Die Socialist Equality Party (USA) und die World Socialist Web Site veranstalteten vom 14. bis 20. August eine Sommerschule in Ann Arbor, Michigan. Der vorliegende Vortrag stammt von David North, dem Chefredakteur der WSWS.
Kann es eine Wissenschaft der geschichtlichen Entwicklung geben?
Kein anderer Bestandteil des Marxismus hat so viel Widerspruch hervorgerufen wie sein Anspruch, den Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt zu haben. Auf die eine oder andere Art finden seine Kritiker diese Behauptung inakzeptabel, unplausibel oder gar unmöglich. Ausgehend von der unbestreitbaren Tatsache, dass die durch den Marxismus entdeckten sozioökonomischen Entwicklungsgesetze nicht die Genauigkeit und Ausschließlichkeit physikalischer, chemischer oder mathematischer Gesetze aufweisen, bestreiten diese Kritiker, dass der Marxismus überhaupt als Wissenschaft betrachtet werden könne.
Trifft diese Kritik zu, dann ist keinerlei wissenschaftliche Theorie der Geschichte und gesellschaftlichen Entwicklung möglich - und zwar ganz einfach deswegen, weil die menschliche Gesellschaft von ihrer ureigensten Natur her nicht auf mathematische Formeln reduziert werden kann.
Doch ob der Marxismus eine Wissenschaft ist, hängt in hohem Maße davon ab, ob 1) die Gesetze, die er entdeckt zu haben behauptet, tatsächlich die objektiven Mechanismen sozioökonomischer Entwicklung enthüllen, 2) die Aufdeckung dieser Gesetze gegenwärtige historische Vorgänge angemessen erklären kann und 3) das Verständnis dieser Gesetze relevante Voraussagen über die zukünftige Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ermöglicht.
Zu den schärfsten Kritikern der bloßen Möglichkeit einer Gesellschaftswissenschaft, die bedeutungsvolle Voraussagen über die Zukunft machen könnte, gehörte der österreichisch-englische Philosoph Karl Popper. Er wandte sich gegen den - von ihm so genannten - "Historizismus" und verstand darunter "jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften, die annimmt, dass historische Voraussage deren Hauptziel bildet und dass sich dieses Ziel dadurch erreichen lässt, dass man die Rhythmen’ oder Pattern’, die Gesetze’ oder Trends’ entdeckt, die der geschichtlichern Entwicklung zugrunde liegen". Popper schrieb, er sei "überzeugt, dass solche historizistischen Methoden und Lehren letztlich an dem unbefriedigenden Zustand der theoretischen Sozialwissenschaften schuld sind". [1]
Popper behauptet gezeigt zu haben, dass historische Voraussagen unmöglich seien. Diesen Schluss begründet er mit den folgenden, miteinander verbundenen Axiomen:
"1. Der Ablauf der menschlichen Geschichte wird durch das Anwachsen des menschlichen Wissens stark beeinflusst.
2. Wir können mit rational-wissenschaftlichen Methoden das zukünftige Anwachsen unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht vorhersagen.
3. Daher können wir den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte nicht vorhersagen.
4. Das bedeutet, dass wir die Möglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft verneinen müssen, also die Möglichkeit einer historischen Sozialwissenschaft, die der theoretischen Physik oder der Astronomie des Sonnensystems entsprechen würde. Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Entwicklung als Grundlage historischer Prognosen ist unmöglich.
5. Das Hauptziel der historizistischen Methoden ist daher falsch gewählt und damit ist der Historizismus widerlegt." [2]
Poppers Kritik ist zutiefst idealistisch: Die Grundlage historischer Entwicklung bilden ihm zufolge Denken und Wissen, und da wir heute nicht wissen können, was wir in einer Woche, in einem Monat, einem Jahr oder noch ferner in der Zukunft wissen werden, sei jede historische Voraussage unmöglich.
