichen und moralischen Fehler Trotzkis, mit denen er diesen lächerlich machen will. Die Machtübernahme der Nazis 1933, der Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs, die Bildung der Volksfront in Frankreich werden mit ein paar zusammenhangslosen Sätzen gestreift. Sogar die Moskauer Prozesse und der nachfolgende Terror verdienen kaum mehr als eine Seite. Weit mehr Aufmerksamkeit widmet Service dagegen der kurzen intimen Beziehung Trotzkis zu Frida Kahlo!
Ein Kompendium von Fehlern
Darüber hinaus ist die Biographie voller faktischer Fehler, die auf das äußerst beschränkte Verständnis des Autors für sein historisches Material zurückzuführen sind. Im Verlauf eines verwirrten Exkurses über Trotzkis Ansichten zum revolutionären Terror in der Zeit vor 1917 schreibt Service, dass Trotzki "sich 1909 gegen den ‘individuellen Terror’ aussprach, als die Sozialrevolutionäre den Polizeispitzel Evno Azev ermordeten, der ihr Zentralkomitee infiltriert hatte". [113] In Wirklichkeit wurde Asef (so die richtige Transkription aus dem Russischen) nicht 1909 ermordet. Er wurde überhaupt nicht ermordet. Asef, der als Agent der Ochrana innerhalb der Sozialrevolutionären Partei terroristische Aktionen und auch Morde begangen hatte, überlebte seine Entlarvung und starb 1918 eines natürlichen Todes. Service verzichtet darauf, auch nur einen einzigen Satz aus Trotzkis wichtigem Artikel zu der Asef-Affäre zu zitieren.
Bei der Erörterung der Ereignisse von 1923 in Deutschland behauptet Service, die Revolution sei gescheitert, nachdem es "in Berlin zu Straßenkämpfen" gekommen sei. In Wirklichkeit gab es in Berlin keine Kämpfe. Die Führung der Kommunistischen Partei hatte den Aufstand abgesagt, bevor es in der Hauptstadt zu Kämpfen kommen konnte. Die einzige deutsche Großstadt, in der es zu ernsthaften Kämpfen kam, war Hamburg.
In einem Absatz, in dem die chinesische Revolution erwähnt wird, behauptet Service, dass die Kommunistische Internationale im April 1927 Anweisungen für einen Aufstand gegen Tschiang Kai-schek und die Kuomintang geschickt habe. "Dies war die Rechtfertigung, die Tschiang benötigte, um die Kommunisten in Shanghai und anderenorts blutig niederzuschlagen." [355] Das ist falsch. Es existierte kein derartiger Plan, und es gab keine Instruktionen. Service vermengt die Ereignisse in Shanghai im April 1927 mit denen, die später in Kanton stattfanden.
An anderer Stelle schreibt Service, Trotzki habe im Juni 1928 an seiner Kritik des Programmentwurfs für den Fünften Kongress der Komintern gearbeitet. [371] Der Fünfte Kongress fand jedoch 1924 statt. Die Kritik, die Service meint, betraf den Sechsten Kongress.
Service schafft es sogar, das Todesjahr von Trotzkis Witwe Natalja Sedowa falsch anzugeben. Er erklärt: "Sie starb 1960, tief betrauert von ihrem Freundeskreis in Mexiko, Frankreich und Amerika." [496] In Wirklichkeit starb Sedowa im Januar 1962 im Alter von 79 Jahren. Einige Monate vor ihrem Tod, im November 1961, hatte Natalja Sedowa - was jeder wissen sollte, der mit der Biographie Trotzkis vertraut ist - an die sowjetische Regierung geschrieben und eine Überprüfung der Moskauer Prozesse und die Rehabilitierung Trotzkis gefordert. Am Ende des Buchs macht Service erneut einen groben Fehler, indem er die Frau und die Tochter von Trotzkis jüngstem Sohn Sergej als die seines älteren Sohnes Leo ausgibt. [500-501] Diese Fehler entgingen nicht nur den Herausgebern bei Macmillan und der Harvard University Press, sondern auch den nicht besonders aufmerksamen Augen von Professor Ian Thatcher, der, so informiert uns Service, das ganze Manuskript gelesen habe.
Service wendet das gleiche Verfahren an wie Thatcher und Swain und befasst sich nicht mit Trotzkis Schriften. Mit der Ausnahme von Trotzkis M ein Leben, das Service zu diskreditieren versucht, gibt es keinen überzeugenden Hinweis dafür, dass der Biograph auch nur eines von Trotzkis Büchern und Broschüren systematisch durchgearbeitet hat, bevor er dessen Biographie niederschrieb. Außer dem Buch Thatchers, das er mit Lob überschüttet, hat Service auch der existierenden wissenschaftlichen Literatur über Trotzki wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Biographen gegenüber, die in der marxistischen Tradition ausgebildet wurden und Trotzkis literarisches Werk ernsthaft behandelt haben, verhält er sich verächtlich. So wird der verstorbene Pierre Broué, ein sehr geachteter Historiker und Autor einer umfangreich recherchierten, zuverlässigen Trotzki-Biographie, als "Götzendiener" abgekanzelt, und über Deutscher macht er sich als jemanden lustig, der "an Trotzkis Schrein betet". [xxi]
Es gibt allen Grund, daran zu zweifeln, dass Service die Werke der anderen Historiker, denen er in seinem Vorwort Tribut zollt, überhaupt gelesen hat. Zum Beispiel erwähnt Service Professor Alexander Rabinowitch als einen Historiker, der Trotzki einer "skeptischen Prüfung" unterzogen habe. Er würfelt ihn mit James White von der Universität Glasgow zusammen, der absurderweise leugnet, dass Trotzki während der Machteroberung in der Oktoberrevolution 1917 eine bedeutsame Rolle gespielt habe. [xxi] In Wirklichkeit belegt Rabinowitch in seinem Buch The Bolsheviks Come to Power Trotzkis Rolle als wichtigster Taktiker und praktischer Führer des Siegs der Bolschewiki.
Obwohl Service seine Biographie selbstgerecht als "ausführlich" taxiert, finden sich darin buchstäblich keinerlei Auszüge oder adäquate Zusammenfassungen von Trotzkis wichtigsten politischen Werken. Service geht nicht einmal auf die wesentlichen Auffassungen und Perspektiven der Theorie der permanenten Revolution ein, die über 35 Jahre hinweg für Trotzkis politische Arbeit grundlegend waren. Seine umfangreichen Schriften zu China, Deutschland, Spanien, Frankreich und sogar Großbritannien werden kaum erwähnt.
Wenn Service sich doch einmal auf Trotzkis Bücher bezieht, liegt er in der Regel falsch. In einem höchst konfusen Hinweis auf Trotzkis Literatur und Revolution schreibt er diesem die Ansicht zu, es werde "viele Jahre dauern,... bis eine weitgehend ‚proletarische Kultur’ entstehen wird". [317] Trotzki hat aber, wie jeder weiß, der Literatur und Revolution gelesen hat, die Auffassung von einer "proletarischen Kultur" entschieden abgelehnt. Aber Service weiß es nicht - entweder, weil er das Buch nicht gelesen oder weil er es nicht verstanden hat. (6)
An dieser Stelle muss sich der Leser fragen, wie Service es schafft, 501 Seiten über Trotzki zu füllen, ohne auf seine Schriften einzugehen. Wie ist es möglich, eine "ausführliche Biographie" eines Mannes zu schreiben, der zu den produktivsten Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts gehört, ohne seinem literarischen Werk die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken?
