Reform und Revolution im Zeitalter des Imperialismus

Das Paradox des 20. Jahrhunderts

Der theoretische und politische Ausgangspunkt unserer Vortragsreihe besteht in der Grundthese, daß man den großen gesellschaftlichen und politischen Problemen, die sich der Arbeiterklasse bei Anbruch des 21. Jahrhunderts stellen, nur dann gerecht werden kann, wenn man die historischen Erfahrungen der Arbeiterklasse während des gesamten 20. Jahrhunderts studiert und die Lehren daraus zieht.

Das 20. Jahrhundert bietet ein paradoxes Bild: keine andere Periode der Menschheitsgeschichte hat bislang eine so durchgreifende Umwälzung des Alltagslebens, seiner Formen und Rhythmen erlebt. Ausmaße und Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts, das sich immer noch zu beschleunigen scheint, verlangen uns ständig neue Konzeptionen des Universums und der Stellung unseres Planeten darin ab. Gerade versuchen wir die überwältigenden Bilder des Gefährts zu verarbeiten, das unsere Technologie auf den Mars gebracht hat. Die wissenschaftlichen Entdeckungen zwingen die Menschheit, ihre Vorstellungen von Zeit, Raum und Existenz unaufhörlich zu revidieren und umfassender zu gestalten. Und doch vollzogen sich diese wissenschaftlichen Fortschritte vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Katastrophen und Erschütterungen dieses Jahrhunderts. Immer wieder wurde die Weltkarte neu gezeichnet; unzählige Tragödien beraubten Hunderte Millionen Menschen ihrer Heimat und verstreuten sie rund um die Welt.

Ungeachtet der Umwälzungen in den Lebensverhältnissen ist auf dem Gebiet des politischen Denkens kein Fortschritt zu verzeichnen, der jenem in Naturwissenschaft und Technik vergleichbar wäre. Das Wissen des Menschen um das Universum ist seit der letzten Jahrhundertwende exponentiell gewachsen; sein Wissen um die Gesetze der eigenen sozialökonomischen Existenz jedoch ist weit hinter das Niveau zurückgefallen, das einst die Gründer des modernen Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels erreicht hatten.

Wenn wir uns die heutige bürgerliche Politik ansehen, so finden wir keine einzige Persönlichkeit, die als bedeutender Denker oder Stratege gelten dürfte. Doch verfügt die Bourgeoisie zumindest über den Vorteil enormer wirtschaftlicher Macht und immensen Reichtums. Vorläufig – wenigstens bis zu den jüngsten wirtschaftlichen Turbulenzen in Südostasien – lassen die steigenden Aktienkurse und die Rekordprofite eine breit angelegte strategische Vision nicht allzu dringlich erscheinen. Das Fehlen einer wahrnehmbaren politischen Herausforderung an die Herrschaft der Kapitalistenklasse erlaubt dieser darüber hinaus, sich ganz auf die Anhäufung von Reichtümern zu konzentrieren und die komplexere Frage ihrer Verteidigung gegen eine drohende soziale Revolution zurückzustellen.

Die Krise der Arbeiterbewegung

Um die bürgerliche Politik mag es schlecht bestellt sein, aber das, was gemeinhin beschönigend als »Arbeiterbewegung« bezeichnet wird, bietet ein weitaus schlimmeres Bild. Ihre offiziellen Organisationen sind todgeweihte Gebilde. Sie werden von Bürokraten geführt, die den Interessen der Arbeiter, die sie angeblich vertreten, gleichgültig oder sogar ablehnend gegenüberstehen. Der letzte Grund für die Krise der Arbeiterbewegung liegt jedoch nicht in der Unaufrichtigkeit, Korruption, Ignoranz und Unfähigkeit der Arbeiterbürokratie. Vielmehr liegen die Ursachen für diese wenig erfreulichen Eigenschaften in gesellschaftlichen Prozessen, die über eine ganze historische Periode hinweg den untertänigen und antisozialistischen Charakter der Arbeiterbewegung geprägt haben. Mehr als ein halbes Jahrhundert opportunistischer Politik – basierend auf der systematischen Unterordnung der Arbeiterklasse unter die imperialistische Nachkriegsordnung – haben dem gesellschaftlichen, politischen, geistigen und moralischen Zustand der Arbeiterbewegung ihren Stempel aufgedrückt.

Mehrere Jahrzehnte lang – während der Blütezeit des Nachkriegsbooms und der darauf basierenden Sozialstaaten – waren die langfristigen Folgen des theoretischen Niedergangs und der politischen Korruption der Arbeiterbewegung nicht sichtbar. Solange die Beziehungen zwischen den Klassen zumindest in den wichtigsten kapitalistischen Ländern auf Kompromissen im Rahmen des Sozialstaates beruhten, gab es keinen Raum für große Klassenkriegs-Strategen. Die geschichtliche Periode verlangte nur nach Zwergen, und die fanden sich in allen imperialistischen Ländern wie Sand am Meer.

Erst seit die auf Kompromiß und Ausgleich abgestellten Beziehungen zerstört werden – d.h., seit die internationale Bourgeoisie nicht länger willens oder fähig ist, sich an die alten vertrauten Spielregeln zu halten – ist offenbar geworden, wie stark die Arbeiterbewegung der Nachkriegszeit von innen heraus verfault ist.

Man könnte es beinahe für eine Binsenwahrheit halten, daß die Krise, der sich die Arbeiterklasse gegenübersieht, endgültig das Scheitern des Reformismus bezeugt. Diese Einsicht wurde jedoch dadurch erschwert, daß der Niedergang des sozialdemokratischen Reformismus von dem spektakulären Zusammenbruch der stalinistischen Regime in der Sowjetunion und in Osteuropa überschattet wurde. Die Massen neigen von sich aus nicht dazu, die Wurzeln der politischen Phänomene zu erforschen. Gemäß den Etiketten, die diesen Regimen sowohl von ihren Vertretern als auch von deren kapitalistischen Gegnern angeheftet worden waren, hielt die Masse der Arbeiter sie für »kommunistisch« oder »sozialistisch«.

Zwischen 1989 und 1991 stellten die Propagandisten der Bourgeoisie (sowie eines nicht geringen Teils der Stalinisten) den Sturz der stalinistischen Regime als Scheitern des Marxismus und des Sozialismus dar. In dem Maße, wie die Arbeiterklasse diese Erklärung übernommen hat, sieht sie keine Alternative zum kapitalistischen Markt und dessen Anforderungen.

Zurück zu Bernstein

Natürlich kann man den Widerspruch zwischen den Anforderungen des kapitalistischen Marktes und den Bedürfnissen der Arbeiterklasse unmöglich einfach ableugnen oder ignorieren. Das Unbehagen der Massen schlägt sich bereits in bestimmten Schichten der akademischen Mittelklassen nieder, die ihrerseits besorgt die Anzeichen der zunehmenden sozialen Polarisierung registrieren.

In jüngster Zeit sind eine Reihe Bücher erschienen, die das ungezügelte Wirken des kapitalistischen Marktes kritisieren. Man macht auf die Folgen der Globalisierung für die Lage der Arbeiterklasse aufmerksam. Man warnt vor der immer stärkeren Polarisierung der Gesellschaft.

In diesem Klima wachsender Sorge ist bezeichnenderweise das Interesse an einer der wichtigsten Persönlichkeiten aus der Frühgeschichte der europäischen Sozialdemokratie wieder erwacht: an Eduard Bernstein, dem »Urvater« des antimarxistischen Revisionismus. Innerhalb des letzten Jahrzehnts hat Cambridge University Press nicht nur eine neue Ausgabe seines Hauptwerks »Die Voraussetzungen des Sozialismus« veröffentlicht, sondern auch eine Anthologie mit Dokumenten zu der theoretischen Auseinandersetzung um Bernsteins Ansichten und 1997 eine neue Biographie des amerikanischen Historikers Manfred Steger unter dem Titel »Das Streben nach dem evolutionären Sozialismus: Eduard Bernstein und die Sozialdemokratie«. Bei Humanities Press – einem Verlag, der mit den politischen Einstellungen von Teilen der kleinbürgerlichen Linken identifiziert wird – erschien zudem kürzlich ein Begleitband mit ausgewählten Schriften Bernsteins, übersetzt und herausgegeben von Steger.

Die Bedeutung der Biographie Stegers liegt nicht in ihrem – recht bescheidenen – wissenschaftlichen Niveau, sondern in der politischen Vision, die dahinter steht. Bernsteins Angriff auf den Marxismus, sein Versuch, den Sozialismus von der Revolution der Arbeiterklasse abzutrennen und ihn als bloßen wohlmeinenden, ethnisch motivierten Liberalismus neu zu definieren – dies gilt Steger als Leitstern für unsere Tage. Bernsteins Bedeutung sieht Steger vor allem darin, daß er die Unmöglichkeit einer revolutionären Alternative zum Kapitalismus erkannt habe.

»Als erster prominenter marxistischer Theoretiker der Reform nahm Bernstein an, daß die großen Revolutionen der Vergangenheit aufgrund der zunehmenden Komplexität der modernen Gesellschaft überholt seien...

Nach dem angeblichen ›Ende des Sozialismus‹ bildet Bernsteins Ansatz zu einem Modell des ›liberalen Sozialismus‹ den logischen Ausgangspunkt für das einzige taugliche progressive Vorhaben, das in unserer postsowjetischen und (vielleicht) post-keynesianischen Ära noch bleibt: eine neue Konzentration auf die Rolle der Zivilgesellschaft und ein Demokratieverständnis, das für die Ausweitung persönlicher Rechte gegenüber Eigentumsrechten steht.«1

Steger erhebt Bernstein zwar zum Helden unserer Tage, schreibt aber gleichzeitig mit einer Mischung aus Vorsicht und Zynismus, er wolle »Bernsteins politisches Denken nicht ausschließlich an philosophischen Maßstäben messen. Was seine geistige Suche heute zu einem lohnenden Gegenstand akademischer Forschung macht, ist weder seine philosophische Verfeinerung noch seine fehlende methodologische Reinheit. Nein, es ist Bernsteins höchst originäres Bemühen um eine durchdachte Synthese der beiden großen Traditionen, die für individuelle Selbstverwirklichung und Gerechtigkeit in der Verteilung stehen.«2

Bernstein, muß man wissen, nahm für sich in Anspruch, den revolutionären Ideen des Marxismus einen vernichtenden theoretischen Schlag versetzt zu haben. Wenn Steger einräumt, daß er keine »philosophischen Maßstäbe« an Bernsteins Schriften anlegen möchte, dann gibt er damit stillschweigend zu, daß eine direkte Gegenüberstellung von Bernstein und Marx auf dem Gebiet der Wissenschaft und Theorie recht unpassend anmuten würde.

