Der folgende Artikel ist der letzte Teil einer zweiteiligen Artikelserie. Der erste Teil erschien gestern.
Der atlantische Graben
Über den größten Teil der Nachkriegsperiode hinweg versuchten die europäischen Mächte ihre relative Schwäche gegenüber den Vereinigten Staaten zu überwinden, indem sie einen europäischen Binnenmarkt, eine gemeinsame Währung und einen Handelsblock schufen. Dieser Prozess wurde von Amerika weitgehend unterstützt, da man sich auf der anderen Seite des Atlantiks ein stabiles Westeuropa als Bollwerk gegen die Sowjetunion wünschte.
Trotz gewisser Streitereien waren die europäischen Mächte und Amerika während des Kalten Krieges durch ihre gemeinsame Feindschaft gegenüber der UdSSR in der Lage, ihre gegensätzlichen Interessen miteinander zu vereinbaren. Das nordatlantische Militärbündnis NATO - eine starke, bindende, unter Führung der Vereinigten Staaten stehende und imperialistische Länder vereinigende Militärorganisation - war ein wesentlicher Ausdruck dieser Entwicklung.
Doch obwohl die NATO als antisowjetische Allianz gegründet wurde, war sie nie so rege, wie seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991. In den darauf folgenden Jahren beteiligte sich die NATO aktiv an einer Reihe von militärischen Operationen, und mit ihrer Präsenz in Afghanistan ist sie inzwischen auch in Gebieten im Einsatz, die früher ganz klar nicht zu ihrem Aktionsradius zählten.
Die Auflösung der UdSSR führte zu einem Machtvakuum in der Region, die zuvor unter der Kontrolle der Kremlbürokratie gestanden hatte, und hieraus ergaben sich neue Aussichten für den Weltkapitalismus. Den großen westlichen Unternehmen und Banken wurde eine Goldgrube aufgetan, und gemeinsam mit den ehemaligen stalinistischen Eliten und kriminellen Elementen haben sie die Gebiete im vergangenen Jahrzehnt ausgeplündert. Gleichzeitig schuf die Liquidierung der Sowjetunion auch die Bedingungen für das Wiederaufleben innerimperialistischer Konflikte, die Nachkriegsinstitutionen wie die NATO einzudämmen versucht hatten.
In den neunziger Jahren vertrat die NATO die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen ihrer wichtigsten Mitglieder in den Regionen, die dem Imperialismus zuvor verschlossen gewesen waren - ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Bombardierung Serbiens im Jahre 1999. Aber die Positionen der NATO-Mächte drifteten in erster Linie aufgrund des wachsenden Unilateralismus und der Kriegstreiberei der Vereinigten Staaten zunehmend auseinander, wobei sich Washington auf der einen Seite und die schwächeren Mächte Frankreich und Deutschland auf der anderen Seite befinden.
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Machtkampf die Kontrolle über die enormen Öl- und Gasreserven, die sich im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien befinden. Im Jahre 1997 hatte Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, einen Artikel mit dem Titel "Eine Geostrategie für Asien" veröffentlicht, in dem er eines der wichtigsten Ziele der amerikanischen Außenpolitik in der derzeitigen Periode darlegte.
"Amerikas Herausbildung zur einzigen globalen Supermacht", schrieb Brzezinski, "verlangt nun nach einer einheitlichen und umfassenden Strategie für Eurasien". Diese Aufgabe beinhalte die Ausweitung einer "wohlwollenden amerikanischen Hegemonie" über die schwächeren europäischen Mächte, die die Dominanz der Vereinigten Staaten über den Kontinent stützen würden und im Gegenzug eine untergeordnete Rolle spielen dürften.
Die NATO würde beibehalten, so Brzezinski, und als bereits existierende Struktur des "politischen Einflusses und der militärischen Macht Amerikas auf dem eurasischen Festland" dienen. Sie müsse ausgeweitet werden und die ehemaligen stalinistischen Staaten umschließen, um somit die Stellung der Vereinigten Staaten zu stärken.
Brzezinski schlug ebenfalls vor, die NATO einzusetzen, um eine Ostexpansion der europäischen Mächte durch eine gleichzeitige Erweiterung der Allianz unter Kontrolle zu halten: "Ein erweitertes Europa und eine vergrößerte NATO werden den kurzfristigen und langfristigen Interessen der amerikanischen Politik dienen. Ein größeres Europa wird die Reichweite des amerikanischen Einflusses ausdehnen, ohne dass gleichzeitig ein Europa entsteht, das politisch so geeint ist, dass es die Vereinigten Staaten herausfordern könnte."