Die Aufdeckung von Trotzkis "verborgenem Leben"
Als ob er diese Frage vorausgesehen hat, informiert Service seine Leser gleich am Anfang, dass sein Hauptanliegen nicht auf das gerichtet sei, was Trotzki geschrieben oder getan habe. "Der Zweck dieses Buchs", so schreibt Service, "besteht darin, das verborgene Leben aufzudecken." Er gesteht ein, dass das "Ausgangsmaterial bei den Werken beginnt, seinen Büchern, Artikeln und Reden, die er zu Lebzeiten veröffentlicht hat". Aber das sei nicht genug. Selbst das Studium aller Werke Trotzkis würde "uns zwar über seine großen Ziele berichten, ohne dabei aber immer seine persönlichen oder fraktionellen Zwecke in jedem Augenblick deutlich zu machen. Als aktiver Politiker konnte er nicht immer aussprechen, was er wirklich vorhatte." [4-5]
Service fährt fort: "Was er schriftlich hinterlassen hat, darf nicht die ganze Geschichte ausmachen. Manchmal lässt sich sein Werdegang anhand des für nebensächlich Gehaltenen viel effektiver rekonstruieren als anhand der großen öffentlichen Stellungnahmen: anhand seiner Lebensführung, seines Einkommens, seiner Wohnverhältnisse, seiner Familienbeziehungen, seiner Eigenheiten und seiner alltäglichen Anschauungen über die restliche Menschheit... Wie bei Lenin und Stalin ist es darüber hinaus genau so wichtig herauszustellen, worüber Trotzki Stillschweigen bewahrte, wie worüber er sprach und schrieb. Seine unausgesprochenen Grundüberzeugungen waren integraler Bestandteil des Amalgams seines Lebens." [Hervorhebung hinzugefügt, 5]
Auch Stalin, der es sehr sorgfältig vermieden hat, anderen Menschen mitzuteilen, was er wirklich dachte, könnte dieser Feststellung bedenkenlos zustimmen. Sie passt hervorragend zu dem inquisitorischen Prinzip, das Stalin bei den Moskauer Prozessen anwandte. Die Beweise für die Verbrechen fanden sich nicht in den öffentlichen Stellungnahmen, Schriften und Handlungen der alten Bolschewiki, die angeklagt waren. Vielmehr ergaben sich ihre Verschwörungen aus den "unausgesprochenen Grundüberzeugungen", die sich hinter ihrem öffentlichen Auftreten verbargen.
Und wie versucht nun Professor Service, Trotzkis "unausgesprochene Grundüberzeugungen" aufzuspüren? Service verkündet, Trotzkis "verborgenes Leben" könne aufgedeckt werden, indem man unveröffentlichte Entwürfe seiner Schriften untersuche. "Die Streichungen und Hinzufügungen sagen uns, was er anderen nicht mitteilen wollte. Das trifft besonders auf seine Autobiographie zu." [5]
Diese Behauptung bildet die Grundlage für den Hauptvorwurf, den Service Trotzki macht: Die Autobiographie Mein Leben, die Trotzki 1930 schrieb, sei ein unzuverlässiges und suspektes Werk. Service beklagt, dass Trotzkis "Bericht über sich selbst von Generationen von Lesern unkritisch akzeptiert worden ist. Die Wirklichkeit war anders, denn immer, wenn unbequeme Fakten das von ihm erwünschte Selbstbildnis verdunkelten, hat er sie weggelassen oder zurechtgebogen." [11]
Trotzkis "wunde Punkte"
Und was genau soll Trotzki in Mein Leben verfälscht oder verborgen haben? Zwei größere Unstimmigkeiten behauptet Service entdeckt zu haben, als er den ersten Entwurf von Trotzkis Autobiographie, der sich im Hoover Institute an der Stanford University befindet, mit der ersten veröffentlichten Fassung verglich. Erstens soll Trotzki den tatsächlichen Wohlstand seines Vaters David Bronstein verschwiegen haben. Die zweite Unstimmigkeit, mit der sich Service geradezu zwanghaft beschäftigt, ist Trotzkis angeblicher Versuch, seine jüdische Abstammung herunterzuspielen.
Service schreibt: "Als Marxist war ihm der Reichtum seiner Eltern peinlich, und niemals hat er ihre außerordentlichen Fähigkeiten und das von ihnen Erreichte wirklich anerkannt. Darüber hinaus tendierte er in der veröffentlichten Fassung der Autobiographie dazu, bei der Darstellung seiner Kindheit jene Passagen auszulassen, in denen er furchtsam oder verhätschelt erscheint. Seinen jüdischen Ursprung leugnete er zwar nicht, strich diesbezügliche Stellen aber zusammen. Die Überprüfung der Entwürfe und der Korrekturfahnen gibt uns einen flüchtigen Blick auf Aspekte seiner Kindheit, die lange verborgen geblieben sind. So stellte er öffentlich lediglich fest, dass sein Vater ein wohlhabender, tüchtiger Landwirt gewesen sei. Dies ist sehr untertrieben. David Bronstein, der mit Aneta verheiratet war, gehörte zu den tatkräftigsten Landwirten weit und breit in der Provinz Cherson. Durch harte Arbeit und Zielstrebigkeit hatte er sich auf der Leiter des wirtschaftlichen Erfolgs emporgearbeitet und war vollkommen zu Recht stolz darauf." [12]
Bevor wir auf Services Vorwurf eingehen, Trotzki habe den Reichtum seines Vaters heruntergespielt und versucht, seinen ethnischen und religiösen Hintergrund zu verbergen, wollen wir uns mit der zweifelhaften Voraussetzung befassen, auf der dieser Vorwurf beruht: dass man die Herausarbeitung der Endfassung eines Buches über verschiedene Entwurfstadien hinweg als ein Prozess des Vertuschens und Fälschens verstehen müsse. Service behauptet hier, was er erst beweisen müsste. Um seinen Vorwurf zu untermauern, hätte er nachweisen müssen, warum Trotzkis "Streichungen und Hinzufügungen" nicht das Ergebnis des richtig genutzten Ermessensspielraums eines großen Meister sind. Es gibt zahlreiche Gründe, die nichts mit absichtlichem Verbergen zu tun haben, warum Trotzki manche Passagen gestrichen und andere hinzugefügt haben könnte.