Doch die offenkundigen theoretischen Mängel hindern Steger nicht daran, uns Bernstein als Propheten zu empfehlen. Heute wie vor einhundert Jahren erklärt sich Bernsteins Anziehungskraft nicht aus einer überwältigenden Stärke seiner Argumente, sondern aus den Sehnsüchten bestimmter Teile der Mittelklasse, die in seinem Programm, ungeachtet der theoretischer Schwächen, einen Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Interessen und eine Antwort auf ihre politischen Stimmungen finden. Ein früherer und klügerer Biograph, Peter Gay, schrieb schon vor etwa 45 Jahren: »Wenn es keinen Bernstein gegeben hätte, dann hätte man ihn notwendigerweise erfinden müssen. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse erforderten in Deutschland um die Jahrhundertwende eine reformistische Lehre.«3

Natürlich ist eine Wiederbelebung des Bernsteinianertums, zumindest in seiner ursprünglichen Form, heute schwerlich denkbar. Bernstein war, obwohl dies zu seiner Zeit nicht offenkundig erschien, von Anfang an »überholt«. Das neu erwachte Interesse an seinem Leben und die Auseinandersetzungen um sein Werk sind jedoch symptomatisch für einen sehr bedeutsamen Sachverhalt: Selbst gegen Ende des 20. Jahrhunderts, nach einhundert Jahren, sind die politischen Fragen, die zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgefochten wurden, immer noch von außerordentlicher Brisanz.

Mark Twain, glaube ich, hat einmal gesagt, daß sich die Geschichte zwar nicht wiederholt, aber doch zu reimen scheint. Und tatsächlich, ungeachtet offenkundiger großer Unterschiede fällt doch ins Auge, wie stark die politischen Umstände und das geistige Klima, in denen das Bernsteinianertum entstand, sich mit den heutigen Bedingungen »reimen«. Man kann sich heute nur schwer vergegenwärtigen, welch großen Widerhall Bernstein in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bei Intellektuellen aus der Mittelklasse fand, als er das »Ende des Marxismus« verkündete. Inmitten des beispiellosen kapitalistischen Wohlstands und der großen Ausdehnung seiner weltweiten Ressourcen und seines Einflusses erschien die marxistische Auffassung, daß das kapitalistische System an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen müsse, vielen durchaus klugen Menschen im völligen Gegensatz zur augenfälligen Realität zu stehen.

Es besteht allerdings ein deutlicher Unterschied zwischen 1898 und 1997: in der Periode, in der Bernstein seine Kritik am Marxismus vorlegte, verbesserte sich die Lage der Arbeiterklasse sichtlich. Der Reformismus erschien vielleicht schwach, wenn er sich theoretisch zu rechtfertigen suchte, zeigte sich aber auf praktischem Gebiet recht kräftig. Dies muß man berücksichtigen, wenn man die Anziehungskraft der Botschaft Bernsteins bewertet.

Die Zuversicht, daß der Kapitalismus allmählich in fortschrittlicher Richtung reformiert werden könne, bildete das wesentliche psychologische Element des Bernsteinianertums zum Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist bezeichnend, daß die heutigen Befürworter einer Rückkehr zu Bernstein keinen solchen Optimismus an den Tag legen. Das Milieu der heutigen kleinbürgerlichen Linken ist vielmehr von morbidem Pessimismus geprägt. Dort findet man nicht das geringste Vertrauen darauf, daß die Arbeiterklasse die Gesellschaft ändern kann. Ihr »Reformismus« ist kaum mehr als ein verschwommener, feiger Appell an die Finanzeliten, die letzten Reste des Sozialstaates zu verschonen. Bernstein hingegen hegte bei all seinen Schwächen doch die aufrichtige Illusion, daß sich der Kapitalismus unter dem Druck und dem Einfluß der Sozialisten auf friedlichem Wege zu einer gerechten und humanen Gesellschaft wandeln würde.

Ein wesentliches begriffliches Element verbindet die Perspektive der heutigen demoralisierten Reformisten mit jener, die Bernstein in den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts vertrat: eine hochmütige Verachtung für die materialistische Dialektik, die methodologische Grundlage des Marxismus. Die Unfähigkeit, dialektisch zu denken und alle Erscheinungen dialektisch – d.h. als Einheit entgegengesetzter Bestimmungen – zu analysieren, erlaubte den Reformisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts nicht, die inneren Widersprüche zu erkennen, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 ihr ganzes Weltbild mitsamt der dazugehörigen Betulichkeit in Trümmer legten. Die kommenden Ereignisse werden über die Perspektiven und allgemeinen politischen Auffassungen der heutigen reformistischen Metaphysiker kein weniger dramatisches Urteil fällen.

Die revolutionären Wurzeln der Sozialdemokratie

Die Bedeutung von Bernsteins Revisionismus kann man nur im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung des Marxismus, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der Zweiten Internationale und des kapitalistischen Wachstums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstehen. Es folgt daher ein sehr gedrängter Überblick über die Geschichte dieser ineinander verflochtenen theoretischen, politischen und ökonomischen Prozesse.

Die ersten Ansätze der deutschen Arbeiterklasse zur Herausbildung einer unabhängigen politischen Partei findet man im Ausgang der Revolution von 1848. Damals verrieten die Vertreter der Bourgeoisie und die kleinbürgerlichen Demokraten den Kampf gegen den preußischen Absolutismus. Die revolutionären Kämpfe jenes historischen Jahres brachten in Deutschland, wie in ganz Europa, zum ersten Mal die Unversöhnlichkeit des sozialen Gegensatzes zwischen der Bourgeoisie und dem entstehenden Proletariat ans Tageslicht. Die deutsche Bourgeoisie stand zwar den politischen Überbleibseln der halbfeudalen Aristokratie feindlich gegenüber, schloß aber dennoch mit der alten herrschenden Klasse reaktionäre Kompromisse auf Kosten der Demokratie, um die in ihren Augen weitaus größere Bedrohung ihrer materiellen Interessen abzuwenden, die von einer sozialistischen Revolution ausgegangen wäre.

In ihrer Analyse der Ereignisse von 1848 legten Marx und Engels großes Gewicht auf die Rolle der kleinbürgerlichen Demokraten, die sich durchaus revolutionärer Phrasen bedienten und sich sogar Sozialisten nannten, um Einfluß auf die Arbeiter zu gewinnen, die Revolution jedoch unweigerlich verrieten. Marx und Engels betonten, daß die Interessen der Arbeiterklasse deren politische Unabhängigkeit von den Vertretern des Kleinbürgertums voraussetzten:

»Das Verhältnis der revolutionären Arbeiterpartei zur kleinbürgerlichen Demokratie ist dies: sie geht mit ihr zusammen gegen die Fraktion, deren Sturz sie bezweckt; sie tritt ihnen gegenüber in allem, wodurch sie sich für sich selbst festsetzen wollen.«4

Die Analyse, die Marx und Engels über die Einstellung der kleinbürgerlichen Demokraten erstellten, erscheint auch nach beinahe 150 Jahren noch erstaunlich frisch. Sie legten dar, daß es den kleinbürgerlichen Demokraten nicht um den Sturz der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern um deren erträglichere Gestaltung für sich selbst ging. In der Annahme, ihre eigenen Sorgen verkörperten die Anliegen der gesamten Menschheit, wiesen die kleinbürgerlichen Demokraten den Gedanken weit von sich, daß die Ziele der Arbeiterklasse über ihre eigenen hinausgingen. Die proletarische Partei, schrieben Marx und Engels, dürfe nicht zulassen, daß das demokratische Kleinbürgertum die Revolution abbreche, bevor die weitaus radikaleren Ziele der Arbeiterklasse erfüllt worden seien. Es sei »unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.«5

Das Wachstum der Sozialdemokratie

Viele Jahre sollten noch vergehen, bevor Marx und Engels direkten politischen und theoretischen Einfluß auf die Arbeiterklasse gewannen. Dennoch hinterließen die Ereignisse von 1848 ihre Spuren im Bewußtsein der Arbeiterklasse. Die Arbeiter erkannten, daß sie durch den politischen Kniefall der liberalen Bourgeoisie vor dem alten absolutistischen Preußenregime verraten worden waren, und neigten von daher zur Bildung unabhängiger Klassenorganisationen. Staatliche Unterdrückungsmaßnahmen machten die politische Organisierung in den fünfziger und sechziger Jahren sehr schwierig, und so formierten sich die Arbeitervereine häufig um kulturelle oder sportliche Anliegen.

In den frühen sechziger Jahren führte die Tätigkeit Ferdinand Lassalles, einer herausragenden Persönlichkeit, die zwischen dramatischen Höhenflügen und abgeschmackten Albernheiten schwankte, zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der als erste eigenständige politische Organisation der Arbeiterklasse gelten darf.

Die Beziehung zwischen Marx und Lassalle war alles andere als freundschaftlich. Während Lassalle in hohem Maße von Marx’ theoretischer Arbeit lebte – was er nicht immer öffentlich zugeben wollte –, versuchte er sich so viel Unabhängigkeit wie möglich zu bewahren, um seine politischen Ziele mit oftmals zweifelhaften Mitteln zu verfolgen. Insbesondere knüpfte Lassalle hinter den Kulissen politische Beziehungen zu Bismarck an, in der Meinung, er könne die Konflikte zwischen den Eisernen Kanzler und der Bourgeoisie im Interesse der Arbeiterklasse ausnutzen. Abgesehen von den strategischen Fehleinschätzungen, die in diesen opportunistischen Beziehungen zum Ausdruck kamen, hinterließ Lassalles Opportunismus ein politisches Vermächtnis, das die deutsche Arbeiterbewegung noch lange in der Zukunft heimsuchen sollte: die Vorstellung, daß unter den Fittichen des preußischen Nationalstaates eine Art deutscher Sozialismus verwirklicht werden könne. Trotz seines frühen Todes bei einem Duell im Jahr 1864 hinterließ er zahlreiche Anhänger in der deutschen Arbeiterklasse.

Zur selben Zeit entstand eine weitere Arbeiterorganisation – der Verband Deutscher Arbeitervereine (VDAV) –, die schließlich Marx wachsenden Einfluß in der Arbeiterklasse verschaffte. 1867 wählte der Verband den 27jährigen August Bebel zum Vorsitzenden; und ein Jahr später verabschiedete er ein Programm, mit dem er sich offiziell der Ersten Internationale anschloß. Im Jahr 1869 löste sich der Verband auf und gründete auf einem Kongreß in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Marx und Engels hielten zwar Verbindung zu August Bebel und Wilhelm Liebknecht, es gab aber auch andere, vornehmlich Lassallesche Einflüsse in der neuen Partei.