Diese Taktik - jede Ausweitung der europäischen Einheit zu unterlaufen, die dazu führen könnte, die Errichtung amerikanischer Hegemonie über Eurasien in Frage zu stellen - erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt vor dem Beginn des Irakkriegs mit der Spaltung zwischen dem "alten Europa" und dem "neuen Europa". Hinter Washington sammelten sich die vehementesten NATO-Befürworter unter den EU-Staaten, allen voran Großbritannien, mit einer Schar von proamerikanischen NATO- und EU-Beitrittkandidaten aus Zentral- und Osteuropa, die lautstark ihre Unterstützung für den Krieg kundtaten. Die Vereinigten Staaten waren in der Lage, ihren Einfluss auf dem Kontinent zu nutzen, um die französisch-deutschen Versuche zu vereiteln, den Interessen des europäischen Kapitals im Kampf um die Kontrolle über den Mittleren Osten Nachdruck zu verleihen.
Die NATO ist mehr als sie es im Kalten Krieg je war zu einem Instrument geworden, mit dem die Vereinigten Staaten aggressiv ihre Macht über Europa ausüben. Wie haben die kontinentaleuropäischen Mächte darauf reagiert?
Frankreich und Deutschland haben in beschränktem Maße versucht, die existierenden Strukturen der wirtschaftlichen Integration Europas um eine militärische Komponente zu erweitern. Sie erhoffen sich hierdurch die Interessen des in Europa ansässigen Kapitals aggressiver in den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten vertreten zu können. Es war vorgesehen, diese Aufrüstung unabhängig von den amerikanisch dominierten NATO-Strukturen durchzuführen, doch dies hat sich bereits als ein äußerst schwieriges Unterfangen erwiesen.
Der ehemalige französische Präsident Mitterrand und der frühere deutsche Kanzler Kohl versuchten vorsichtig eine europäische Verteidigungsorganisation aufzubauen. 1991 legte der Maastrichter Vertrag der EU den Grundstein für ein gemeinsames europäisches Verteidigungssystem. Seit dieser Zeit herrscht innerhalb der EU ein Kampf über die Einigung auf ein europäisches Militärprojekt, wobei sich Großbritannien wiederholt dafür eingesetzt hat, eine Abwendung von der NATO zu verhindern.
Nach dem Krieg gegen Serbien beklagten viele europäische Kommentatoren, dass die EU immer noch auf amerikanische Streitkräfte angewiesen sei, um Probleme in ihrem eigenen "Hinterhof" zu klären. Im Jahre 2000 schlugen die europäischen Verteidigungsminister die Einrichtung einer 60.000 Mann starken europäischen Schnellen Eingreiftruppe vor. Die EU-Mächte haben sich allerdings bis heute nicht auf die Rolle einigen können, die diese Truppe in Bezug zur NATO einnehmen soll.
Dieser Kampf wurde zuletzt über den Entwurf für eine Verfassung der Europäischen Union ausgespielt, mit der die existierenden wirtschaftlichen Strukturen der EU gefestigt sowie eine neue militärische Kommandostruktur und ein Sicherheitsapparat geschaffen werden sollen. Auf Grundlage dieses Dokuments sollen neue Institutionen der EU eingerichtet werden, die in der Lage sind außenpolitische Entscheidungen zu treffen, ein neuer europäischer Außenminister soll eingesetzt werden und ebenso vorgesehen ist eine "gemeinsame Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann".
Wieder einmal setzt Washington seine Alliierten in der Region ein, hier vor allem Großbritannien, um das europäische Militärprojekt frühzeitig zu verhindern. Teile der herrschenden Klasse Amerikas und Großbritanniens hoffen, Schritte sabotieren zu können, die eine europäische Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten fördern, und haben daher den britischen Premierminister Tony Blair gezwungen, ein Referendum über die EU-Verfassung durchzuführen. Selbst wenn die europäische Verfassung von allen EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert würde, werden die proamerikanischen Länder - allen voran Großbritannien, Kopf des "neuen Europas" - dafür sorgen, dass jede europäische Militärtruppe schwach bleibt, die der NATO Konkurrenz zu machen droht.
Wenn eine unabhängige europäische Militärmacht eingerichtet werden sollte, wird sie vermutlich von einem "Kern" von EU-Ländern getragen und hauptsächlich aus französischen und deutschen Streitkräften bestehen, ohne Beteiligung der engsten Verbündeten Washingtons. In jedem Fall werden die Vereinigten Staaten versuchen, ihre Rolle als wichtigste Macht in Europa und die der NATO als größter Militärstruktur des Kontinents sicherzustellen.
Anhaltende Abhängigkeit von Amerika
Daher liegt die EU-Militärpolitik mehr oder weniger in Scherben. Da die ambitionierten Pläne Frankreichs und Deutschlands, eine von der NATO unabhängige Militärstruktur zu etablieren, nicht von der Stelle kommen, haben sie sich dazu entschlossen, gemeinsam mit Großbritannien bis zum Jahre 2007 ein halbes Dutzend 1.500 Mann starke europäische "Kampfgruppen" einzurichten, die in Gegenden zum Einsatz kommen sollen, die außerhalb der Interessenzonen Amerikas und der NATO liegen, so z.B. in Afrika.