Poppers idealistische Geschichtsauffassung ignoriert die Frage nach den historischen Ursprüngen von Denken und Wissen. Sein Versuch, die Grenzen unseres Wissens als absolute Barriere für eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung heranzuziehen, schlägt insofern fehl, als gezeigt werden kann, dass das Anwachsen des menschlichen Wissens selbst ein Produkt geschichtlicher Entwicklung ist und deren Gesetzen unterliegt. Die Grundlage der menschlichen Geschichte findet sich nicht im Anwachsen des Wissens, sondern in der Entwicklung der Arbeit, der wesentlichen und primären ontologischen Kategorie des gesellschaftlichen Seins. Ich meine das im Sinne von Engels: Dieser legte dar, dass die Entstehung der menschlichen Art, des menschlichen Gehirns und die Entwicklung der spezifisch menschlichen Formen des Bewusstseins das Ergebnis der Evolution der Arbeit sind.
Der Nachweis des ontologischen Primats der Arbeit bildet in Marx’ Werk die Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung. Sie liefert eine Erklärung für den Prozess gesellschaftlicher Veränderungen, der nicht vom Bewusstsein abhängt, wenngleich er natürlich nicht völlig unabhängig von diesem verläuft. Die Aufdeckung der Beziehung zwischen den Produktionsverhältnissen, welche die Menschen unabhängig von ihrem Bewusstsein eingehen, und den materiellen Produktivkräften hat über eine bedeutende historische Zeitspanne hinweg erwiesenermaßen ihre Gültigkeit behalten. Während dieser Zeitspanne ist, so können wir sicher annehmen, das Wissen der Menschheit gewachsen.
Was den entscheidenden Impuls für geschichtliche Veränderung gibt, ist nicht der Grad oder das Ausmaß des Wissens an sich, sondern das dialektische Verhältnis zwischen Produktivkräften und gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, die in der Einheit ihres Gegensatzes die ökonomische Grundlage der Gesellschaft ausmachen.
Um auf Popper zurückzukommen: Es ist nicht ganz klar, was er mit der Aussage meint, historische Voraussagen seien unmöglich, weil wir heute noch nicht wissen, was wir morgen wissen werden. Man kann dieses Axioms so interpretieren, dass irgend eine neue Erkenntnis das Dasein des Menschen so radikal verändern könnte, dass die Menschheit dadurch auf eine neue und zuvor ungeahnte Stufe ihrer sozialen Entwicklung gehoben wird, die alle Vorhersagen über den Haufen wirft.
Doch worin könnte diese Neuerung bestehen? Stellen wir uns etwas wirklich Spektakuläres vor: Die plötzliche Entdeckung einer Technologie, die die menschliche Produktivität über Nacht um den Faktor 1000 erhöht. Sogar in diesem außergewöhnlichen Fall würde jedoch der theoretische Rahmen des Marxismus intakt bleiben. Das bis dahin unvorstellbare Ansteigen der Macht der Produktivkräfte würde einen massiven Einfluss auf die bestehenden Eigentumsverhältnisse haben. Darüber hinaus würden Anwendung und Auswirkungen des Fortschritts in Wissenschaft und Technik, wie stets im Kapitalismus, von den Bedürfnissen und Interessen des kapitalistischen Marktes bestimmt.
Betrachten wir eine weitere mögliche Bedeutung von Poppers Axiom: Neue Erkenntnisse berauben den historischen Materialismus als Theorie der sozioökonomischen Entwicklung des Menschen seiner Gültigkeit. Wenn wir die Möglichkeit einräumen, dass der daraus folgende Wissensgewinn die Unangemessenheit des historischen Materialismus beweisen würde, dann schließt diese Annahme ein, dass eine neue Theorie an seine Stelle träte, eine Theorie, die eine tiefere Einsicht in das Wesen historischer Entwicklung ermöglichen würde. Wenn diese neue Theorie beweisen könnte, dass Marx’ Betonung der sozioökonomischen Grundlagen der Gesellschaft unangemessen oder falsch war, dann würde sie das tun, indem sie eine neue, zuvor unentdeckte Triebkraft historischer Entwicklung ans Licht fördert.
Mit anderen Worten, der Wissenszuwachs würde historische Voraussagen nicht unmöglich machen. Vielmehr würde er noch fundiertere, umfassendere und präzisere Voraussagen ermöglichen. Die Vermehrung des Wissens, die Popper zum Angelpunkt seiner Anklage gegen Marx macht, kann leicht gegen ihn selbst gewendet werden.