Service schafft es nicht, auch nur ein einziges Beispiel zu nennen, wo Trotzkis veröffentlichte Fassung des Berichts über seine Kindheit sich auf gravierende Weise von einem früheren Entwurf unterscheidet. Jedenfalls sind die Einwände von Service unbegründet. Dass Trotzki "der Reichtum seiner Eltern peinlich war", ist eine Behauptung, für die Service außer seiner eigenen Phantasie keinen Beleg zitieren kann. Trotzki berichtet über den wachsenden Wohlstand seines Vaters, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass David Bronstein erst zu größerem Reichtum kam, als Trotzki das Elternhaus bereits verlassen hatte. Die Familie Bronstein zog erst aus dem Lehmhaus aus, in dem Trotzki geboren worden war, und übersiedelte in ein Haus aus Ziegelsteinen, als der zukünftige Revolutionär fast siebzehn Jahre alt war. In Wirklichkeit schildert Trotzki in Mein Leben den rastlosen Kampf seines Vaters, in der Welt voran und zu Wohlstand zu kommen, in vielen Einzelheiten und voller Zuneigung. Seine eigene Lage als Kind beschreibt er so: "Als Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers gehörte ich eher zu den Privilegierten als zu den Unterdrückten." (7)
Max Eastman berichtet in seiner 1926 erschienenen biographischen Skizze über Trotzkis Jugend, dass "David Bronstein reich wurde, indem er arbeitete und Bauern einstellte, die mit ihm arbeiteten. Er hatte ungefähr tausend Hektar Land in der Umgebung des kleinen ukrainischen Dorfes Janowka, besaß die Mühle und war so der bedeutendste Mann des Ortes." Eastman kannte diese Tatsachen, weil Trotzki sie ihm erzählt hatte. Eastman schrieb: "Trotzki ist stolz auf seinen Vater, stolz auf die Tatsache, dass er bis zu seinem Tod arbeitete und verständig war. Er erzählte gern von ihm." (8)
Services eigene Beschreibung der Familie Bronstein - die er als "tapfere Juden" bezeichnet - stützt sich ausschließlich auf das, was in Mein Leben und in Eastmans Young Trotsky steht. Er hat keinerlei neue und selbstständige Forschung betrieben, die entweder etwas hinzufügen oder das widerlegen könnten, was Trotzki und Eastman berichtet haben. Nicht ein einziges Detail in Services Darstellung der frühen Kindheit lässt sich nicht auf diese beiden früheren Werke zurückverfolgen.
Das ist umso erstaunlicher im Licht seiner Behauptung, dass Trotzkis Autobiographie nicht zu trauen sei. In seiner Beschreibung stützt er sich nahezu vollständig auf die gedruckte Version von Mein Leben, nicht auf den früheren Entwurf. Im zweiten Kapitel seiner Biographie mit dem Titel "Erziehung" finden sich neun umfangreiche Auszüge aus Trotzkis autobiographischem Werk. Acht davon stammen aus der gedruckten Ausgabe von Mein Leben, nur einer aus dem früheren Entwurf. Nicht an einer einzigen Stelle kann Service eine bedeutende Diskrepanz zwischen dem gedruckten Werk und dem Entwurf nachweisen.
Das heißt allerdings nicht, dass Service nach seiner Erforschung des Entwurfs von Mein Leben mit völlig leeren Händen dasteht. Zum Beispiel hat er entdeckt, dass ein junger Schulkamerad, den Trotzki in der gedruckten Autobiographie Carlson nennt, in dem Entwurf als "Kreitser" identifiziert wird. Diese Entdeckung, die Service stolz in einer Fußnote bekannt gibt, muss als größerer Durchbruch auf dem Gebiet der Trotzki-Forschung anerkannt werden! Selbst wenn er sonst nichts erreicht hätte, hat er doch den Namen des jungen Kreitser in einer Fußnote wieder an seinen richtigen historischen Platz gerückt.
Trotskis Herkunft
Wenden wir uns nun der Behauptung von Service zu, Trotzki habe seine jüdische Abstammung herunterzuspielen versucht. Um es offen zu sagen, ist Services Konzentration auf diese Frage ziemlich unerfreulich und suspekt. Dass Trotzki Jude war, spielt in der Biographie von Service eine wichtige Rolle. Er verliert diese Tatsache nie aus den Augen und erinnert seine Leser ständig daran, als ob er besorgt wäre, sie könnte ihnen entfallen. Angesichts des Gewichts, das er auf Trotzkis ethnischen Hintergrund legt, hätte er sein Buch auch Trotzki: Die Biographie eines Juden nennen können.
Bevor wir dieses verstörende Element von Services Biographie detaillierter untersuchen, sollten wir zunächst auf die Unterstellung eingehen, Trotzki habe versucht, seine Abstammung zu verbergen oder die Aufmerksamkeit davon abzulenken. Diese Behauptung des Biographen ist ebenso falsch wie die, Trotzki habe versucht, den Reichtum seiner Eltern herunterzuspielen. Wie immer nimmt Service an, sein Publikum werde sich nicht die Mühe machen, Trotzkis Autobiographie zu lesen. Er legt in Mein Leben nicht die geringste Zurückhaltung an den Tag, seinen ethnischen und religiösen Hintergrund zu erörtern. Wie hätte er auch ein solches Thema vermeiden können? Die Umstände seiner Kindheit waren unauflöslich mit seiner jüdischen Herkunft verknüpft.
Er schrieb: "Religiosität existierte in der elterlichen Familie nicht. Anfangs wahrte man noch den Schein: an großen Feiertagen fuhren die Eltern in die Synagoge der Kolonie, an Sonnabenden nähte die Mutter nicht, mindestens nicht offen. Aber auch diese rituelle Religiosität nahm mit den Jahren ab, mit dem Heranwachsen der Kinder und des Wohlstandes der Familie. Der Vater glaubte schon seit seinen jungen Jahren nicht an Gott, und im späteren Alter sprach er darüber offen vor der Mutter und den Kindern. Die Mutter zog vor, diese Fragen zu umgehen, und schlug bei passenden Gelegenheiten die Augen zum Himmel empor." (9)
Was seine eigene Beziehung zu seiner jüdischen Herkunft betraf, erklärte Trotzki: "Das nationale Moment nahm in meinem Bewusstsein keinen selbständigen Platz ein, da ich es im Alltagsleben nur wenig zu spüren bekam. Nach den einschränkenden Gesetzen von 1881 konnte mein Vater zwar kein Land mehr hinzukaufen, was er so sehr erstrebt hatte, und musste es nun unter Verschleierung pachten. Aber mich berührte das wenig. Als Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers gehörte ich eher zu den Privilegierten als zu den Unterdrückten. Die Sprache der Familie und des Gutshofs war Russisch-Ukrainisch. In die Schulen wurden Juden zwar nur nach einer Prozentnorm aufgenommen, weshalb ich ein Jahr verlor." (10)
Über den Zusammenhang seines jüdischen Hintergrunds mit seiner intellektuellen Entwicklung machte sich Trotzki folgende Gedanken: "Wahrscheinlich hat die nationale Ungleichheit einen unterirdischen Anstoß zu meiner Unzufriedenheit mit dem bestehenden Regime gegeben; aber diese Ursache löste sich in den anderen Erscheinungen sozialer Ungerechtigkeit auf und spielte keine ausschlaggebende, überhaupt keine selbständige Rolle." (11)
Die Thora und der Rabbi
Mit dieser Erklärung, die zu zitieren er sich nicht einmal die Mühe macht, gibt sich Service natürlich nicht zufrieden. Er geht daran, Trotzkis Darstellung zu "korrigieren", indem er dessen Leben den Vorurteilen des Biographen anpasst. Das erweist sich aber als Missgeschick für die Glaubwürdigkeit von Mr. Service. In einer Schlüsselpassage, die vermeintlich Mein Leben widerlegt, schreibt Service, dass Trotzki gern "den Eindruck erweckte, er sei in jeder Hinsicht in die Aktivitäten des Schulalltags integriert gewesen. Das war aber nicht der Fall. In der Schule des hl. Paulus musste, wie in allen Schulen des Zarenreichs, Religion gelehrt werden. Leiba Bronstein (12) trat als Jude in diese Schule ein und konvertierte nicht zum Christentum. Er musste seinen religiösen Aufgaben unter Anleitung eines Rabbi nachkommen, der die jüdischen Schüler unterrichtete, und David Bronstein zahlte für dessen Dienste. Der betreffende Rabbi erklärte nie, ob es sich bei der Thora um gute Literatur oder eine heilige Schrift handelte - und Leiba zog später die Schlussfolgerung, dass er in Wirklichkeit eine Art Agnostiker war." [37]
Diese Darstellung führt Service auf Max Eastmans Buch The Young Trotsky zurück, das 1926 veröffentlicht wurde. Aber hat Service Eastmans Bericht wirklich wahrheitsgetreu wiedergegeben? Lasst uns einen Blick auf den Ursprungstext werfen. So erzählt Eastman diese Geschichte:
"Es war der Ehrgeiz seines Vaters - der so kulturelle Erbauung und konventionelle Frömmigkeit mit einander verband - einen privaten Lehrer zu beauftragen, mit seinem Sohn das hebräische Original zu lesen. Trotzki, damals erst elf Jahre alt, war gegenüber dem bärtigen alten Gelehrten, der diese Aufgabe übernahm, etwas verlegen. Und der alte und pflichtbewusste Gelehrte zögerte, seinem noch so jungen Schüler seine eigenen kritischen Ansichten zu offenbaren. Daher war zunächst nicht klar, ob sie die Bibel als Geschichte oder als Literatur lasen oder als Offenbarung von Gottes Wort." (13)
Zwischen den beiden Berichten gibt es einen bemerkenswerten Unterschied. Aus Eastmans Bibel wird bei Service die "Thora". Eastmans "bärtiger alter Gelehrter", der sich als Agnostiker zu erkennen gibt, wird von Service in einen "Rabbi" verwandelt. Es ist nicht unmöglich, dass es sich bei dem Text tatsächlich um die Thora handelt - obwohl dieses Wort im Allgemeinen mehr Texte umfasst als nur den Pentateuch. Da aber Service keine weiteren Informationen zu bieten hat als Eastman, warum ändert er dann das Wort? Noch weniger gerechtfertigt ist die Umwandlung des Gelehrten in einen Rabbi. Es handelt sich hier nicht um einen Übersetzungsfehler. Service bezieht sich auf einen Text in englischer Sprache.