Viele Jahre sollten noch vergehen, bevor sich der Marxismus in der SPD programmatisch durchsetzte. Sogar die Vereinigung der Lassalleaner und der Eisenacher auf dem Gothaer Parteitag im Mai 1875 fand auf der Grundlage eines Programms statt, an dem Marx heftige grundsätzliche Kritik übte.

In den Jahren nach der Vereinigung wuchs die SPD rasch. Im Jahr 1878 verfügte die neue Partei bereits über 47 Lokalzeitungen, und der »Vorwärts« hatte sich als Zentralorgan etabliert. Bei den Reichstagswahlen von 1877 erhielt die SPD 9,1 Prozent der Stimmen. Bismarck beantwortete das Wachstum der SPD mit Unterdrückungsmaßnahmen. Er ließ die Sozialistengesetze verabschieden, mit denen er zwei Ziele verfolgte: der SPD das Genick zu brechen und die liberale Opposition zu diskreditieren. Das zweite gelang ihm, ersteres nicht.

Während der Jahre der Illegalität gewann die SPD sowohl an politischem Ansehen als auch an theoretischer Klarheit. Unter den Sozialistengesetzen verfügte die Polizei über umfassende Befugnisse, Verbände, Versammlungen, Festveranstaltungen und Umzüge aufzulösen sowie Publikationen zu verbieten. Wenn Verbindungen zu Sozialisten bestanden, konnte die Polizei Gewerkschaften, Kultur- und Sportverbände, Leihbüchereien und Verbraucherkooperativen auflösen und sogar Gaststätten oder Cafés schließen, in denen militante Arbeiter verkehrten. Am 30. Juni 1879 waren bereits 127 periodische und 287 nicht periodische Publikationen verboten worden.

Die Sozialistengesetze wiesen jedoch ein beinahe unerklärliches Schlupfloch auf. Es war Sozialisten nicht verboten, für den Reichstag und die Landtage zu kandidieren und Abgeordnete zu stellen. Darüber hinaus war es sozialistischen Kandidaten gestattet, Wahlversammlungen abzuhalten. Bismarck unternahm mehrere Versuche, dieses Schlupfloch zu schließen, doch viele Reichstagsabgeordnete fürchteten eine Einschränkung ihrer eigenen Rechte.

Während dieser Zeit gab es eine Reihe wichtiger Fraktionskämpfe innerhalb der SPD. Gemäßigte und Radikale stritten um die Vorherrschaft in der Partei. Die Radikalen gewannen, nicht zuletzt aufgrund der überragenden taktischen Fähigkeiten und des Ansehens Bebels, schließlich die Oberhand. Der Hauptgrund für diesen Sieg war die zunehmende Autorität des Marxismus, mit dem die Bebel-Fraktion identifiziert wurde, in der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung. Die Veröffentlichung von Engels’ »Anti-Dühring« hatte den Marxismus zur maßgeblichen Stimme des Sozialismus in der Arbeiterbewegung gemacht. Während dieser Periode eignete sich Bebel eine schlüssige marxistische Geisteshaltung an, und eine neue Schicht bedeutender Intellektueller, wie Kautsky und Bernstein, wurde für den Marxismus gewonnen.

Bei den Reichtstagswahlen 1887 gewann die Sozialdemokratie 10,1 Prozent der Stimmen. Die Herausforderung an den Staat, die vom Wachstum der SPD ausging, nahm dann im Frühjahr 1889 mit dem Ausbruch der größten Massenstreiks in der Geschichte der deutschen Industrie akute Formen an. Die Arbeitsniederlegungen begannen am 3. Mai 1889 im Ruhrgebiet und breiteten sich schnell ins Aachener Revier, an die Saar, nach Sachsen und Schlesien aus. An der Ruhr traten 97.000 Bergleute (86 Prozent aller Belegschaften) in den Ausstand. Es kam zu bewaffneten Zusammenstößen und zum Einsatz von Soldaten zur Verteidigung des Eigentums der Grubenbesitzer. Am Ende des Streiks zählte man 45 Tote. Die Streikwelle ließ nur vorübergehend wieder nach. Im April 1890 betrug die Gesamtzahl der Streiks 715 unter Beteiligung von insgesamt 289.000 Arbeitern in der Bau-, Textil- und Metallindustrie.

Unter dem Druck der gewaltigen Streikwelle, die die Regierung erschütterte und den neuen Kaiser in Angst und Schrecken versetzte, kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Wilhelm II und Bismarck über das weitere Vorgehen gegen die wachsende Kampfbereitschaft der Arbeiter und gegen den Einfluß der SPD. Bismarck drängte auf eine gewaltsame Abrechnung mit den Sozialisten; seiner Ansicht nach war hier Blutvergießen nicht weniger angezeigt, als bei der Vereinigung Deutschlands. Der Kanzler warnte, daß der wachsende Einfluß der Sozialdemokratie, der innenpolitisch keine Frage von Gesetzen, sondern von Krieg und Frieden sei, die eigentliche Ursache für die sozialen Unruhen darstelle. Mitten in dieser Auseinandersetzung bekamen die Sozialistengesetze im Reichstag keine Mehrheit mehr (weil Bismarck keine verwässerte Fassung dulden wollte). Innerhalb von zwei Monaten mußte Bismarck zurücktreten. Bald nach der Ablehnung eines neuen Sozialistengesetzes im Jahr 1890, aber noch vor Ablauf des geltenden, fanden Wahlen statt, die zum Erstaunen aller Deutschen, Bebel nicht ausgenommen, die SPD als die populärste Partei des Landes auswiesen.

Die SPD als legale Partei

Die Legalität brachte für die SPD ungeheuer schwierige politische Probleme mit sich. Zunächst stand sie nach wie vor unter starkem staatlichen Druck und mußte ständig mit einem gewaltsamen Angriff des Staates rechnen. Ein schwierigeres Problem war jedoch das Spannungsverhältnis zwischen der revolutionären Perspektive der SPD – die im Erfurter Programm von 1891 niedergelegt worden war – und dem unvermeidlich reformistischen Charakter ihrer Tagesarbeit. Karl Kautsky, der mittlerweile zum Haupttheoretiker der Partei aufgestiegen war, versuchte die Kluft zwischen den revolutionären Zielen und der reformistischen Tätigkeit durch die Begriffe des Maximal- und des Minimalprogramms zu überbrücken: ersteres stellte die historischen Ziele der SPD dar, während letzteres die unmittelbareren praktischen Forderungen der Partei enthielt. In diesem Rahmen verlangte die SPD die Abschaffung der indirekten Steuern, die Einführung einer progressiven Einkommenssteuer und natürlich den Achtstundentag. Sie forderte einen verbesserten Arbeitsschutz für Frauen und für Beschäftigte in gefährlichen Industriebereichen.

Im Verlaufe eines knappen Vierteljahrhunderts – vom Ende der Sozialistengesetze 1890 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 – wuchs die SPD zur größten politischen Partei Deutschlands heran. Dennoch kann die bloße Anzahl der Wählerstimmen allein noch nicht verdeutlichen, wie tief und weit der Einfluß der Sozialdemokratie in der Arbeiterklasse tatsächlich reichte.

Die SPD war in ihrer Zeit ein historisch einmaliges Phänomen: sie war die erste wahrhafte Massenpartei der Arbeiterklasse. Bernstein rief einen Aufschrei der SPD-Führer hervor, als er 1898 erklärte, die von der SPD verkörperte Bewegung sei ihm wichtiger als ihr Endziel. Aber die elementare Zugkraft, die trotz seines ketzerischen Charakters von diesem Argument ausging, kann man nur ermessen, wenn man sich ein zumindest annäherndes Bild von der Größe der Bewegung macht, die die SPD anführte.

Die Massenpartei

Die SPD leitete ein gewaltiges Verlagsimperium, das Bücher, Zeitungen und Zeitschriften zu praktisch jedem Aspekt des Arbeiterlebens veröffentlichte. In Engels Todesjahr, 1895, brachte die SPD 75 Zeitungen heraus, 39 davon erschienen sechsmal die Woche. Im Jahre 1906 waren es bereits 58 sozialistische Tageszeitungen.

Im Jahr 1909 erreichte die Auflage der sozialdemokratischen Zeitungen eine Million, am Vorabend des Krieges stand sie bei anderthalb Millionen. Die offizielle Auflagenstärke war dabei geringer als die Zahl der Leser, die die sozialistische Presse verfolgten, denn viele Exemplare wurden in den Betrieben, Gaststätten, Schulen und Wohnvierteln von Arbeiter zu Arbeiter weitergereicht. Eine sehr populäre Zeitschrift, »Der wahre Jakob«, wurde pro Ausgabe in 380.000 Exemplaren verkauft, aber seine tatsächliche Leserschaft betrug beinahe eine Million. Man schätzt, daß die Gesamtzahl des sozialdemokratischen Lesepublikums im Jahr 1914 etwa sechs Millionen betrug.

Der »Vorwärts«, die wichtigste politische Zeitung der SPD, wurde in 165.000 Exemplaren vertrieben. Die berühmte »Neue Zeit«, die von Kautsky herausgegebene theoretische Zeitschrift, hatte eine Auflage von 10.500. »Die Gleichheit«, eine Zeitung für Arbeiterinnen, die unter ihrer Herausgeberin Clara Zetkin eine aggressiv antimilitaristische Linie verfolgte, erreichte 1914 eine Auflage von 125.000. Wie groß das Interessensfeld war, das zusätzliche Zeitungen der SPD abdeckten, kann man an deren Titeln ablesen. Die entsprechende Zeitung für Radfreunde hatte eine Auflage von 168.000, das Blatt für Arbeiter-Gesangsvereine erschien in einer Auflage von 112.000, die »Arbeiterturnzeitung« erreichte 119.000, »Der freie Gastwirt« kam auf 11.000, »Der Abstinente Arbeiter« auf 5100 und »Der Arbeiter-Stenograph« auf eine Auflage von 3000 Exemplaren.

Zusätzlich zu diesen regelmäßigen Publikationen brachte die SPD eine Unmenge politischer Literatur heraus. In Wahlkampfzeiten nahm dies gigantische Ausmaße an: Handzettel, Plakate, Sonderausgaben ihrer Zeitungen und Broschüren wurden zu Millionen gedruckt. Die Partei besaß mehrere große Druckereien, wo in Auflagen von mehreren Zehn- oder sogar Hunderttausenden Bücher zu Fragen der Geschichte, Politik oder Kultur hergestellt wurden.