Im weiteren Verlauf seiner Argumentation muss Popper anerkennen, dass der "Historizismus" - d.h. Marxismus - "Trends oder Tendenzen" sozialer Veränderungen ausmacht, deren Existenz "kaum in Frage gestellt werden" kann. Aber, so stellt er fest, " Trends sind keine Gesetze ". Ein Gesetz sei zeitlos, universell gültig für alle Zeiten und unter allen Umständen. Trends oder Tendenzen dagegen können auch nachdem sie "Jahrhunderte und sogar Jahrtausende" angehalten habe, "sich innerhalb eines Jahrhunderts oder noch schneller ändern... Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Gesetze und Trends radikal voneinander unterscheiden. " [3]
Auf der Grundlage dieses Arguments könnte Popper anführen, dass die Einheit der Gegensätze von Produktivkräften und gesellschaftlichen Beziehungen lediglich ein Trend sei, auch wenn er seit Jahrtausenden menschlicher Geschichte besteht. Dasselbe könnte man vom Klassenkampf überhaupt sagen: Es kann ja sein, dass der Klassenkampf fünftausend Jahre lang eine Rolle in der Geschichte gespielt hat - in der Zukunft könnte das aber anders sein, und deshalb ist der Klassenkampf nur eine Tendenz.
Die Postulierung eines absoluten Unterschieds zwischen Gesetz und Trend entspricht einer metaphysischen Logik, die im Gegensatz zur komplexen gesellschaftlichen Realität steht. Die ungeheure Vielfalt gesellschaftlicher Erscheinungen, die auftreten, wenn Millionen Individuen bewusst ihr - reales oder eingebildetes - Interesse verfolgen, führt zu einer Situation, in der "die Gesetze in der Wirklichkeit nur als Tendenzen, die Notwendigkeiten nur im Gewirr von gegenwirkenden Kräften, nur in einem Vermitteltsein inmitten von unendlichen Zufällen sich durchsetzen können". [4]
Die Grundlage für Poppers Zurückweisung des Marxismus (die mit kleineren Variationen in weiten Kreisen geteilt wird) ist letztlich die Auffassung, dass es im Verhalten des Menschen einfach zu viele Faktoren, zu viele Interaktionen, zu viele unvorhersehbare Variabeln gibt. Wie kann man eine deterministische Sicht der menschlichen Gesellschaft in Einklang mit der unbestreitbaren gesellschaftlichen Tatsache bringen, dass ganz verrückte Dinge aus blauem Himmel heraus geschehen? Es gibt da draußen einfach zu viele Texas Book Depositories und Dealy Plazas [Schauplätze des tödlichen Attentats auf US-Präsident John F. Kennedy am 22. November 1963], als dass wir Voraussagen mit einer Genauigkeit machen könnten, wie sie eine echte Wissenschaft erfordert. Aus eben diesem Grunde haben, um die Worte von Sir Popper zu gebrauchen, "die Gesellschaftswissenschaften, wie es scheint, ihren Galileo noch immer nicht gefunden". [5]
Wir wollen die komplexe Problematik der Beziehung zwischen Zufall und Notwendigkeit einstweilen beiseite lassen; dennoch müssen wir festhalten, dass die Geschichtswissenschaft die Unmöglichkeit absoluter Voraussagen zukünftiger Ereignisse mit vielen anderen Wissenschaften teilt. Die Meteorologie ist eine Wissenschaft - trotzdem können die Meteorologen nicht die Genauigkeit ihrer Voraussagen für den morgigen Tag, geschweige denn für die nächste Woche garantieren. Obwohl sich ihre Vorhersagemöglichkeiten aller Wahrscheinlichkeit nach weiter verbessern werden, ist es doch unwahrscheinlich, dass jemals absolute Vorhersehbarkeit erreicht wird. Nichtsdestotrotz: Auch wenn uns die Meteorologen nicht sagen können, ob unser Gartenfest nächste Woche wie geplant unter wolkenlos blauem Himmel stattfinden kann, so spielt doch ihr Vermögen, die verschiedenen Wettermuster zu analysieren und klimatische Trends vorherzusehen, eine wichtige und unverzichtbare Rolle in unzähligen Aspekten des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Auch in Wissenschaften wie Biologie, Astronomie und Geologie stößt die Vorhersagekraft an ihre Grenzen. Der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg erklärt dazu:
"Ein Phänomen wie das Chaos kann auch in einem ganz einfachen System auftreten und unsere Bemühungen, die Zukunft des Systems vorauszusagen, zunichte machen. Ein chaotisches System ist ein solches, in dem nahezu identische Anfangsbedingungen nach einiger Zeit zu gänzlich verschiedenen Ergebnissen führen können. Dass in einfachen Systemen Chaos vorkommen kann, weiß man schon seit Anfang des Jahrhunderts; damals zeigte der Mathematiker und Physiker Henri Poincaré, dass auch in einem so einfachen System wie einem Sonnensystem mit nur zwei Planeten Chaos entstehen kann. Die dunklen Lücken in den Ringen des Saturn deutet man seit etlichen Jahren so, dass an diesen Stellen kreisende Teilchen aufgrund ihrer chaotischen Bewegung aus den Ringen herausgeschleudert wurden. Das Neue und Erregende an der Chaosforschung ist nicht, dass es Chaos gibt, sondern vielmehr, dass bestimmte Arten von Chaos einige beinahe universale Eigenschaften aufweisen, die man mathematisch analysieren kann.