Man könnte dies als ungenauen Ausfluss der Imagination des Autors vernachlässigen, wäre da nicht die Tatsache, dass Service immer wieder wie besessen auf Trotzkis religiösem Hintergrund herumreitet. Das ist widerlich, und weil es so oft wiederholt wird, abscheulich. Er bedient sich der Methode, eine antisemitische Haltung anzuprangern, um sie dann selbst zu bekräftigen. Dem Leser werden Absätze wie der folgende geboten:
"Russische Antisemiten hatten die Juden als Rasse ohne patriotische Gefühle für Russland gebrandmarkt. Als Trotzki Außenminister einer Regierung wurde, die mehr Interesse daran hatte, die Weltrevolution zu verbreiten, als die Interessen des Landes zu verteidigen, entsprach er dem verbreiteten Stereotyp des ‚Judenproblems’... So wie die Dinge standen, war er bereits der berühmteste Jude auf Erden. Der Leiter des amerikanischen Roten Kreuzes in Russland, Oberst Raymond Robins, drückte dies in treffender Schärfe aus. Im Gespräch mit Robert Bruce Lockhart, dem Chef der britischen Botschaft in Moskau, beschrieb er Trotzki als ‘mehrfachen Mistkerl, aber den größten Juden seit Christus’. Darüber hinaus war Trotzki der berühmteste Jude im Rat der Volkskommissare, in dem Juden überproportional vertreten waren. Dasselbe traf auf die innere Führung der bolschewistischen Partei zu. Wenn Lenin auf die Dienste der fähigen Juden hätte verzichten müssen, hätte er niemals ein Kabinett bilden können." [Hervorhebung hinzugefügt]
Robert Service und die Juden
Kurz nach dieser Passage folgt ein Kapitel mit der Überschrift "Trotzki und die Juden", das mit den Worten anfängt: "Trotzki hasste es, wenn man seinen jüdischen Hintergrund betonte." [198] Diese Reaktion hatte möglicherweise etwas mit den Leuten zu tun, die diesen Hintergrund gerne betonten. Dann folgen etliche Seiten mit belanglosen und lächerlichen Beobachtungen. Auf Seite 201 wird der Leser darüber informiert, dass "Trotzkis Ablehnung des Judentums keineswegs bedeutete, dass er den Umgang mit einzelnen Juden vermieden hätte". Es werden einige Juden erwähnt, mit denen Trotzki gut stand (alle waren leitende Persönlichkeiten der russischen und europäischen sozialistischen Bewegung), und Service bemerkt (auf der gleichen Seite), dass "Trotzki auch Gefährten hatte, die Kosmopoliten waren, ohne Juden zu sein". Zum Beispiel sprach Trotzki "viel mit August Bebel", dem Gründungsvater der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Der Biograph gibt zu, dass in "Trotzkis Lebensalltag im Erwachsenenalter keine Spur des Judentums" auszumachen war, obwohl es viele "säkularisierte Juden" gab, "die weiterhin die religiösen Lebensmittelvorschriften beachteten und die traditionellen Feste begingen".
Anschließend macht Service seine Leser, für den Fall, dass sie es nicht selber merken, darauf aufmerksam, dass Trotzkis vier Kinder - Nina, Zina, Leo und Sergej - "Namen ohne jeden Bezug zum Judentum" erhielten.
Auf Seite 202 folgen noch wichtigere Angaben: Trotzki " war von herausfordernder Klugheit, und freimütig in seinen Meinungen. Niemand konnte ihn einschüchtern. Trotzki hatte diese Eigenschaften in höherem Maße als die meisten anderen Juden, die sich von den Traditionen ihrer religiösen Gemeinschaft und den Zwängen der Reichsordnung emanzipiert hatten. Er war offenkundig eine außerordentlich begabte Person. Aber er war bei weitem nicht der einzige Jude, der es offensichtlich genoss, sich öffentlich selbst darzustellen. In späteren Jahren wurde das zu einem Vorbild, dem jüdische Jugendliche in der kommunistischen Weltbewegung nacheiferten, wenn sie, wie die Kommunisten aller Nationalitäten, sich laut zu Wort meldeten und scharf schrieben, ohne auf die Gefühle anderer Leute Rücksicht zu nehmen. Trotzki könnte man kaum als den sich selbst hassenden Juden diagnostizieren. Er war zu überzeugt von sich selbst und seinem Leben, als dass er sich seiner Ahnen geschämt hätte." [Hervorhebung hinzugefügt]
Nachdem er unterstellt hat, Trotzkis Laufbahn als Revolutionär sei ein Beispiel dafür, wie Juden die Gelegenheit ergreifen, "sich öffentlich selbst darzustellen", führt Service diese Idee im nächsten Absatz weiter aus:
"Trotzki war einer der Zehntausenden gut ausgebildeten Juden im russischen Reich, die sich in Situationen behaupten konnten, in denen ihre Eltern noch vor der adeligen Bürokratie hatten buckeln und kriechen müssen." Viele Juden, bemerkt Service umsichtig, hätten versucht, in anerkannten Berufen vorwärts zu kommen. Aber "die Alternative war, sich einer revolutionären Partei anzuschließen, in der Juden einen übergroßen Anteil ausmachten", Das ist eine altbekannte Theorie antisemitischen Ursprungs: Die Revolution als Rache aggressiver, ehrgeiziger Juden an einer von Christen dominierten Gesellschaft.