Die SPD organisierte und koordinierte ein riesiges Netz von Freizeitaktivitäten, die jede Schicht und Altersgruppe der Arbeiterklasse erfaßten. Die Identifikation der SPD mit der Arbeiterklasse ging so weit, daß das bloße Wort »Arbeiter« schon einen politischen Beiklang hatte.

Zur Jahrhundertwende betrieb die SPD mindestens 20 Freizeitarten, die ein breites Feld von sozialer Betätigung und Bildung abdeckten. Sie unterhielt zahllose Turn- und Gesangsvereine. In nur einer Stadt, Chemnitz, organisierte die SPD nicht weniger als 142 Arbeiter-Gesangsvereine, die insgesamt 123 Konzerte gaben. In Thüringen stand die SPD Pate für 191 verschiedene Turnvereine.

Für Hunderttausende deutsche Arbeiter war die SPD mehr als eine politische Organisation; sie war der Mittelpunkt ihres gesamten Lebens. Wofür sich auch ein Arbeiter oder eine Arbeiterin besonders interessierte – sei es Schwimmen, Gewichtheben, Boxen, Wandern, Rudern, Segeln, Fußball, Schach, Vogelkunde, Theater, körperliche Ertüchtigung oder Abstinenz – die SPD hatte eine Organisation, der er oder sie beitreten konnte.

Beträchtliche Mittel wandte die SPD auch für die formale politische Bildung auf. Von den neunziger Jahren an veranstaltete sie Lehrgänge für Geschichte, Gesetzeswesen, politische Ökonomie, Naturwissenschaften und Rhetorik. Unter den Dozenten für diese Themen befanden sich Bebel, Liebknecht, Zetkin und Luxemburg. Drei Mal jährlich wurden dreimonatige Kurse angeboten. Die Zahl der Besucher erhöhte sich von 540 im Jahr 1898 auf 1700 im Jahr 1907. 1906 wurde eine offizielle Parteischule eröffnet.

Den Beitrag der Partei zur kulturellen Entwicklung der Arbeiterklasse kann man an der Zunahme der Arbeiterbibliotheken ablesen. Von 1900 bis 1914 beteiligten sich die Partei und die von der SPD geführten Gewerkschaften an der Gründung von 1100 Bibliotheken an 750 verschiedenen Orten. Diese Bibliotheken hatten einen Bestand von mehr als 800.000 Bänden, und im Jahr 1914 standen mehr als 365 Bibliothekare auf der Gehaltsliste der SPD.

Eine letzte Statistik verdient Erwähnung. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts unternahm die SPD eine offensive Mitgliederwerbung unter Frauen und stieß damit auf große Resonanz. Die Anzahl weiblicher Parteimitglieder stieg von 30.000 im Jahr 1905 auf 175.000 im Jahr 1914. August Bebels »Die Frau und der Sozialismus« gehörte zu den populärsten Publikationen der Partei.

Die wirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus und das Wachstum der Gewerkschaften

Bevor wir uns mit Bernsteins Positionen auseinandersetzen, müssen wir noch das internationale und nationale wirtschaftliche Umfeld betrachten, in dem er seine Auffassungen entwickelte. Bernstein bestritt zwar die Gültigkeit der historischen materialistischen Dialektik, aber seine eigene geistige und politische Evolution vollzog sich dennoch nach deren Gesetzen.

Die Weltwirtschaft bot zwischen 1873 und 1893 ein komplexes und höchst widersprüchliches Bild. Preise und Profite steckten in einer langandauernden Rezession. In diesen zwanzig Jahren sank das Preisniveau in England um 40 Prozent. Der Eisenpreis sank um die Hälfte. Doch diese Periode der Deflation bei Preisen und Profiten war auch von einer boomenden Industrieproduktion und großen technologischen Innovationen geprägt. In der Tat hingen diese beiden wesentlichen Aspekte der weltwirtschaftlichen Lage dialektisch zusammen. Der Druck auf die Profitrate bildete den Anstoß zur Entwicklung neuer Produktions- und Managementtechniken, die ihrerseits zu einer immensen Steigerung der Industrieproduktion führten. Selbst als die Weltwirtschaft in einer Preis- und Profitdepression steckte, machte die industrielle Entwicklung, besonders in Deutschland und in den Vereinigten Staaten, ein rasches Wachstum durch.

Das Kapital drang in ganz neue Gebiete vor, etwa nach Lateinamerika, und die Suche nach profitträchtigen Investitionen führte zur Entstehung des imperialistischen Kolonialismus. Die lange Rezession hörte Ende 1894 abrupt auf, und der Kapitalismus trat in eine Periode ein, die vom Standpunkt der Bourgeoisie her so wunderbar war, daß sie den Namen erhielt, der sie bis heute bezeichnet: »La Belle Epoque!«

Deutschland gehörte zu den dynamischsten Zentren dieser wirtschaftlichen Entwicklung, und dies hatte tiefe und widersprüchliche Auswirkungen auf die marxistische Bewegung. Eine notwendige Voraussetzung für die Verbreitung der SPD war offenkundig das rasche Wachstum der Arbeiterklasse. Doch dieses war wiederum durch das außerordentliche Entwicklungstempo der deutschen Industrie bedingt. Die Vereinigung Deutschlands bot ungeachtet der reaktionären politischen Formen, in denen sie von Bismarck verwirklicht worden war, die Grundlage für ein rasches Wachstum der Großindustrie. Die Eisenproduktion erhöhte sich von 2,7 Millionen Tonnen im Jahr 1880 auf 8,5 Millionen Tonnen im Jahr 1900. Die Stahlproduktion nahm während derselben Periode von 625.000 auf 6,6 Millionen Tonnen zu. Von 1873 bis 1900 verdoppelte sich die Anzahl der Schiffe, die in deutschen Häfen anlegten. Ein zentrales Merkmal der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands war die Konzentration und Kartellbildung in der Industrie. Von 1882 bis 1907 nahm die Anzahl der Kleinunternehmen um acht Prozent zu, während die Anzahl der Großunternehmen um 231 Prozent zulegte. Im Jahr 1907 beschäftigten 548 Industriekonzerne bereits beinahe 1,3 Millionen Arbeiter.

Die offizielle Lehre der SPD war die des Klassenkriegs, aber ihr eigenes Wachstum hing, wenn auch nur indirekt, mit der Ausdehnung der nationalen Industrie Deutschlands zusammen. Noch direkter trat dieser Zusammenhang mit der nationalen Industrie bei der Entwicklung der Gewerkschaften zutage. Bis zur Mitte der neunziger Jahre war deren Wachstum hinter jenem der Partei zurückgeblieben, die ihnen die politische Leitung und direkte materielle Unterstützung zur Verfügung stellte. Aber der große Wirtschaftsboom, der 1895 begann und beinahe bis zum Ausbruch des Weltkrieges anhielt, förderte eine immense Verbreitung der Gewerkschaften und änderte von Grund auf die Beziehung zwischen den Gewerkschaften – deren Führern im allgemeinen nur wenig an marxistischer Theorie und sozialistischen Grundsätzen lag – und der SPD. Je mehr die Gewerkschaften an Größe und finanziellen Mitteln gewannen, desto weniger zeigten sich ihre Führer bereit, ihre praktischen Anliegen allgemeineren Erwägungen sozialistischer Politik und deren Grundsätzen unterzuordnen. Wir werden später auf diese Frage zurückkommen.

Bernsteins Angriff auf den Marxismus

Nun zu Bernstein. Er war das siebte von fünfzehn Kindern einer jüdischen Familie der unteren Mittelklasse und wurde 1872 in der sozialistischen Bewegung politisch aktiv. Bebels mutiges Auftreten für sozialistische und internationalistische Prinzipien während des Französisch-Preußischen Krieges hatte ihn beeindruckt. 1875 nahm er als Delegierter am Vereinigungsparteitag der Eisenacher und Lassalleaner in Gotha teil.

Schon früh in seiner politischen Laufbahn legte Bernstein eine Neigung zu verschiedenen Formen bürgerlich-demokratischer Politik an den Tag. Eine Zeitlang geriet er unter den Einfluß Eugen Dührings, und etwas später, während seiner Tätigkeit als Sekretär für Karl Hochberg – einen linken Demokraten, der die SPD finanziell unterstützte –, beteiligte sich Bernstein an der Erarbeitung eines Dokuments, das die Partei drängte, ihre ausschließliche Orientierung auf die Arbeiterklasse aufzugeben und eine versöhnlerischere Haltung gegenüber der Bourgeoisie einzunehmen. Marx und Engels waren außer sich über dieses Papier, und Bernstein konnte sich mit ihnen erst wieder gut stellen, nachdem er in Begleitung keines geringeren als Bebel selbst nach London gereist war, um sich bei den alten Revolutionären persönlich für seinen Grundsatzverrat zu entschuldigen.

Aufgrund der Sozialistengesetze mußte Bernstein Deutschland 1878 verlassen. Sein Exil dauerte 23 Jahre. Mehrere Jahre lang lebte er in der Schweiz, bevor er in den späten achtziger Jahren nach England zog. Während seines ausgedehnten Aufenthalts in England lernte er die reformistische Gesellschaft der Fabier kennen und schloß Freundschaft mit deren führenden Leuchten. Er speiste häufig mit Beatrice und Sydney Webb und mit George Bernard Shaw.

Steger schreibt, Bernstein sei zutiefst beeindruckt gewesen »von den sozialen Errungenschaften, die durch den praktischen, nutzorientierten Standpunkt der englischen Arbeiter ermöglicht worden waren. Er sprach in begeisterten Wendungen von der guten Beziehung zwischen den britischen Arbeiterführern und den Vertretern der liberalen Bourgeoisie, deren ›Vernunftheirat‹ zum Erfolg des britischen schrittweisen Reformismus beigetragen habe. Für Bernstein bewies das sich entwickelnde britische Modell die Möglichkeit beiderseitig annehmbarer Abkommen zwischen Kapital und Arbeit, und er fühlte sich berufen, seinen deutschen Parteigenossen diese seine Beobachtungen mitzuteilen.«6

Nicht nur der praktische Erfolg der Fabier beeinflußte Bernstein. Das rasche Wachstum des Sozialismus in Deutschland und ganz Westeuropa hatte der Bourgeoisie klar werden lassen, daß sie dessen Einfluß nicht allein mit staatlichen Repressionen zurückdrängen konnte. Man mußte auch der großen geistigen Herausforderung des Marxismus begegnen. So gewannen die Universitäten in den neunziger Jahren eine neue, entscheidende Rolle – die sie bis heute beibehalten haben – als ideologische Bollwerke gegen den Marxismus. Marx’ Schriften wurden fortan auf Ungereimtheiten und Schwächen hin durchkämmt, die man möglicherweise anführen konnte, um die Standpunkte der sozialistischen Bewegung zu widerlegen. Die neuen akademischen »Schlächter des Marxismus« wurden mit großem Einfluß und Ansehen ausgestattet, und ihre Schriften allenthalben gepriesen und verbreitet. Leute wie Böhm-Bawerk, Tugan-Baranowsky, Benedetto Croce, Werner Sombart und Max Weber, von ganzen Heerscharen weniger bekannter und begabter Autoren ganz zu schweigen, eröffneten ein unaufhörliches Sperrfeuer gegen praktisch jeden Aspekt der marxistischen Theorie. Auf ihre Weise bestätigten die Werke dieser Denker Marx’ Feststellung: »Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß«, und objektiv bestehende soziale Gegensätze werden in bestimmten ideologischen Formen widergespiegelt und ausgefochten.7 Die Schriften dieser kleinbürgerlichen akademischen Marx-Kritiker übten großen Einfluß auf Bernstein aus. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß Bernstein den antimarxistischen Argumenten, die an den Universitäten damals gang und gäbe waren, außer seinem eigenen politischen Prestige wenig hinzufügte.