Die Existenz von Chaos bedeutet nicht, dass das Verhalten eines Systems wie der Ringe des Saturns nicht vollständig durch die Gesetze der Bewegung und der Gravitation sowie seiner Anfangsbedingungen determiniert wäre, sondern nur, dass wir praktisch nicht berechnen können, wie sich einige Dinge (etwa die Teilchenbahnen in den dunklen Lücken in den Ringen des Saturn) entwickeln. Das Vorkommen von Chaos in einem System bedeutet, genauer gesagt, dass je nach der Genauigkeit, mit der wir die Anfangsbedingungen angeben, schließlich ein Zeitpunkt kommt, da wir jegliche Fähigkeit verlieren, das Verhalten des Systems vorherzusagen, aber dennoch gilt, dass es, gleichgültig, wie weit in die Zukunft hinein wir das Verhalten eines von den Newtonschen Gesetzen bestimmten physikalischen Systems vorhersagen möchten, einen Grad der Genauigkeit gibt, mit der die Messung der Anfangsbedingungen erfolgt, der es uns erlauben würde, diese Vorhersage zu machen. [...] Die Entdeckung des Chaos hat, anders gesagt, den physikalischen Determinismus aus der Zeit vor der Quantenmechanik nicht abgeschafft, aber sie hat uns genötigt, ein wenig genauer zu formulieren, was wir unter diesem Determinismus verstehen. Die Quantenmechanik ist nicht im gleichen Sinne deterministisch wie die Newtonsche Mechanik; Heisenbergs Unschärferelation schließt aus, dass wir gleichzeitig Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens präzise messen, und auch wenn wir alle Messungen vornehmen, die zu einer Zeit möglich sind, können wir über spätere Messungen doch nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Dennoch ist, wie wir sehen werden, auch in der Quantenmechanik das Verhalten eines physikalischen Systems in einem gewissen Sinne vollständig durch seine Anfangsbedingungen und die Naturgesetze determiniert." [6]
Der wissenschaftliche Charakter des Marxismus hängt nicht davon ab, ob er die morgige Schlagzeile der New York Times voraussagen kann. Wer derartige Voraussagen sucht, sollte sich an einen Astrologen wenden. Der Marxismus als analytische Methode und materialistische Weltsicht hat vielmehr Gesetze entdeckt, die sozioökonomische und politische Prozesse bestimmen. Das Wissen um diese Gesetze enthüllt Trends und Tendenzen, auf deren Grundlage stichhaltig historische "Voraussagen" getroffen werden können und die ein bewusstes Eingreifen erlauben, das ein vorteilhaftes Ergebnis für die Arbeiterklasse mit sich bringen kann.
Poppers Angriff auf die Legitimität des Marxismus, sein Abstreiten der Möglichkeit historischer Voraussage versagt an entscheidender Stelle: im Test der konkreten historischen Erfahrung. Die Entwicklung des historischen Materialismus markierte einen Sprung nach vorne im Verständnis der menschlichen Gesellschaft, einen Fortschritt wissenschaftlicher Gesellschaftstheorie, der dem sozialen Handeln des Menschen einen nie da gewesenen Grad an historischem Selbstbewusstsein verlieh, und dies zuerst und hauptsächlich auf dem Gebiet der Politik. In zuvor unerreichbarem Maße erlaubte die Aufdeckung sozioökonomischer Entwicklungsgesetze dem Menschen, sein eigenes Handeln in einen objektiven Zusammenhang historischer Kausalität zu stellen. An die Stelle von Prophezeiungen trat die wissenschaftliche politische Perspektive.