Service hat noch mehr zu diesem Thema zu sagen. Er erklärt: "Junge jüdische Männer und Frauen, die in den starren Regeln der Thora ausgebildet waren, fanden eine gleichartige säkulare Orthodoxie in den Feinheiten des Marxismus. Haarspalterische Dispute waren im Marxismus und im Judaismus (wie auch im Protestantismus) gleichermaßen üblich." Jetzt wird verständlich, warum Service das vorherige Zitat von Eastman umgeschrieben hat. Trotzki war, dem verdrehten Bericht von Service zufolge, auch in den "starren Regeln der Thora ausgebildet" worden. Auf diese Weise soll der Leser glauben gemacht werden, für den karrierebewussten Bronstein sei es nur ein kleiner Sprung vom Kapital zur Theorie der Permanenten Revolution und zu einer Eckwohnung im Kreml gewesen.
Auf S. 205 schreibt Service: "Die Parteiführung wurde von breiten Kreisen als jüdische Bande wahrgenommen." Für diese Feststellung gibt er keine Quellenangabe. Er fügt ein paar Sätze später hinzu: "Breite Kreise waren der Meinung, Juden dominierten in der bolschewistischen Partei." Wieder gibt er keine Quellenangabe. Diese Behauptungen werden nicht in Frage gestellt, geschweige denn widerlegt. Auf der nächsten Seite [206] gibt Service einen Absatz aus einem "anonymen Brief an die sowjetischen Behörden" wieder, der eine einzige, heftige antisemitische Verleumdung der "Vollblutjuden [ist], die sich russische Vornamen gegeben haben, um das russische Volk an der Nase herumzuführen".
In einer anderen bizarren Passage über die berühmten Verhandlungen Trotzkis mit den Vertretern Deutschlands und Österreich-Ungarns 1918 in Brest-Litowsk schreibt Service: "Als die Deutschen und Österreicher zum Verhandlungstisch schritten, erwarteten sie, mit Ehrerbietung behandelt zu werden. Sie verhielten sich, als sei ihr Sieg bereits gewiss. Sie teilten die Vorurteile ihrer Klasse. Für sie waren Sozialisten jeglicher Art kaum Menschen. Russische Kommunisten, in deren Führung sich so viele Juden befanden, waren kaum besser als Abschaum." [197]
Service gibt wieder keine Quelle für diese Einschätzung der Haltung der deutschen Delegierten an. In seiner Autobiographie schrieb Trotzki: "Die erste Sowjetdelegation mit Joffe an der Spitze war in Brest-Litowsk von allen Seiten hofiert worden. Der bayerische Prinz Leopold empfing sie als seine ‘Gäste’. Zu Mittag und zu Abend aßen alle Delegationen gemeinsam." Trotzki notiert amüsiert: "Der Stab des Generals Hoffmann gab für Gefangene eine Zeitung, die Russki Westnik (Russischer Bote), heraus, die in der ersten Zeit über die Bolschewiki nicht anders als mit rührender Sympathie sprach." (14)
Natürlich war diese anfängliche Freundlichkeit politisch motiviert und dauerte nicht lange. Der tödliche Ernst der Fragen, vor denen die gegnerischen Parteien in Brest-Litowsk standen, drückte sich unweigerlich in einer zunehmend spannungsgeladenen, feindlichen Atmosphäre aus. Dieser Prozess wird von Trotzki in Mein Leben großartig beschreiben. Seine Charakterisierungen der Hauptakteure Kühlmann, Hoffmann und Czernin sind lebensecht. Es sind politische Reaktionäre, Repräsentanten der aristokratischen Elite, aber keine Monster. Ihre Haltung gegenüber den Bolschewiki ist eine komplexe Mischung aus Neugier, Verwirrung, Angst, Hass und Respekt. In Trotzkis Bericht gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass er mit Leuten verhandelte, die die Bolschewiki, mit oder ohne Juden, als "Abschaum" ansahen. Diese Annahme kann man Service unterstellen, aber nicht den Führern der deutschen und österreichischen Delegationen in Brest-Litowsk.
Trotz der Besessenheit, mit der er Trotzkis Religion behandelt, ist Service ziemlich uninformiert, was das jüdische Leben in Odessa und im russischen Zarenreich betrifft. Das wichtige Buch von Steven J. Zipperstein von der Stanford University ist in der Bibliographie von Service nicht aufgeführt. Es findet sich nicht mehr als ein flüchtiger Hinweis auf die blutigen antisemitischen Pogrome, bei denen Tausende ihr Leben verloren. Service erwähnt nicht einmal den berüchtigten Fall von Mendel Beilis, dem jüdischen Arbeiter, der 1911 verhaftet wurde, weil er einen Ritualmord an einem russischen Jugendlichen begangen haben sollte - ein Fall der internationale Empörung gegen die Zarenherrschaft auslöste. Hätte er dies getan, so hätte er vielleicht Trotzkis wichtigen und einflussreichen Essay zu diesem Fall zur Kenntnis genommen.
Als Rezensent möchte ich auch meine Abscheu darüber bekunden, dass Service in die Illustrationen seiner Biographie ohne jeden ersichtlichen Grund die Nazi-Karrikatur "Leiba Trotzki-Braunstein" aufgenommen hat. Service bemerkt dazu: "In Wirklichkeit war seine Nase weder lang noch gebogen, und niemals ließ er es zu, dass sein Spitzbart zu lang wurde oder sein Haar schlecht gekämmt war." Sollte das als Witz gemeint sein? Wenn ja, dann ist es ein schlechter.
Was soll man also von der Besessenheit halten, mit der sich Service auf Trotzkis jüdischen Hintergrund fixiert? Die Benutzung des Antisemitismus als politische Waffe gegen Trotzki ist so allgemein bekannt, dass man unmöglich annehmen kann, Services unaufhörliches Herumreiten auf Trotzkis jüdischer Herkunft geschehe ohne böse Absicht. Was immer die persönliche Haltung von Mr. Service zu dem sein mag, was er als "jüdische Frage" bezeichnet, appelliert er offensichtlich an Antisemiten, für die Trotzkis jüdischer Hintergrund von großer Bedeutung ist. Es ist ziemlich sicher, dass die russische Übersetzung dieser Biographie Anhänger unter diesen reaktionären Kreisen finden wird. Der Verdacht drängt sich auf, dass Professor Service dies einkalkuliert hat.
Die Quellen von Service
Ein beträchtlicher Teil des Buchs von Service ist der Herabwürdigung von Trotzkis Persönlichkeit gewidmet. Er weitet seine Bemühungen, Trotzki als politischen Revolutionär zu diskreditieren, auf jeden Aspekt seines Privatlebens aus. Service scheint zu glauben, die Theorie der permanenten Revolution sei weniger überzeugend, wenn es gelinge, Trotzki als unangenehmen Menschen zu präsentieren. Auf diese Weise bleibt das Porträt Trotzkis bei Service immer eine primitive Karikatur. Er ist bei ihm immer eitel, unsensibel, herrschsüchtig und ichbezogen. Service versucht zu zeigen, dass diese angeblichen Charakterzüge Trotzkis bereits in jugendlichem Alter unangenehm auffielen. Sein einziger Zeuge ist dabei Gregori A. Ziv, der Trotzki Ende der 1890er Jahre in der ersten Zeit seiner revolutionären Tätigkeit kennen gelernt hatte. Viel später, im Jahre 1921, nach seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten, verfasste Ziv verbitterte Erinnerungen, in denen er äußerst feindselig über seinen früheren Freund und Genossen schrieb, der inzwischen zum weltberühmten Führer der Oktoberrevolution geworden war.