Engels spürte die beginnende Veränderung in Bernsteins Einstellung und klagte, er klinge immer mehr wie ein englischer Kleinkrämer. Solange Engels lebte, übte er einen zügelnden Einfluß auf Bernstein aus. Doch nach seinem Tod im August 1895 entfernte sich Bernstein recht schnell vom revolutionären Marxismus.

Im Jahr 1898 schrieb Bernstein eine Reihe von Artikeln, in denen er das theoretische Erbe und revolutionäre Programm der SPD zurückwies. Ausführlicher legte er diese Ansichten in seinem Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus« dar. Es sei an der Zeit zu erkennen, daß Marx’ Analyse des Kapitalismus als eines von inneren Widersprüchen zerrissenen Systems auf dessen Hegelsche Ausbildung zurückgehe und der empirisch feststellbaren Realität nicht entspreche. Wenn die Sozialisten ihre Taktik auf eine künftige große Krise des kapitalistischen Systems ausrichteten, dann begingen sie einen bedenklichen Fehler. Alle verfügbaren Tatsachen wiesen schließlich darauf hin, daß dem Kapitalismus ein praktisch unbegrenztes Potential zur progressiven Entwicklung innewohne; und dieses werde auf ganz natürlichem, demokratischem und friedlichem Wege zum Sozialismus führen. Jene unglückseligen Marxisten, die weiterhin den Sozialismus aus einer großen Krise hervorgehen sahen, in die der Kapitalismus durch seine inneren Widersprüche getrieben werde, litten an »Katastrophitis«, einer Krankheit, die ihren Blick für die unbestreitbaren Tatsachen des modernen Lebens trübe.

Aufgrund ihrer falschen Fixierung auf nicht existente ökonomische Widersprüche waren Marx und Engels zu der irrigen Annahme gelangt, daß der Kapitalismus zur Verelendung der Arbeiterklasse führe. Die Gewerkschaften, so Bernstein, hatten sich als fähig erwiesen, den Anteil der Arbeiter am Nationaleinkommen stetig zu erhöhen. Auch Marx’ Herumreiten auf der Werttheorie der Arbeit und sein angeblich wissenschaftlicher Nachweis der Ausbeutung der Arbeiterklasse sollten zum alten Eisen wandern. Wozu mußte man, fragte Bernstein, den inhärent ausbeuterischen Charakter der Mehrwertproduktion in der kapitalistischen Produktionsweise nachweisen? Dieses ständige Herumhacken auf dem Problem der Wertbildung hatte die sozialistische Bewegung dazu verleitet, ihr Feuer auf die kapitalistische Produktionsweise zu konzentrieren, anstatt Forderungen aufzustellen, die man durch gewerkschaftliche Aktivitäten und nationale Gesetzgebung auch durchsetzen und so das Nationaleinkommen gerechter verteilen konnte.

Bernstein vertrat die Auffassung, daß den langfristigen Interessen der Arbeiterklasse nicht durch eine Revolution, sondern durch stetig zunehmende Errungenschaften der Gewerkschaften gedient sei. Er geißelte die »Sozialisten, in deren Augen die Gewerkschaft nur ein Demonstrationsobjekt ist, die Nutzlosigkeit jeder anderen als der politisch-revolutionären Aktion praktisch nachzuweisen.«8 Für Bernstein waren Gewerkschaften das Mittel, womit man die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus überwinden konnte: »Ihrer sozialpolitischen Stellung nach sind die Gewerkschaften oder Gewerkvereine das demokratische Element in der Industrie. Ihre Tendenz ist, den Absolutismus des Kapitals zu brechen und dem Arbeiter direkten Einfluß auf die Leitung der Industrie zu verschaffen.« Bernstein legte den Gewerkschaften lediglich ans Herz, daß sie ihren Machtanspruch begrenzen sollten. Sie sollten die Partnerschaft mit dem Kapital, nicht die Kontrolle über die Industrie anstreben.

Einen weiteren Irrtum von Marx und Engels sah Bernstein in ihrer Auffassung des Staates als Instrument der Klassenherrschaft. Das Beispiel Englands, argumentierte er, beweise, daß der Staat in demokratischer Form als Vertreter aller seiner Bürger wirken könne, der ständig für das Gemeinwohl arbeite. Das Ziel der Arbeiterklasse dürfe nicht die Ablösung, geschweige denn die Zerschlagung des bestehenden Staates sein, sondern seine Verwandlung in ein immer effektiveres Instrument einer über den Klassen stehenden Demokratie. Die Arbeiterklasse bedürfe gar nicht ihrer eigenen Klassenherrschaft und solle sie von daher auch nicht anstreben. Die »Diktatur des Proletariats« sei ein Ausdruck, der in zivilisierten politischen Auseinandersetzungen nichts zu suchen habe:

»Die Klassendiktatur aber gehört einer tieferen Kultur an, und abgesehen von der Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit der Sache, ist es nur als ein Rückfall, als politischer Atavismus zu betrachten, wenn der Gedanke erweckt wird, der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft müsse sich notwendigerweise unter den Entwicklungsformen einer Zeit vollziehen, welche die heutigen Methoden der Propagierung und Erzielung von Gesetzen noch gar nicht oder nur in ganz unvollkommener Gestalt kannte und der geeigneten Organe dazu entbehrte.«9

Die Demokratie war die politische Form, die allen Bürgern ihre Rechte garantierte; und Bernstein sprach mit grenzenloser Bewunderung über die Ritterlichkeit, die mit ihr in alle Belange der Menschen Einzug gehalten habe:

»Aber in unserem Zeitalter ist eine fast unbedingte Sicherheit gegeben, daß die Mehrheit eines demokratischen Gemeinwesens kein Gesetz machen wird, das der persönlichen Freiheit dauernd Abbruch tut... In der Praxis hat sich vielmehr gezeigt, daß je länger in einem modernen Staatswesen demokratische Einrichtungen bestanden, um so mehr die Achtung und Berücksichtigung der Rechte der Minderheiten zunahm und die Parteikämpfe an Gehässigkeit verloren. Leute, die sich die Verwirklichung des Sozialismus nicht ohne Gewaltakte vorstellen können, mögen darin ein Argument gegen die Demokratie erblicken...

In der Demokratie lernen die Parteien und die hinter ihnen stehenden Klassen bald die Grenzen ihrer Macht kennen und sich jedesmal nur so viel vornehmen, als sie nach Lage der Umstände vernünftigerweise hoffen können, durchzusetzen. Selbst wenn sie ihre Forderungen etwas höher spannen, als im Ernst gemeint, um beim unvermeidlichen Kompromiß – und die Demokratie ist die Hochschule des Kompromisses – ablassen zu können, geschieht es mit Maß.«10

Bernstein hielt England für keine Ausnahme; die Demokratie sollte in Deutschland ebensolche Wunder vollbringen. Die SPD, meinte er, begehe einen Fehler, wenn sie weiterhin an dem unwandelbar reaktionären Charakter der deutschen Bourgeoisie festhielte. Dies möge »für den Moment vielleicht richtig sein, obgleich manche Erscheinungen auch dagegen sprechen. Aber es kann nicht auf die Dauer so sein.«11 Die deutsche Kapitalistenklasse würde sich Aufrufen zu demokratischen Reformen gegenüber viel aufgeschlossener zeigen, wenn die SPD nur aufhöre, ihr mit der sozialen Revolution zu drohen. Die Partei solle der Bourgeoisie deutlich sagen, daß sie »in keiner Weise für eine gewalttätige Revolution gegen die gesamte nichtproletarische Welt« schwärme. Dann würde auch die Furcht der Bourgeoisie vor der SPD »weichen«, und sie wäre bereit, die Arbeiterklasse als »Bundesgenossen« gegen die reaktionäreren Elemente der preußischen absolutistischen Regierung zu akzeptieren.

Bernstein forderte die SPD also auf, ihrer revolutionären Phantasien zu entsagen und zu begreifen, daß der Sozialismus, befreit von dem Hegelianischen Determinismus, der Marx und Engels in die Irre geleitet hatte, im Grunde nichts weiter sei als konsequenter Liberalismus: »Tatsächlich gibt es keinen liberalen Gedanken, der nicht auch zum Ideengehalt des Sozialismus gehörte. Selbst das Prinzip der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit, das anscheinend so ganz und gar manchesterlich ist, kann meines Erachtens vom Sozialismus weder theoretisch negiert, noch unter irgend denkbaren Umständen außer Wirksamkeit gesetzt werden. Ohne Verantwortlichkeit keine Freiheit...«12

Des weiteren wies Bernstein mit Verachtung die sozialistische Agitation gegen den bürgerlichen Militarismus zurück. Im Prinzip hatte Bernstein nichts gegen den Kolonialismus einzuwenden. Unter europäischer Herrschaft, schrieb er, »geht es den Wilden ohne Ausnahme besser als zuvor«. Dies gelte auch für die Indianer in Amerika: »Welche Ungerechtigkeiten ihnen auch früher widerfahren sein mögen, heute werden ihre Rechte geschützt, und es ist eine bekannte Tatsache, daß ihre Zahl heute nicht länger zurückgeht, sondern wieder steigt.«13