Neben Amerikas überwältigender militärischer Überlegenheit, mit der die Rivalen eingeschüchtert und umworben werden, gibt es zwei weitere wichtige Gründe, warum die europäischen Mächte nicht in der Lage sind, sich vom Rockzipfel der NATO zu lösen.
Erstens schaut das in Europa ansässige Kapital auf den amerikanischen Imperialismus in der Erwartung, dass er alle Gebiete der Welt aufbrechen und zur rücksichtslosen Ausplünderung freigeben wird. Dies zeigte sich in den neunziger Jahren im ehemaligen Jugoslawien, als sich die Europäer mit den Vereinigten Staaten zusammentaten, um das Land auseinander zu brechen, und schließlich Serbien in die Kapitulation bombardierten. Als George W. Bush den Beginn eines "Kriegs gegen den Terrorismus" verkündete - ein Euphemismus für neokoloniales Abenteurertum auf dem ganzen Planeten -, sprang jedes Land in Europa begeistert auf den Zug auf, weil sie alle begriffen, dass die Anschläge vom 11. September eine Gelegenheit geschaffen hatten, um im Schatten des amerikanischen Ansturms ihre eigenen Interessen aggressiv zu verfolgen.
Auch wenn die britische Bourgeoisie enger an den amerikanischen Militarismus gebunden ist, sind ihre deutschen und französischen Gegenspieler doch nicht abgeneigt herauszufinden, was beim Beutezug des amerikanischen Neokolonialismus für sie abfallen könnte. Im Oktober 2003, nur wenige Monate nachdem Chirac und Schröder die US-Invasion im Irak kritisiert hatten, unterzeichneten die beiden Länder eine UN-Resolution, mit der den Vereinigten Staaten als Besatzungsmacht die Kontrolle über den Irak übertragen wurde. Die Bourgeoisie in Frankreich und Deutschland ist weiterhin gespalten über die Aussicht, kurzfristig gewisse Vorteile aus der Besatzung des Irak zu ziehen, und die Einsicht, dass die Vereinigten Staaten ihre Hegemonie in direktem Gegensatz zu den europäischen Interessen ausbauen.
Der zweite Grund, warum sich die europäische Bourgeoisie weiterhin dem US-Imperialismus andient, liegt darin, dass sie sich selbst zu Hause mit einer höchst instabilen sozialen Situation konfrontiert sieht. Die antisoziale Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten, die gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist, hat in Verbindung mit den massiven Antikriegsstimmungen in der Bevölkerung eine Situation geschaffen, in der sich die europäische Elite gefährlich ausgeliefert fühlt. Nach dem Auftreten der weltweiten Antikriegsbewegung zu Beginn des Jahres 2003 wurden sich die europäischen Regierungen schlagartig bewusst, dass jede Konfrontation mit Amerika eine weitere Massenbewegung der Arbeiterklasse in Gang setzen und ihr eigenes Überleben gefährden könnte.
Zudem wäre ein Scheitern der US-Besatzung im Irak aufgrund einer rebellischen Bevölkerung auch eine Niederlage des Weltimperialismus und ein herber Rückschlag für die europäischen Ambitionen, schwächere Länder ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Im September 2003 gab Kanzler Schröder in einer Rede vor der UN-Generalversammlung der US-Besatzung im Irak seinen Segen und betonte, dass eine deutsche Unterstützung bei der Besatzung in Washingtons Interesse läge. "Neue Bedrohungen, die von keinem Staat in der Welt bezwungen werden können, verlangen mehr denn je nach internationaler Zusammenarbeit", sagte er, bevor er humanitäre, technische und ökonomische Hilfe und Unterstützung bei der Ausbildung von irakischen Polizisten und Offizieren anbot.
Präsident Chirac war ebenfalls über die Aussicht einer drohenden Rebellion der Bevölkerung gegen die Vereinigten Staaten im Irak besorgt. Auch er bot den Besatzern Hilfe an und erklärte, Frankreich wolle "sehr, dass die Amerikaner Erfolg haben".
Diese Haltung setzte sich in der UN-Debatte um die Einsetzung einer irakischen Übergangsregierung fort. Paris und Berlin boten den Vereinigten Staaten ihren Rat an, wie der Übergabe von "Souveränität" an das handverlesene Marionettenregime ein Hauch von Glaubwürdigkeit verliehen werden könnte. Nichtsdestotrotz werden die europäischen Mächte auch weiter nach Gelegenheiten Ausschau halten, um wann und wo immer möglich ihre eigenen Einflusssphären abzustecken. Unweigerlich werden hieraus Konflikte untereinander und mit ihrem großen Rivalen jenseits des Atlantiks entstehen.