Niemand würde bestreiten, dass die Erinnerungen von Ziv ein Dokument sind, das ein ernsthafter Historiker zur Vorbereitung einer Trotzki-Biographie heranziehen wird. Immerhin kannte Ziv Trotzki an einem kritischen Wendepunkt im Leben des künftigen Revolutionärs. Aber ein Historiker hat die Pflicht, Dokumente und Quellen kritisch zu betrachten und sorgfältig zu überlegen, wieweit er den darin enthaltenen Informationen trauen kann. Bei Ziv ist ein kritisches Herangehen sicherlich höchst angebracht. Es gibt viele Gründe an der Objektivität und Verlässlichkeit seiner Einschätzung der Persönlichkeit Trotzkis zu zweifeln. Vor allem nahm Ziv, nachdem er in den Vereinigten Staaten angekommen war, eine äußerst feindliche Haltung zu Trotzkis Einschätzung des imperialistischen Krieges ein. Ziv unterstützte Russlands Teilnahme am "Krieg für die Demokratie". Diese Information enthält Service seinen Lesern vor. Aber Eastman, der Zivs Erinnerungen kannte, liefert die folgende Hintergrundinformation:
"Als Trotzki [im Januar 1917] während des Krieges nach New York kam - als Anti-Patriot, Kriegsgegner, Revolutionär - traf er Doktor Ziv, der, wie er wusste, dort eine kleine, den Krieg befürwortende Zeitschrift in russischer Sprache herausgab. Er begegnete ihm freundlich und lud ihn zu sich nach Hause ein, um sich der freundschaftlichen Gefühle vergangener Zeiten zu entsinnen. Sie sprachen lange miteinander und schwelgten in alten Erinnerungen. Aber da Trotzki wusste, dass Ziv ihn nichts lehren konnte und er Ziv nicht überzeugen konnte, sprach er keine politischen Fragen an. Das war eine für ihn bezeichnende höfliche, freundliche und durchdachte Entscheidung. Aber für die journalistische Eitelkeit des Doktors war es anscheinend ein untragbarer Affront, ein Ausdruck der selbstbezogenen intellektuellen Arroganz, die, wie der nun entdeckte, die Tätigkeit seines Freundes seit der Wiege gekennzeichnet hatte. Daher ist dieser kleine Band gekennzeichnet von kranker und absurder persönlicher Gehässigkeit." (15)
Ankläger sind gesetzlich verpflichtet, der Verteidigung entlastende Beweise zugänglich zu machen. Ein Biograph sollte diesem allgemeinen Prinzip folgen und seinen Lesern Informationen nicht vorenthalten, die die Glaubwürdigkeit von Zeugen in Frage stellen, deren Zeugnis er zitiert. Aber Service kümmern solche grundsätzlichen Überlegungen nicht. Er besteht zwar darauf, dass Trotzkis Memoiren höchst skeptisch geprüft werden müssen, zeigt aber nicht die geringste Neigung, etwas zu hinterfragen, was Ziv in seinen Erinnerungen geschrieben hat. So zitiert er Zivs Feststellung, dass "Trotzki seine Freunde liebte und ihnen ergeben war; aber seine Liebe war von derselben Art wie die eines armen Bauern zu seinem Pferd, das ihm dabei hilft, seine Identität als Bauer zu erhalten".[46] Service ist von dieser Bemerkung derart beeindruckt, dass er sie wiederholt: "Lëva sah auf seine revolutionären Genossen hinab wie der Bauer auf sein Pferd..." Welcher intelligente Leser könnte solchen Unsinn glauben?
Schopenhauer tritt auf
Eine andere Behauptung von Ziv, die Service aufgreift, betrifft den Einfluss einer Broschüre Artur Schopenhauers, des idealistischen deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts, auf den jungen Trotzki. Service zitiert nicht wörtlich aus dieser Passage, sondern gibt nur eine Zusammenfassung. Um diese Frage zu klären, die einiges Licht auf Services Methode wirft, hat sich der Autor dieser Zeilen Zivs Originaltext noch einmal vorgenommen.
Ziv widmet dieser Frage in seinen Memoiren kaum mehr als einen Absatz. Er bemerkt, dass Schopenhauers Broschüre "irgendwie in seine [Trotzkis] Hände geriet", und gibt dann eine kurze Zusammenfassung der Argumentation des Philosophen. Die Broschüre handle davon, "wie man seinen Gegner in einer Debatte niederringen kann, ob man nun Recht hat, oder Unrecht". Ziv zufolge "stellt die Broschüre nicht Regeln auf, die man in einer Debatte befolgen muss, sondern entlarvt - mehr oder weniger plumpe oder raffinierte - Tricks, zu denen Diskutanten greifen, um aus einer Debatte als Sieger hervorzugehen". Dann lässt Ziv etwas überraschend erkennen, dass er nicht genau wisse, welchen Eindruck die Broschüre auf seinen Freund gemacht habe. Er schreibt: " Man kann sich vorstellen, wie überglücklich Bronstein über diese kleine Broschüre war, deren Wert nicht durch ihren geringen Umfang geschmälert wurde." Sicher, man kann sich verschiedene Dinge vorstellen, aber das ist kein Nachweis ihrer Wahrheit. Zivs Formulierung lässt vermuten, dass ihm keine direkten Informationen darüber vorlagen, ob das Werk Trotzki sonderlich beeindruckte. Er schreibt z.B. nicht: "Bronstein sagte mir, er sei überglücklich über diese Broschüre...". Hätte Ziv als Zeuge der Anklage unter Eid in einem Prozess aussagen müssen, hätte ihn der Verteidiger zu diesem Punkt sorgfältig befragt. Nach Zivs Eingeständnis, er wisse nicht genau, wie Trotzki in den Besitz der Broschüre gelangt sei, hätte er wahrscheinlich gefragt: "Mr. Ziv, wissen sie eigentlich positiv, dass Trotzki Die Kunst der Kontroverse tatsächlich gelesen hat? Haben Sie ihn das Buch tatsächlich lesen gesehen?" Auf der Grundlage dessen, was Ziv geschrieben hat, können wir nicht wirklich wissen, ob Trotzki Die Kunst der Kontroverse tatsächlich gelesen hat. Für die Beurteilung der vorliegenden Biographie ist die Antwort auf diese Frage allerdings weniger wichtig als die Tatsache, dass Service Zivs Behauptung nicht kritisch hinterfragt hat.
Service geht sogar noch weiter als Ziv. Er schreibt: "Lëva bereitete sich wie auf einen militärischen Kampf vor. Er studierte Schopenhauers Die Kunst der Kontroverse gründlich mit dem Ziel, seine Debattierkünste zu verbessern." [45] Wie wir gezeigt haben, kann Service diese Behauptung nicht belegen.