Und was die ständige sozialistische Agitation gegen die Raubgier des deutschen Imperialismus anging, so argumentierte Bernstein, es dürfe der Sozialdemokratie nicht gleichgültig sein, »ob die deutsche Nation, die ja ihren redlichen Anteil an der Kulturarbeit der Nationen geleistet hat und leistet, im Rate der Völker zurückgedrängt wird.«14 Die SPD beging seiner Ansicht nach auch einen Fehler, wenn sie die Ersetzung der stehenden Armee des Kaisers durch eine Volksmiliz forderte, denn ihre Warnungen, daß das Militär eine ständige Gewaltandrohung gegen die Arbeiterklasse seien, erwiesen sich als restlos überholt: »Wir gewöhnen uns glücklicherweise immer mehr daran, politische Differenzen anders als durch Schießerei zu erledigen.«15

Nichts kann Bernsteins Ruf als politischer Theoretiker und Stratege mehr schaden, als die Veröffentlichung seiner Schriften. Selbst die sehr sorgfältige Auswahl, die Steger präsentiert, trägt nicht zur Empfehlung seiner Geistesgröße bei (und die von mir zitierten Absätze tauchen in Stegers Biographie nicht auf). Wenn den heutigen Marxisten etwas überrascht, dann das erbärmlich niedrige Niveau von Bernsteins Argumenten. »Diese wässrige Brühe«, so fragt man sich, »sollte allen Ernstes als Widerlegung des Marxismus gelten?« Man kann sich nur wundern über die spießige Beschränktheit dieses spät-viktorianischen Snobs, der die ernsten, beunruhigenden Entwicklungen seiner Zeit überhaupt nicht bemerkt zu haben scheint. Ich weiß nicht, ob Bernstein gern Musik hörte, aber es hätte ihm vielleicht gut getan, sich die Symphonien seines Zeitgenossen Gustav Mahler anzuhören. In den Kompositionen Mahlers hätte Bernstein vielleicht etwas entdeckt, das in seinen eigenen Werken völlig fehlte: ein Vorgefühl der Tragödie, die der bürgerlichen Zivilisation bevorstand. Aber dieser Bernstein war eben Eduard, nicht Leonard, und ich bezweifle, daß ihm das Werk des aufgewühlten österreichischen Komponisten etwas gegeben hätte.

Als die von mir zitierten Absätze verfaßt wurden, blieben nur noch fünfzehn Jahre bis zum Ausbruch eben jener Katastrophe, die Eduard Bernstein für unvorstellbar hielt – eine Katastrophe, die ein Zeitalter der Barbarei eröffnete, dessen Schrecken in der Geschichte ohne Beispiel sind. Die kapitalistische Entwicklung führte nicht in Richtung immer größerer Demokratie oder zur Abschwächung der Klassengegensätze, sondern zu Massenunterdrückung und Bürgerkrieg. Bei seinem Blick in die Zukunft nahm der kurzsichtige Bernstein nur den Regenbogen der Demokratie wahr, nicht die Stacheldrähte der Schützengräben und Konzentrationslager.

Bernsteins philosophische Auffassungen

Wenden wir uns einem weiteren entscheidenden Element von Bernsteins theoretischen Ansichten zu: der Anspruch des Marxismus, den Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt zu haben, sei unbegründet. Bernstein stützte sich dabei nicht nur auf die Behauptung, daß das eine oder andere Element des Marxismus widerlegt worden sei – obwohl er sicherlich der Meinung war, daß die zeitgenössischen Entwicklungen viele Urteile von Marx und Engels widerlegt hatten. Doch das war von sekundärer Bedeutung. Bernstein hielt den bloßen Begriff »wissenschaftlicher Sozialismus« für einen Widerspruch in sich. Der Sozialismus, sagte er, könne gar nicht das Niveau einer Wissenschaft erreichen, weil er »als kämpfende Bewegung... der Wissenschaft nicht völlig tendenzlos gegenüberstehen« könne.16 »Kein Ismus ist eine Wissenschaft,« erklärte Bernstein. »Was wir mit Ismen bezeichnen, sind Anschauungsweisen, Tendenzen, Systeme von Gedanken oder Forderungen, aber keine Wissenschaften.«17 Ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Ansprüche, sei die sozialistische Massenbewegung »aber selbstverständlich so wenig eine wissenschaftliche Bewegung, wie etwa der deutsche Bauernkrieg, die französische Revolution oder irgendein anderer geschichtlicher Kampf. Der Sozialismus als Wissenschaft beruft sich auf die Erkenntnis, der Sozialismus als Bewegung wird von Interesse als seinem vornehmsten Motiv geleitet...«18

Diese Aussagen enthalten eine Menge Dinge, die beantwortet werden müssen. Betrachten wir zunächst die Behauptung, daß der moderne Sozialismus in dem Maße, wie er auch Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Interessen ist, nicht wissenschaftlicher sein könne als frühere Massenbewegungen. Wie so viele Argumente Bernsteins ist auch dieses mehr ausgefuchst als klug. Man kann nicht bestreiten, daß alle sozialen Bewegungen von Klasseninteressen motiviert sind. Doch der wesentliche Unterschied zwischen der modernen sozialistischen und früheren revolutionären Massenbewegungen zeigt sich darin, daß erst mit der Entstehung des Marxismus dieses motivierende Element – das Klasseninteresse – selbst zum Gegenstand einer theoretischen und historischen Analyse wird. Um genau zu sein, waren Marx und Engels nicht die ersten, die den Klassenkampf erkannten und ihm große Bedeutung beimaßen. Ansätze zu dieser Einsicht finden sich bereits bei den Historikern der Antike, der Renaissance, und, in jüngerer Zeit, bei den französischen Historikern der nach-Napoleonischen Restauration im frühen 19. Jahrhundert – besonders bei Guizot. Aber erst mit Marx und Engels wurde aufgedeckt und erklärt, was dem Klassenkampf zugrunde lag: Marx und Engels betonten nicht nur den Klassenkampf und dessen Beziehung zu materiellen, d.h. Eigentumsinteressen, sondern wiesen auch nach, daß diese Interessen und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die sie hervorriefen, auf der Grundlage der vom Menschen geschaffenen Produktivkräfte und der damit einhergehenden Produktionsverhältnisse beruhten. Gestützt auf diese tiefere Einsicht in die Wurzeln der Klassengesellschaft und die Grundlagen der menschlichen Zivilisation als solcher wurde es möglich, zum ersten Mal eine konsequent materialistische Geschichtsauffassung zu entwickeln – die nicht nur die Herausbildung ökonomischer Interessen, sondern auch die Evolution des gesellschaftlichen Denkens erklärte.

Erst mit der Entstehung des Marxismus gelang es dem Menschen, die Gesetze seiner eigenen gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung zu formulieren. Gerade dieser zweite Aspekt, nämlich die Herleitung des gesellschaftlichen Bewußtseins vom gesellschaftlichen Sein, ermöglichte es der sozialistischen Bewegung, ihre eigenen Ursprünge, ihre Existenz, ihre Entwicklung und ihre Bestrebungen in einer gänzlich entmystifizierten Form – d.h. ohne Rückgriffe auf ideelle Beweggründe – zu begreifen. Hierin liegt der weitreichende Unterschied zwischen der marxistischen sozialistischen Bewegung und den revolutionären Bewegungen, die ihr vorausgingen. Wir können getrost davon ausgehen, daß sämtliche sozialen Bewegungen – der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft – in der einen oder anderen Form Ausdruck sozialer Interessen sind. Aber die marxistische Bewegung darf sich zu Recht auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen berufen, da ihre Prinzipien, ihr Programm und ihre Handlungsweise vom Wissen um die Gesetze der historischen Entwicklung geleitet werden. Bernsteins Unterscheidung zwischen dem »Sozialismus als Wissenschaft« und dem »Sozialismus als Bewegung« war, um es unverblümt zu sagen, reichlich dumm. Wenn man einräumt, daß der Sozialismus als Wissenschaft die Entwicklungsgesetze des gesellschaftlichen Bewußtseins erkennt, und dann behauptet, daß sich der Sozialismus als Bewegung auf »Interesse als sein vornehmstes Motiv« stütze, dann ist das offenkundig absurd. Eine Wissenschaft, die das gesellschaftliche Bewußtsein zum Produkt historischer Umstände erklärt, die auf eine gegebene Entwicklung der Produktivkräfte und entsprechende Produktionsverhältnisse zurückzuführen sind, kann nicht behaupten, nur noch von »Interesse als seinem vornehmsten Motiv« getrieben zu werden, sobald sie in das Gewand einer Massenbewegung schlüpft. Sie müßte dann sofort erklären, wenn sie sich selbst treu bliebe, worin denn die Ursprünge und die soziale Grundlage dieses »Interesses« bestehen.

Nun zu Bernsteins Behauptung, »kein Ismus ist eine Wissenschaft«. Dieses Diktum dürfte den Darwinismus in einige Verlegenheit bringen. Doch nehmen wir an, daß Bernstein sich einfach ungeschickt ausgedrückt hat – daß er argumentieren wollte, das durch einen »ismus« ausgedrückte Engagement vertrage sich nicht mit einer wissenschaftlichen Haltung. Auf dieses Argument kam Bernstein immer wieder zurück: Die Wissenschaft ist unvereinbar mit jeglicher Parteilichkeit. Wenn der Sozialismus ein Interesse daran hätte, zur reinen Wissenschaft zu werden, so Bernstein, dann müßte er darauf verzichten, eine Klassendoktrin zu sein, die die Klassenbestrebungen von Arbeitern vertrete. An diesem Punkt müßten sich die Wege von Sozialismus und Wissenschaft mit Notwendigkeit trennen. »Ich möchte meine Meinung unzweideutig zum Ausdruck bringen: die sozialistische Theorie ist nur insoweit eine Wissenschaft, wie ihre Aussagen für jeden objektiven, unvoreingenommenen Nichtsozialisten annehmbar sind.«19

Wenn das wahr wäre, dann dürfte nur der über die Wissenschaftlichkeit des Marxismus urteilen, dem das Schicksal der Menschheit vollkommen gleichgültig ist. Bernstein beharrte darauf, daß die »reine Wissenschaft« nicht mit »subjektiven Willenselementen« vereinbar sei. Die Praxis der Wissenschaft, erklärte er, könne nicht mit bestimmten menschlichen Zielen in Einklang gebracht werden.

Aber man kann ohne viel Nachdenken erkennen, daß das nicht stimmt. Die Wissenschaft wird durch Parteilichkeit oder Willen keineswegs außer Kraft gesetzt. Der Biologe, der den HIV-Virus studiert, dürfte an den Folgen von AIDS nicht uninteressiert sein. Der Chirurg wünscht – hoffentlich – das Leben des Patienten unter seinem Messer zu retten. Beide werden von bestimmten »subjektiven« Absichten getrieben: ersterer möchte den HIV-Virus besiegen, letzterer das Leben seines Patienten retten. Das heißt nicht, daß sie nicht zu einer wissenschaftlichen Haltung gegenüber ihrer Arbeit fähig wären.