Von der Französischen Revolution zum Kommunistischen Manifest
Die Ereignisse von 1789 bis 1794 gaben der Entwicklung einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung zweifellos einen Anstoß. Eine Revolution, die unter dem Banner der Vernunft begonnen hatte, entwickelte sich in einer Weise, die niemand geplant oder vorausgesehen hatte. Der Kampf der politischen Gruppen nahm zunehmend blutige und brudermörderische Formen an, bis er schließlich im Terrorregime gipfelte. Dies alles schien sich mit einer Logik zu entfalten, deren Triebkraft ebenso verrückt wie unaufhaltbar war. Schließlich war das Ergebnis all der schrecklichen Kämpfe dieses revolutionären Zeitalters in keiner Weise eine Verwirklichung der Ideale, in deren Namen die Revolution geführt und für deren Verwirklichung so viel Blut vergossen worden war. Aus dem Kampf für "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" waren neue Unterdrückungsformen hervorgegangen.
In den Jahrzehnten nach der Revolution erkannten eine Reihe von Theoretikern - vor allem St. Simon, Thierry, Mignet und Guizot - dass die erschütternden Ereignisse der 1790er Jahre aus dem Kampf widerstreitender sozialer Kräfte erwachsen waren. St. Simon schrieb speziell über den Konflikt zwischen besitzenden und besitzlosen Klassen. 1820 legte Guizot folgende Definition der Kämpfe der 1790er Jahre vor: "Seit dreizehn Jahrhunderten beherbergte Frankreich zwei Völker, ein Siegervolk und ein Volk der Besiegten. Seit über 13 Jahrhunderten versuchen die Besiegten, das Joch ihrer Eroberer abzuschütteln. Unsere Geschichte ist die jenes Kampfes. In unserer Zeit ist es zur Entscheidungsschlacht gekommen: Ihr Name ist Revolution."[7]
Guizot schrieb als unerschrockener Anwalt des "Volkes" - d.h. des Dritten Standes - gegen die Aristokratie. Doch schon zu jener Zeit offenbarten Veränderungen im Gesellschaftsaufbau Frankreichs, bedingt durch die Entwicklung der kapitalistischen Industrie, dass das "Volk" durch tiefe innere Widersprüchen gespalten war. Obwohl sich die Industrie in Frankreich weit langsamer entwickelte als in England, waren doch Streiks so verbreitet, dass der Code Napoleon sie scharfen Gesetzen unterwarf.
Das Zerschlagen von Maschinen durch die so genannte Ludditen-Bewegung, in dem sich die Kämpfe der Arbeiterklasse anfangs äußerten, kam zuerst im England der 1770er Jahre auf. Die Ludditen-Bewegung wurde so bedrohlich, dass in den Jahren 1811/12 Truppen gegen die Aufständischen eingesetzt werden mussten und das britische Parlament 1812 die Todesstrafe für die Zerstörung von Maschinen verhängte. Die ersten belegten Vorfälle von Luddismus in Frankreich ereigneten sich im Jahr 1817 und setzten sich von da an über mehrere Jahrzehnte fort. Zu ähnlichen Vorfällen kam es in anderen europäischen Ländern und sogar den Vereinigten Staaten.