Warum ist das wichtig? Service impliziert, Schopenhauers Argumente lieferten einen Schlüssel zum Verständnis von Trotzkis polemischem Stil und seiner angeblich aggressiven und dominanten Persönlichkeit. Weit von Zivs Text abweichend, bietet er seine eigene gefärbte Interpretation Schopenhauers. Er stellt den Philosophen als Befürworter skrupelloser rhetorischer Manöver und Tricks hin. "Sieg, vernichtender Sieg", doziert Service, "war das einzig erstrebenswerte Ziel." Der Philosoph habe erklärt, "dass die Ideen ‚einfacher Menschen’ nichts gälten". [45]
Schließlich schreibt Service: "Schopenhauer gehörte nicht zum regulären Arsenal des russischen revolutionären Denkens, und Lëva Bronstein legte nicht offen Rechenschaft über dessen Einfluss auf seine Argumentationstechnik ab. Aber wahrscheinlich fand er vieles in Die Kunst der Kontroverse, das er für seine Politik und seine Persönlichkeit nutzbar machen konnte." [45, Hervorhebung hinzugefügt]
Was also bleibt am Ende übrig? Service’s Behauptung, Trotzki habe in Schopenhauer eine philosophische Rechtfertigung für seine angebliche Verachtung der Menschheit und seine giftigen Polemiken gefunden, stützt sich auf Unterstellungen, Annahmen und Schüsse ins Blaue, die durch keinerlei Fakten untermauert sind.
Nehmen wir für einen Moment an, Trotzki habe Schopenhauers Die Kunst der Kontroverse nicht nur gelesen, sondern sogar gründlich studiert, dann sagt uns das noch nicht, ob er damit übereinstimmte oder nicht übereinstimmte, was er akzeptierte und was er verwarf. Trotzki las als Jugendlicher Vieles, so auch John Stuart Mill, wie er uns in Mein Leben wissen lässt. Aber niemand würde Trotzki deswegen unterstellen, ein Bewunderer des britischen Empirismus und Liberalismus zu sein. Schließlich scheint Service anzunehmen, Trotzkis angebliche Lektüre von Die Kunst der Kontroverse habe nur schädliche Wirkungen haben können. Der Autor dieser Zeilen ist eher der Meinung, dass Trotzki, falls er Die Kunst der Kontroverse tatsächlich gelesen hat, darin vielleicht Material gefunden hat, das ihm später bei der Entlarvung der Verleumdungen, Verzerrungen, Halbwahrheiten und Lügen seiner zahlreichen skrupellosen Feinde nützlich war. Man kann annehmen, dass der Stalinismus Trotzki viel mehr zum Thema unlauterer Polemik gelehrt hat als Schopenhauer.
Trotzki und Sokolowskaja
Die unerbittlichen Bemühungen, Trotzki zu verleumden, schlagen fehl und tauchen Service selbst in ein wenig schmeichelhaftes Licht. Er ist offenbar organisch unfähig, auch nur das geringste Mitgefühl für die vielen emotionalen Verletzungen und Traumata zu empfinden, welche die von ihm beschriebene Person im Laufe eines Lebens erlitten hat, das der revolutionären Sache gewidmet oder - um mit den Worten seiner ersten Frau und Geliebten, Alexandra Sokolowskaja, zu sprechen - geweiht war. Selbst wenn er das Los des in Einzelhaft eingekerkerten, neunzehnjährigen Lew Davidowitsch beschreibt, ist Services Haltung verächtlich und spöttisch. Er zitiert zum Beispiel aus einem bewegenden Brief, den Trotzki im November 1898 an Sokolowskaja schrieb. Der junge Mann ist von Einsamkeit verzehrt und leidet unter Schlaflosigkeit. Er bekennt, an Selbstmord gedacht zu haben, aber versichert Alexandra dann, dass er "sehr am Leben hängt". Und was ist die Reaktion von Robert Service? Er schreibt: "Diese Stimmungen verraten Theatralik und Unreife. Er war ein ichbezogener junger Mann." [52]
Schließlich heiraten Trotzki und Sokolowskaja und werden nach Sibirien ins Exil geschickt. Sie haben zwei Kinder. Trotzkis Ruf als brillanter junger Schriftsteller zieht die Aufmerksamkeit der wichtigsten Führer des russischen Sozialismus auf ihn. Der Wunsch, den Wirkungskreis seiner Aktivität in der revolutionären Bewegung zu erweitern, lässt in ihm die Entschlossenheit wachsen, aus dem sibirischen Exil zu fliehen. In seiner Autobiographie schreibt Trotzki, Sokolowskaja habe ihn in seiner Absicht bestärkt.
Aber Service widerspricht Trotzkis Darstellung, ohne dafür irgendwelche Indizien anzuführen: "Es fällt schwer, das einfach so zu glauben. Bronstein plante, sie in der Wildnis Sibiriens allein zu lassen. Sie hatte niemand, der für sie sorgen konnte, und sie hatte zwei Kleinkinder zu versorgen. Der Winter stand bevor." Service’s Schimpftirade gipfelt in einer vulgären Bemerkung: "Kaum hatte er zwei Kinder gezeugt, machte er sich aus dem Staub. Wenige Revolutionäre haben so einen Schlamassel hinterlassen." [67] Sich selbst widersprechend gibt Service zu, dass Trotzki "sich im Rahmen des revolutionären Verhaltenskodex’ bewegt" habe. [67] Aber dann erklärt er: "Selbst wenn Alexandra ihre Zustimmung gab, zeigte Lew wenig Verständnis für das Opfer, das er ihr abverlangte. ’Das Leben’, sagte er, als spreche er von einer unabänderlichen Tatsache, ‚hatte uns auseinander gebracht’. In Wirklichkeit hatte er entschieden, seinen ehelichen und elterlichen Pflichten zu entfliehen." [67]
Einmal abgesehen von dem verleumderischen Charakter dieser Behauptung, der allem widerspricht, was man über die Realität des revolutionären Kampfes weiß, ist kaum ein anachronistischeres Herangehen an die Geschichtsschreibung vorstellbar. Service nimmt sich heraus, das Verhalten von Revolutionären im Russland des späten 19. Jahrhunderts zu beurteilen, die auf Leben und Tod im Kampf mit der zaristischen Autokratie lagen, und er misst es an der Latte eines wohlhabenden, konservativen und selbstzufriedenen Philisters aus der oberen Mittelschicht des heutigen Englands.
Es sei erwähnt, dass Service Trotzkis Satz nicht zu Ende zitiert. "Das Leben hatte uns auseinander gebracht", schrieb Trotzki, "aber es hat unsere geistige Verbindung und unsere Freundschaft unerschüttert bewahrt." (16)
Der dauerhafte Charakter dieser tiefen Freundschaft und wechselseitigen Solidarität zwischen Trotzki und Sokolowskaja wurde von letzterer in Gesprächen mit Max Eastman in den 1920er Jahren bestätigt. Alexandra hat diese Freundschaft nie verraten, wofür sie letztlich mit ihrem Leben bezahlte. Stalin ermordete sie 1938. Service hat zu ihrem tragischen Schicksal folgenden kalten und verächtlichen Kommentar: "Ihre Probleme begannen mit der kurzen Ehe, die eingegangen wurde, damit sie und Trotzki in Sibirien nicht getrennt wurden - und in Sibirien hauchte sie ihr Leben aus." [431]
Das tragische Schicksal von Trotzkis Tochter Zina, die im Januar 1933 in Berlin Selbstmord beging, behandelt Service erbarmungslos und bösartig. Er schreibt: "Trotzki versuchte, mit der Tragödie fertig zu werden, indem er Stalin und dessen Behandlung seiner Tochter für alles verantwortlich machte."