Bernstein wurden bereits zu seinen Lebzeiten solche Einwände entgegengehalten. Bei einem Vortrag im Mai 1901, in dem er argumentierte, daß der Sozialismus nicht wissenschaftlich sein könne, weil er ein bestimmtes Ziel anstrebe, wurde er gefragt, ob er denn auch bestreiten würde, daß die Medizin eine Wissenschaft sei, weil sie ein bestimmtes Ziel, nämlich die Heilung verfolge. Bernstein antwortete mit Spitzfindigkeiten: Ich »hatte und habe zu erwidern, daß das Heilen die Aufgabe einer Kunst, der ausgeübten Medizin ist, die allerdings zur Voraussetzung gründliche Beherrschung der medizinischen Wissenschaft hat. Diese selbst aber hat nicht das Heilen, sondern die Erkenntnis der Bedingungen und Mittel des Heilens zur Aufgabe. Nimmt man diese begriffliche Unterscheidung als typisches Muster, so wird man auch bei komplizierteren Beispielen unschwer feststellen können, wo die Wissenschaft aufhört und die Kunst oder Doktrin beginnt.«20 Worauf Plechanow antwortete: »Der Sozialismus als Wissenschaft studiert die Mittel und Voraussetzungen der sozialistischen Revolution, während der Sozialismus als Doktrin oder als politische Kunst diese Revolution mit Hilfe des gewonnenen Wissens herbeizuführen sucht.«21

Bernstein faßte die Wissenschaft als eine bloße Auflistung von Fakten auf. Wissenschaftler waren für ihn wenig mehr als gelehrte Buchhalter, die diese Fakten sammeln, abwägen, sortieren und dann in die richtigen Schubladen einordnen. Eine solche Auffassung raubte der Wissenschaft nicht nur ihre schöpferischen Impulse und Funktionen, sondern war auch ahistorisch. Die Entwicklung der Wissenschaft hatte sich über die vorangegangenen 2500 Jahre hinweg vermittels des Kampfes verschiedener Tendenzen vollzogen – wobei sich die Auseinandersetzungen nicht nur um abstrakte Begriffe drehten, sondern sehr direkt mit materiellen Interessen zusammenhingen. Es scheint beinahe ein Gemeinplatz, wenn man darauf verweisen muß, daß die Wissenschaft, wie die Schicksale Brunos und Galileis zeigen, nicht selten auf den Widerstand jener Gesellschaftsklassen traf, die darin eine Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Stellung erblickten. Wenn Bernstein von »wissenschaftlicher Unparteilichkeit« sprach, dann ging er von einer ganz bestimmten Auffassung des Erkenntnisprozesses aus: einer Auffassung, bei der die Widerspiegelung der materiellen Welt im Denken der Menschen und die Anhäufung von Wissen ein im wesentlichen kontemplativer und passiver Prozeß ist. Das heißt, sein Materialismus war mechanischer, undialektischer Natur; zwischen dem Objekt der Erkenntnis und dem denkenden Subjekt klaffte ein Abgrund.

Nicht nur die wissenschaftliche Legitimität des Marxismus stellte Bernstein damit in Frage. Seine Auffassung der »reinen Wissenschaft« zog die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Studiums der Gesellschaft überhaupt in Zweifel. Im wesentlichen vertrat er die Auffassung, daß sich das wissenschaftliche Denken auf jene Gebiete beschränken müsse, in denen das erkennende menschliche Subjekt und das Objekt der Erkenntnis einander als völlig andersartige und getrennte Gebilde gegenübertreten. Vermutlich meinte er damit die naturwissenschaftlichen und theoretischen Wissenschaften. Die »reine Wissenschaft«, behauptete er, dürfe nicht durch die gegenseitige Durchdringung von Objekt und Subjekt im Erkenntnisprozeß beeinträchtigt werden. Jedes müsse streng an seinem Platz bleiben. Die Wissenschaft werde in dem Moment »verunreinigt« und büße somit ihren wissenschaftlichen Wert ein, in dem die absolute Grenze, die zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis bestehen bleiben müsse, verletzt würde.

Damit war praktisch per definitionem jedes wissenschaftliche Studium der menschlichen Gesellschaft, sei es durch Marxisten oder irgend jemanden sonst, technisch unmöglich geworden. Denn wenn Bernstein recht hatte, wie konnte es dann eine wirkliche Gesellschaftswissenschaft geben, da doch die menschlichen Beobachter und Forscher in diesem Falle immer einen Bestandteil des Organismus darstellen, den sie zu studieren bemüht sind.

Kautsky antwortete Bernstein auf dieses Argument, daß »jeder dort seinen bestimmten Platz hat, von dem aus allein er ihn betrachten kann, seine bestimmten Funktionen, seine Abhängigkeiten von anderen Teilen desselben Organismus, und daß die einzelnen Glieder des Organismus im Gegensatz zueinander stehen. Das ist sicher eine sehr erhebliche Schwierigkeit, aber wenn sie wirklich so groß wäre, daß sie jede Wissenschaft ausschlösse, dann schlösse sie nicht bloß den wissenschaftlichen Sozialismus, sondern jede wissenschaftliche Erforschung der Gesellschaft aus.«22

Sämtliche Argumente Bernsteins basieren auf dieser metaphysischen, platten und vulgären Formel: »Objektiv« sind jene Prozesse, die sich völlig unabhängig vom menschlichen Handeln und Willen vollziehen. Nichts, das erwünscht oder durch bewußt motiviertes Handeln herbeigeführt worden ist, kann wirklich als objektiv gelten. Das »Objektive« besteht nur gänzlich außerhalb der Menschheit mit ihrem Bewußtsein und setzt sich spontan durch. Alles menschliche Handeln ist, da es durch das Bewußtsein vermittelt wird, im wesentlichen subjektiv. Daher durfte laut Bernstein der Begriff »objektive Notwendigkeit« auf kein menschliches Handeln und Verhalten angewandt werden, das mehr als ein Instinktbewußtsein enthielt.

Von diesem Standpunkt her war der Klassenkampf nicht Ausdruck objektiver historischer Notwendigkeit, sondern lediglich ein Ergebnis des subjektiven menschlichen Willens, der sich dem objektiven Verlauf der Ereignisse aufdrängt. »Der Wunsch nach besseren Lebensbedingungen für eine bestimmte Gesellschaftsgruppe«, erklärte Bernstein, »kann niemals ›objektiv‹ sein. Man könnte sogar sagen, daß Erklärungen für wirtschaftliche Veränderungen niemals die Bezeichnung ›objektiv‹ verdienen, weil sie sich niemals ohne Vermittlung menschlicher Tätigkeit vollziehen.« Im Versuch, die Grenze zwischen Objektivem und Subjektivem im Bereich des menschlichen Verhaltens festzustellen, griff Bernstein auf folgendes Beispiel zurück: »Das allgemeine Bedürfnis nach Nahrung ist eine objektive Kraft, der Wunsch nach einer abwechslungsreichen Speisekarte jedoch ein subjektiver Faktor. Alles, was über die Lebensnotwendigkeiten hinaus der Verwirklichung einer Idee oder eines bewußten Zieles dient, basiert nicht auf objektiver Notwendigkeit.«23

Bernsteins Argumentation hält nicht einmal einer oberflächlichen Überprüfung statt. Er erzählt uns, das Bedürfnis nach Nahrung sei objektiv, der »Wunsch nach einer abwechslungsreichen Speisekarte« aber lediglich subjektiv. Er scheint nicht zu merken, daß ein bestimmter »Wunsch« der subjektive Ausdruck einer objektiv begründeten Notwendigkeit sein kann, oder, um es anders zu sagen, daß der subjektive Wunsch aufgrund einer Einsicht in die objektive Notwendigkeit entstehen kann. Das Bedürfnis nach Nahrung ist natürlich eine objektive Notwendigkeit. Aber wie ein Mensch auf Magenknurren reagiert, ist nicht ein roher subjektiver Impuls. Die Ernährungswissenschaft und der Begriff einer »ausgeglichenen Diät«, arm an gesättigten Fettsäuren, ist die Verfeinerung, Anpassung und Lenkung dieses subjektiven Impulses entsprechend einem wissenschaftlichen Verständnis der Bedürfnisse des menschlichen Organismus. Das Bewußtsein ist gerade die wesentliche Voraussetzung für den immer größeren Einklang von subjektivem Wunsch und objektivem Bedürfnis.

Bernstein geht nunmehr von der Kochkunst zur Politik über, wobei seine Argumentation nicht besser wird, und behauptet, daß der Sozialismus schon deshalb keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben könne, weil er etwas – in diesem Falle eine Form der sozialökonomischen Organisation – anstrebe, das nicht existiere. »Denn wie«, fragte Bernstein händeringend, »kann etwas, das wir anstreben, jemals rein wissenschaftlich sein?«24 Die Wissenschaft könne nur beobachten und kommentieren, was bereits existiere. »Weil der Kollektivismus als Wirtschaftssystem die Form eines Ideals annimmt«, erklärte Bernstein, »kann er nicht gleichzeitig als Wissenschaft gelten.«25

Bernstein bildete sich vielleicht ein, daß er mit seiner Behauptung, wonach die Bestrebungen des Menschen nicht in den Bereich der Wissenschaft fielen, nur den wissenschaftlichen Anspruch des Marxschen Sozialismus erschütterte. Doch in Wirklichkeit leugnete er damit die Möglichkeit jeder Wissenschaft überhaupt. Denn die wissenschaftliche Forschung ist ja gerade eine gesellschaftliche Tätigkeit, deren schöpferische Triebkraft in der subjektiven Reaktion des Menschen auf die objektiven Umstände liegt, die er vorfindet. Die Wissenschaft entsteht als Ausdruck dessen, daß sich der Mensch bewußt das aus der Natur aneignet, was er für sein Leben und seine Fortpflanzung braucht. Das wissenschaftliche Denken setzt gerade nicht die absolute Trennung von Subjekt und Objekt voraus, sondern die dialektische Beziehung von Mensch und Natur.

Hier können wir auf Marx zurückgreifen: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit... Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitspozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.«26

Die Wissenschaft beschränkt sich nicht, wie ein Buchhalter bei der Inventur, auf die Beschreibung der materiellen Welt, so wie sie außerhalb des menschlichen Bewußtseins und der menschlichen Tätigkeit existiert. Sie beschäftigt sich in der Tat mit dem, was es nicht gibt. Die Wissenschaft sucht in der objektiven Natur die Möglichkeiten zu entdecken, um die Träume des Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Der Mythos des Ikarus ist mehr als 2000 Jahre alt. Der Traum vom Fliegen schlug sich schließlich in den Zeichnungen Leonardos, im Luftgefährt der Gebrüder Wright und in jüngster Zeit im Space Shuttle nieder.