Weiterentwickelte Formen des Kampfes der Arbeiterklasse - wie z.B. Massenstreiks - häuften sich im Frankreich der 1830er und 1840er Jahre. Während dieser Periode tauchte in Frankreich zum ersten Mal das Wort "Sozialismus" auf. Nach dem Historiker G. D. H. Cole waren "die Sozialisten’ diejenigen, die im Gegensatz zu der damals vorherrschenden Betonung der Rechte des Individuums das soziale Element der menschlichen Beziehungen betonten. In der großen Debatte über die Rechte des Menschen, die von der Französischen Revolution und der sie begleitenden Revolution im wirtschaftlichen Bereich losgetreten worden war, versuchten sie die soziale Frage an oberster Stelle zu platzieren." [8]
Das erste große Werk über den französischen Sozialismus wurde im Jahre 1842 von dem Deutschen Lorenz von Stein geschrieben. Er definiert den Sozialismus als "die systematische Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit". [9]
Ich will hier keine Vorlesung über die Ursprünge und Geschichte des Sozialismus halten. Es geht mir vielmehr darum, auf die Veränderungen im sozialen und intellektuellen Leben hinzuweisen, unter denen Marx und Engels ihre außergewöhnliche Zusammenarbeit aufnahmen, die materialistische Geschichtsauffassung entwickelten und im Jahre 1847 das Kommunistische Manifest schrieben. Dabei möchte ich besonders betonen, dass ihr Werk in entwickelten theoretischen Begriffen das Aufkommen einer Spaltung in der allgemeinen demokratischen Bewegung des "Volkes" widerspiegelte und vorwegnahm, die neue Spaltung der Gesellschaft zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie.
Es gibt keine kraftvollere Widerlegung der Auffassung, historische Voraussagen seien generell unmöglich, als den Text des Kommunistischen Manifests, dieses ersten wahrhaft wissenschaftlichen und noch immer unübertroffenen Werkes zur historischen, sozioökonomischen und politischen Perspektive. Auf wenigen Seiten machen Marx und Engels den Klassenkampf als entscheidende Triebkraft der Geschichte aus, umreißen den ökonomischen und politischen Prozess, aus dem die moderne bürgerliche Gesellschaft entstand, und erklären die welthistorischen, revolutionären Implikationen der Entwicklung der von kapitalistischer Industrie und Finanzwesen.
"Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung’. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt. [...]
Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. [...]
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. [...] Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden.
An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur." [10]
Man muss wirklich der Versuchung widerstehen, weiter aus diesem epochalen Werk vorzulesen, mit dem sich nichts zuvor Geschriebenes messen kann.
Die Lehren von 1848
Das Manifest wurde am Vorabend der revolutionären Ausbrüche veröffentlicht, die im Jahre 1848 einen Großteil Europas erschütterten. Wie Marx später anmerkte, versuchten die politischen Hauptakteure im Drama dieses Jahres, insbesondere die kleinbürgerlichen Führer der demokratischen Bewegung, ihr eigenes Tun zu erklären und zu rechtfertigen, indem sie auf die Traditionen von 1793 verwiesen. Doch die ökonomische Struktur und das soziale Antlitz Europas hatten sich in dem halben Jahrhundert verändert, das vergangen war, seit Robespierre und seine Jakobiner ihren Kampf auf Leben und Tod gegen die feudale Reaktion geführt hatten.
Als die fortgeschrittenen Teile der Bourgeoisie noch dabei waren, der Entwicklung des Kapitalismus angepasste Herrschaftsformen herauszuarbeiten, veränderte das Aufkommen der Arbeiterklasse als bedeutende soziale Kraft gründlich das politische Gleichgewicht. Ungeachtet der scharfen Spannungen zwischen der aufstrebenden Bourgeoisie und der verbliebenen, in der feudalen Vergangenheit verwurzelten Aristokratie empfand die kapitalistische Elite die Unzufriedenheit und die Forderungen des jungen Proletariats als direktere und potenziell revolutionäre Bedrohung ihrer Interessen. In Frankreich reagierte die Bourgeoisie auf das Gespenst der sozialistischen Revolution, indem sie im Juni 1848 in Paris ein Massaker veranstaltete [11]. In Deutschland verabschiedete sich die Bourgeoisie von ihrem eigenen demokratischen Programm und schloss gegen den Willen des Volkes ein Abkommen mit der alten Aristokratie, das deren autokratische Herrschaft weitgehend unberührt ließ.
Das Kommunistische Manifest sagte den unüberbrückbaren Konflikt zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse voraus. Die Revolutionen von 1848 bestätigten diese Analyse von Marx und Engels. In ihren damaligen Schriften, in denen sie den Gang der Ereignisse in Frankreich, Deutschland und anderen Teilen Europas kommentierten, deckten Marx und Engels die sozioökonomische und politische Logik auf, die die Bourgeoisie ins Lager der Reaktion trieb und die Vertreter der demokratischen Mittelklasse vor der Offensive der aristokratischen und bourgeoisen Reaktion feige kapitulieren ließ. Es war die erste praktische Anwendung der historisch-materialistischen Methode.