Er fährt fort: "Diese Beschuldigung, die Trotzki häufig wiederholte, verfehlte ihr Ziel. Zina konnte sich so lange in Sochumi aufhalten, wie sie wollte; Trotzki selbst hatte sie ins Ausland gerufen, nicht Stalin hatte sie deportiert - und sie hatte bei Trotzki leben wollen. Trotzkis Versuch, ihren Tod zu politisch auszunutzen, war nicht sein stärkster Moment." [386]
Service zitiert lieber nicht aus dem Brief, den Trotzki am 11. Januar an das Zentralkomitee der KPdSU schrieb, weniger als eine Woche nach dem Selbstmord seiner Tochter. Er teilt seinen Lesern auch nicht mit, dass Zina nicht nach Russland zurückkehren konnte, wo ihr Mann, ihre Tochter und ihre Mutter noch lebten, weil das stalinistische Regime ihr die Staatsbürgerschaft aberkannt hatte. Trotzki schrieb: "Dass man ihr die Sowjetbürgerrechte absprach, war ein purer, sinnloser Racheakt gegen mich." (17)
Weil Service Trotzki, wo immer möglich, verleumden will, spricht er das stalinistische Regime von jeder Verantwortung für den Tod seiner Tochter frei. Und das trotz der Tatsache, dass Stalin, wie Service genau weiß, nur wenige Jahre später Trotzkis erste Frau, seine Söhne, seine Brüder, seine Schwester und sogar seine Schwiegereltern ermordete.
Eine schändliche Episode
Obwohl diese Besprechung nicht ganz kurz geraten ist, bleibt vieles ungesagt. Eine umfassende Richtigstellung aller Verdrehungen und Falschdarstellungen von Service würde leicht ein ganzes Buch füllen. Der Autor dieser Zeilen behält sich die Entlarvung von Services politischen Fälschungen und seiner ständigen Verteidigung Stalins gegen Trotzki für eine andere Gelegenheit vor. In dieser Hinsicht wird eine weitere wichtige Frage zu klären sein: die Bedeutung des Zusammentreffens von neostalinistischen Fälschungen und traditionellem angloamerikanischem Antikommunismus in den Trotzki-Biographien von Thatcher, Swain und Service. Es ist auffallend, wie sehr der aktuelle Feldzug gegen Trotzki auf die Lügen und Fälschungen der Stalinisten zurückgreift.
Ein letzter Punkt verdient Aufmerksamkeit: Das ist die Veröffentlichung dieser Biographie durch Harvard University Press. Man muss sich wirklich fragen, weshalb der Verlag seinen Namen für ein solch beklagenswertes und beschämendes Werk hergegeben hat. Es ist kaum vorstellbar, dass Services Manuskript auch nur ansatzweise einer kritischen Überprüfung unterzogen wurde. Es müsste doch an der historischen Fakultät von Harvard auch heute noch Professoren geben, die ernsthafte historische Arbeit von Schund unterscheiden können.
Früher war Harvard einmal zu Recht stolz auf seine Rolle als Archivar des nicht-öffentlichen Teils von Trotzkis Nachlass, den sie auf Wunsch von Trotzki und Natalia Sedowa fast vierzig Jahre lang verschlossen hielt. Die Houghton Library betrachtete diese Papiere als wichtigen Teil ihrer historischen Sammlung. 1958 veröffentlichte Harvard aus eigenem Antrieb Trotzkis Tagebücher im Exil von 1935. Im Vorwort des Herausgebers heißt es respektvoll, Trotzki sei "heute für Viele ein Held unserer Zeit". Ein halbes Jahrhundert später gibt der Verlag seinen Namen für ein verleumderisches und schlampiges Werk her. Versucht Harvard etwa, in der heutigen Zeit politischer Reaktion und intellektuellen Verfalls, Buße für seine früheren Prinzipien und wissenschaftliche Integrität zu tun? Aus welchem Grund auch immer, Harvard University Press hat sich mit Schande bedeckt. Man hofft, dass der Verlag irgendwann in der Zukunft, wenn Moral und Mut wieder etwas gelten, mit großem Bedauern auf diese Episode zurückschauen wird.
Anmerkungen
1) "Science and Style", in In Defense of Marxism (London: New Park, 1971), p. 233.
2) Russian Review, Band 14, No. 2 (April 1955), S 151-152.
3) Siehe Defend The Realm : The Authorized History of MI5, von Christopher Andrew (New York: Alfred A. Knopf, 2009), and Spycatcher by Peter Wright (New York: Penguin, 1987).
4) Siehe D.North, Leo Trotzki und die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung - Eine Kritik der beiden Trotzki-Biographien von Geoffrey Swain und Ian Thatcher http://www.wsws.org/de/2007/jun2007/nor1-j05.shtml
5) Es sei angemerkt, dass Service sich eng an die Linie von Geoffrey Swain hält, der sich beschwerte, Trotzki werde "als ein größerer Denker angesehen, als er in Wirklichkeit war. Trotzki schrieb ungeheuer viel, und als Journalist schrieb er gerne über Gegenstände, über die er wenig wusste." [3] Service ging in seiner Stalinbiographie von 2004 mit dem sowjetischen Diktator und Massenmörder sehr viel respektvoller um. "Stalin war ein bedächtiger Mann", schrieb Service, "und sein gesamtes Leben hindurch versuchte er, sich das Universum so zurechtzulegen, wie es sah. Er hatte eine Menge studiert und wenig vergessen... Er war weder ein origineller Denker noch ein hervorragender Schriftsteller, aber er war bis an das Ende seiner Tage ein Intellektueller." Siehe : Fred Williams’ review of Service’s Stalin: A Biography in der World Socialist Web Site http://www.wsws.org/articles/2005/jun2005/stal-j02.shtml
6) Im Gegensatz zu den Befürwortern des "Proletkults" Anfang der 1920er Jahre vertrat Trotzki den Standpunkt, dass das Proletariat als unterdrückte Klasse keine eigene Kultur hervorbringen könne. Die Kultur der Zukunft, die auf der Grundlage einer weit höheren Entwicklung der Produktivkräfte entstehen würde, wenn keine Notwendigkeit für eine Klassendiktatur mehr bestünde, "wird schon keinen Klassencharakter mehr tragen. Hieraus muss man die allgemeine Schlussfolgerung ziehen, dass es eine proletarische Kultur nicht nur nicht gibt, sondern auch nicht geben wird, und es besteht wahrhaftig keinerlei Veranlassung dazu, dies zu bedauern. Das Proletariat hat ja gerade dazu die Macht ergriffen, um ein für allemal der Klassenkultur ein Ende zu setzen und der Menschheitskultur den Weg zu bahnen. Das scheinen wir nicht selten zu vergessen." (Trotzki, L. Literatur und Revolution, Essen, 1994, S. 188)
7) Leo Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/Main, 1974, S. 86
8) Max Eastman, The Young Trotsky, (London: New Park, 1980), S. 3
9) Leo Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/Main, 1974, S. 84
10) ebd.. S. 86
11) ebd.. S. 86
12) Leiba war der Name, den Trotzki bei der Geburt erhielt, und Service benutzt ihn, wenn er in den ersten Kapiteln von ihm spricht.
13) Max Eastman, The Young Trotsky , (London: New Park, 1980), S. 12-13:
14) Leo Trotzki: Mein Leben, Frankfurt/Main, 1974, S. 314
15) Eastman The Young Trotsky, (London: New Park, 1980), S. 21.
16) Trotzki: Mein Leben, Frankfurt/Main, 1974, S. 123
17) Der Brief Trotzkis wurde veröffentlicht in Die Weltbühne, Jg. 29,1933, S. 150f