Genau wie die Einsicht des Menschen in die Gesetze der Natur ihm ermöglicht, die spontan gegebenen Umstände zu nutzen oder sogar zu ändern, so gibt die vom Marxismus erreichte wissenschaftliche Einsicht in die historischen Entwicklungsgesetze des Menschen diesem die Möglichkeit, das sozialökonomische Leben auf der Grundlage der bewußt verstandenen menschlichen Bedürfnisse zu organisieren. Bernstein, der die Möglichkeit einer solchen Einsicht generell bestritt, verfälschte den wesentlichen Unterschied zwischen dem Marxismus und den diversen Formen des ihm vorangegangenen utopischen sozialistischen Denkens. Zum »innersten Kern« des Marxismus erklärte er dessen »Theorie einer künftigen Gesellschaftsordnung«. Das war in zweierlei Hinsicht grundfalsch: Erstens besteht der »innerste Kern« des Marxismus nicht in einer Theorie der Zukunft oder selbst der Geschichte, sondern in einer materialistischen Weltanschauung, die von der Vorrangigkeit des Seins über das Bewußtseins ausgeht und sich auf die dialektische Methode basiert. Zweitens stellten Marx und Engels keine Theorie einer zukünftigen Gesellschaftsordnung auf. Sie lieferten vielmehr eine konsequent materialistische Erklärung der allgemeinen Gesetze der historischen Entwicklung und, gestützt darauf, des Charakters der kapitalistischen Produktionsweise. Im Gegensatz zum utopischen Sozialismus, der seine Vorstellung der zukünftigen Gesellschaft auf abstrakten Prinzipien aufbaute, enthüllte der Marxismus die historische Notwendigkeit und Möglichkeit des Sozialismus durch eine Analyse der Widersprüche der bestehenden Gesellschaft. Marx beabsichtigte nicht, ein neues Gesellschaftssystem zu entwerfen. Er »erfand« den Sozialismus nicht. Wie man weiß, versuchte Marx nicht, ein Modell einer künftigen Gesellschaftsordnung zu erstellen. In Marx’ Schriften wird man nichts finden, was mit den Phalanstères eines Fourier vergleichbar wäre. Marx wies nach, daß die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft unabhängig vom Willen der Sozialisten die Voraussetzungen für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel schuf, und daß die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, die objektiv auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse beruht, zu Krisen, Zusammenbrüchen und sozialen Revolutionen hinführen. Der Sozialismus ist, in anderen Worten, ein notwendiges (wenn auch nicht in formalem Sinne unvermeidliches) Ergebnis der sozialökonomischen Struktur der bestehenden Gesellschaft.

Der Empirismus Bernsteins

Selbst wenn man die Hohlheit der theoretischen Auffassungen Bernsteins erkannt hat, fragt man sich immer noch: wie konnte er so blind sein für die sozialen Widersprüche, die sich bereits zusammenbrauten und die europäische Zivilisation in eine Katastrophe stürzen sollten? Zumindest einen Teil der Antwort findet man vielleicht, wenn man dieselbe Frage unseren heutigen Zeitgenossen stellt. Weshalb sind so viele angeblich intelligente Menschen so völlig blind für die Widersprüche, die unsere eigene Zivilisation auf den Abgrund zutreiben? Weshalb hat der Zusammenbruch der »fünf asiatischen Tiger« so viele gut informierte Leute überrascht? Man sollte das Leben Eduard Bernsteins nicht als Vorbild, sondern als warnendes Beispiel auffassen. Gerade in unserer Epoche der beinahe universellen historischen Unwissenheit und politischen Blindheit kann man viel aus den Irrtümern eines Eduard Bernstein lernen, der trotz all seiner Mängel bei einem Vergleich mit den heute auf der Weltbühne agierenden politischen Figuren gar nicht schlecht abschneiden würde. Des weiteren wollen wir zu Bernsteins Verteidigung berücksichtigen, daß es im Jahr 1898, inmitten des Wohlstands und der Macht des europäischen Kapitalismus im späten 19. Jahrhundert, nicht leicht war, die Anzeichen für die bevorstehende Katastrophe zu erkennen. Dafür brauchte man nicht nur ein scharfes Auge, sondern auch das, was Marx einst »die Kraft der Abstraktion« genannt hatte.

Und gerade diese geistige Fähigkeit fehlte Bernstein. Als Empiriker wurde sein politischer Horizont von den »Tatsachen« abgesteckt, so wie er sie aus zufälligen Beobachtungen, aus der Zeitungslektüre oder aus ökonomischen Statistiken entnahm. Bernstein hielt sich aufrichtig für einen Mann der Wissenschaft, und sein Hauptvorwurf gegen Marx lautete, daß dessen Hegelianische Methodologie und revolutionäre Ziele ihm den objektiven Zugang zu den »Tatsachen« des sozialökonomischen Lebens verbaut hätten.

Bernstein stand unter der üblichen Illusion der Empiriker: daß die »Tatsachen« die elementaren, »reinen«, »wertfreien« und geistig sterilen Partikel der absolut objektiven Datenmenge seien, aus denen die organische Struktur der Wahrheit bestehe. Die Sammlung einer ausreichenden Anzahl von Partikeln dieser politisch neutralen Datenmenge würde dem Gesellschaftswissenschaftler ein wahrhaft objektives Bild der gesellschaftlichen Realität liefern, auf dessen Grundlage dann ein vernünftiger Handlungsweg eingeschlagen werden könne.

Der Empiriker leugnet oder verkennt den Umstand, daß die »Tatsachen« der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst Produkte der Geschichte sind, und daß die Art und Weise, wie Tatsachen isoliert und in einen begrifflichen Rahmen gestellt werden, selbst gesellschaftlich bedingt ist. Jede gesellschaftliche Tatsache ist das Kind historischer Umstände und existiert als Bestandteil eines komplexen sozialökonomischen Beziehungsgeflechts. Darüber hinaus werden diese »Tatsachen« nur unter dem Einsatz von Begriffen und Kategorien, die ihrerseits wieder Produkt und Widerspiegelung des historischen Prozesses sind, erkannt und überhaupt erst als solche identifiziert.

Der Empiriker, der behauptet, daß seine Auswahl und Betrachtung gesellschaftlicher Tatsachen gänzlich neutral sei, ist sich nicht über den historisch bedingten Charakter der Begriffe bewußt, mit denen er arbeitet; mit anderen Worten, er bezieht eine im wesentlichen unbewußte und unkritische Haltung gegenüber den Formen seines eigenen Denkens.

Die unkritische Haltung Bernsteins gegenüber seinen eigenen theoretischen Auffassungen zeigte sich am deutlichsten in seiner berühmten Aussage, daß das Endziel nichts sei, daß es ihm nur um das Hier und Jetzt gehe. Was bedeutete diese Einstellung? Wie die Tatsachen, so wurde auch die sozialistische Bewegung aus ihrem historischen Zusammenhang gerissen. Auf dieser Grundlage sollte die politische Tätigkeit ohne Rücksicht auf den historischen Prozeß festgelegt werden, deren Bestandteil sie war und von dem sie zur Rechenschaft gezogen wurde.

Der Empirismus Bernsteins brachte es mit sich, daß er die revolutionäre Perspektive gerade in dem Moment zurückwies, in dem die Widersprüche, dessen Existenz er bestritt, kurz vor dem Durchbruch auf die Ebene des wahrnehmbaren politischen Lebens standen. Es sind nicht immer die weisesten Eulen, die in der Dämmerung ausfliegen. Der Anschein der Stabilität ist oft gerade dann am größten, wenn einer gegebenen Gesellschaftsordnung der Sonnenuntergang kurz bevorsteht. Die empirischen Daten, die die Stärke des bestehenden Systems bezeugen, sprengen in quantitativer Hinsicht jedes Maß. Es scheint dem Empiriker müßig, weiterhin ein Gesellschaftssystem in Frage zu stellen, dessen Lebensfähigkeit von einer derart beeindruckenden Datenmenge gestützt wird. Doch diese Daten sind bereits überholt und stellen ohnehin nichts weiter als widersprüchliche Kennziffern einer Situation dar, die ihrer Natur nach noch nicht entschieden ist. Der politische Empiriker, der auf gegebenes Faktenmaterial zurückgreift, um seine Kapitulation vor der bestehenden Ordnung zu rechtfertigen, zwingt einem noch nicht abgeschlossenen Prozeß eine willkürliche Schlußfolgerung auf. Daher verwechselt er einen Moment des historischen Übergangs mit dem endgültigen Ausgang. Aus diesem Grund konnte Bernstein 1898 den herannahenden Schatten von 1914 nicht erkennen.

Anmerkungen

1 Manfred Steger, »The Quest for Evolutionary Socialism: Eduard Bernstein and Social Democracy«, Cambridge University Press, S. 14-15 - zurück

2 ebd. S. 15 - zurück

3 Peter Gay, »Das Dilemma des demokratischen Sozialismus«, Nürnberg 1954, S. 127 - zurück

4 Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Berlin 1989, Band II, S. 129 - zurück

5 ebd. S. 131 - zurück

6 »The Quest for Evolutionary Socialism...«, S. 69 - zurück

7 Vorwort zur »Kritik der politischen Ökonomie«, MEW Bd. 13 - zurück

8 »Die Voraussetzungen des Sozialismus«, rowohlts Klassiker, S. 150f - zurück

9 ebd. S. 157 - zurück

10 ebd. S. 153ff - zurück

11 ebd. S. 168 - zurück

12 ebd. S. 160 - zurück

13 aus dem Engl. - zurück

14 »Die Voraussetzungen des Sozialismus«, S. 175 - zurück

15 ebd. S. 174 - zurück

16 Eduard Bernstein, »Ein revisionistisches Sozialismusbild«, Hrsg. Helmut Hirsch, Berlin, Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 73 - zurück

17 ebd. S. 77 - zurück

18 ebd. S. 65 - zurück

19 M. Steger, »Selected Writings of Eduard Bernstein«, S. 116 - zurück

20 »Ein revisionistisches Sozialismusbild«, S. 76 - zurück

21 »Selected Philosophical Works«, Moskau 1967, Bd. III, S. 34 - zurück

22 »Neue Zeit« Jg. 19, Nr. 2, S. 357 - zurück

23 »Selected Writings«, op. cit., ebd. S. 36 - zurück

24 ebd. S. 106 - zurück

25 ebd. S. 108 - zurück

26 »Das Kapital«, Bd. 1, Werke Bd. 23, S. 192f - zurück