Die Revolutionen von 1848 brachten keinen Robespierre, Danton oder Marat aus den Reihen des radikalen Kleinbürgertums oder gar der Bourgeoisie hervor. Die unrühmliche Rolle der demokratischen Vertreter des Bürgertums und Kleinbürgertums verstanden Marx und Engels als politischen Ausdruck der tief greifenden Veränderungen, die sich in den gesellschaftlichen Strukturen Westeuropas seit den Tagen des jakobinischen Terrors vollzogen hatten, der nunmehr ein halbes Jahrhundert zurücklag. Sie analysierten diese Veränderungen und zogen daraus weitreichende Schlüsse, die fünfzig Jahre später die Diskussionen über den Charakter der russischen Revolution beeinflussen sollten. In ihrer Analyse führten sie einen Ausdruck ein, "die Revolution in Permanenz", dessen Gebrauch sich durch das Zwanzigste Jahrhundert ziehen sollte - besonders in den Schriften Leo Trotzkis.
Im März 1850 legten Marx und Engels der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten einen Bericht vor, in dem sie die wichtigsten strategischen Lehren aus den revolutionären Kämpfen von 1848/49 zusammenfassten. Zu Beginn zeigten sie auf, dass die Bourgeoisie die Staatsmacht, die ihr durch die Aufstände von Arbeitern und Volksmassen in den Schoß gefallen war, gegen eben diese Kräfte einsetzte. Sie war sogar dazu bereit, die Macht mit den Repräsentanten der alten Autokratie zu teilen oder sie ihnen ganz zurückzugeben, um nur ihre Stellung gegen die drohende soziale Revolution von unten zu sichern.
Nachdem die Vertreter der Großbourgeoisie sich entschieden nach rechts gewandt hatten, warnten Marx und Engels die Arbeiterklasse, sie könne dasselbe von den Repräsentanten des demokratischen Kleinbürgertums erwarten. Sie betonten die grundlegenden Unterschiede in der gesellschaftlichen Stellung und den sozialen Interessen, die zwischen dem demokratischen Kleinbürgertum und der Arbeiterklasse existierten.
"Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird. [...]
Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen." [12]
Marx und Engels betonten, wie wichtig es für die Arbeiterklasse sei, sich ihre politische Unabhängigkeit von den Vertretern des demokratischen Kleinbürgertums zu erhalten, und dass sie sich nicht durch deren verführerische Rhetorik auf den falschen Weg bringen lassen dürfe:
"Im gegenwärtigen Augenblicke, wo die demokratischen Kleinbürger überall unterdrückt sind, predigen sie dem Proletariat im allgemeinen Einigung und Versöhnung, sie bieten ihm die Hand und streben nach der Herstellung einer großen Oppositionspartei, die alle Schattierungen in der demokratischen Partei umfasst, das heißt, sie streben danach, die Arbeiter in eine Parteiorganisation zu verwickeln, in der die allgemein sozial-demokratischen Phrasen vorherrschend sind, hinter welchen ihre besonderen Interessen sich verstecken und in der die bestimmten Forderungen des Proletariats um des liebe Friedens willen nicht vorgebracht werden dürfen. Eine solche Vereinigung würde allein zu ihrem Vorteile und ganz zum Nachteile des Proletariats ausfallen. Das Proletariat würde seine ganze selbständige, mühsam erkaufte Stellung verlieren und wieder zum Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie herabsinken. Diese Vereinigung muss also auf das entschiedenste zurückgewiesen werden." [13]
Noch heute, 155 Jahre danach, sind diese Worte von außerordentlicher politischer Bedeutung. Was ist die Demokratische Partei in den Vereinigten Staaten, was sind die Grünen anderes als das politische Mittel, um die Arbeiterklasse mit Unterstützung der liberalen und reformgesonnenen Mittelklasse den Interessen der kapitalistischen Elite unterzuordnen? Selbst in Hinblick auf die Wahltaktik der Arbeiterpartei zeigten Marx und Engels außergewöhnliche politische Voraussicht:
"Selbst da, wo gar keine Aussicht zu ihrer Durchführung vorhanden ist, müssen die Arbeiter ihre eigenen Kandidaten aufstellen, um ihre Selbständigkeit zu bewahren, ihre Kräfte zu zählen, ihre revolutionäre Stellung und Parteistandpunkte vor die Öffentlichkeit zu bringen. Sie dürfen sich hierbei nicht durch die Redensarten der Demokraten bestechen lassen, wie z.B., dadurch spalte man die demokratische Partei und gebe der Reaktion die Möglichkeit zum Siege. Bei allen solchen Phrasen kommt es schließlich darauf hinaus, dass das Proletariat geprellt werden soll." [14]
Marx und Engels schlossen ihren Bericht, indem sie betonten, die Arbeiter selbst müssten "das meiste zu ihrem endlichen Siege dadurch tun, dass sie sich über ihre Klasseninteressen aufklären, ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen, sich durch die heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen. Ihr Schlachtruf muss sein: Die Revolution in Permanenz." [15]
In diesem außergewöhnlichen Dokument sind die prinzipiellen strategischen und taktischen Fragen vorweggenommen, vor denen die internationale sozialistische Bewegung während des folgenden Jahrhunderts, ja bis hin zu unserer heutigen Zeit stehen sollte: Das Verhältnis zwischen Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Arbeiterklasse; die Einstellung der Arbeiterklasse zu den kleinbürgerlich-demokratischen Parteien; die Bedeutung des Kampfes für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse; der essentiell internationale Charakter der sozialistischen Revolution und das auf universelle Befreiung ausgerichtete Programm des Sozialismus, d.h. die Abschaffung aller Arten von Klassenunterdrückung.
Doch in einem noch tieferen Sinne markiert dieses Dokument ein neues Stadium in der Entwicklung der Menschheit. Wie durch das Auftreten des homo sapiens sapiens die Natur als Ganze das Bewusstsein von sich selbst erlangte, so erreichte mit dem Aufkommen des Marxismus die Menschheit ihr historisches Selbstbewusstsein, und das im tiefsten Sinne des Wortes. Die Gestaltung der Geschichte durch die Menschen, die bewusste Umgestaltung der eigenen gesellschaftlichen Existenzbedingungen, wird hiermit zu einer programmatischen Frage. Nun, da der Mensch wissenschaftliche Einsicht in die Gesetze seiner eigenen ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung gewonnen hat, ist er fähig, sich in Gedanken ein realistisches Bild der Zukunft auszumalen und vorherzusehen. Er kann nun sein eigenes Handeln an dieses Bild anpassen, je nach den Erfordernissen der objektiven Umstände, und diese Zukunft realisieren.
Der Marxismus und die "Russische Frage"
Man kann wohl sagen, dass es die russische sozialdemokratische Bewegung war, in welcher der Marxismus als Wissenschaft der historischen und politischen Perspektive zur höchsten Entfaltung kam. In keiner anderen Sektion der internationalen Arbeiterbewegung, Deutschland eingeschlossen, gab es solch beharrliche Anstrengungen, angemessene Formen der politischen Praxis aus der detaillierten Analyse der sozioökonomischen Bedingungen herzuleiten. Dies erklärt sich vielleicht aus der Tatsache, dass Russland wegen seiner Rückständigkeit zumindest im Vergleich zu Westeuropa für den Marxismus eine außergewöhnliche Herausforderung darstellte.
Als der Marxismus anfänglich die Aufmerksamkeit der radikalen demokratischen Intelligenz Russlands auf sich zog, existierte in diesem Land keine einzige der objektiven sozioökonomischen Bedingungen, die man als Voraussetzung für die Entwicklung einer sozialistischen Bewegung ansah. Die kapitalistische Entwicklung war noch in den Anfängen. Es gab nur wenig Industrie. Das russische Proletariat hatte kaum begonnen, als eigene soziale Klasse aufzutreten, und die einheimische Bourgeoisie war politisch form- und kraftlos.
Welche Bedeutung sollte der Marxismus als Bewegung des städtischen Proletariats für die politische Entwicklung Russlands haben? In seinem "Offenen Brief an Engels" argumentierte der Populist Pjotr Tkatschow, der Marxismus habe in Russland keine Relevanz, hier könne der Sozialismus niemals durch die Anstrengungen der Arbeiterklasse erreicht werden, und wenn es eine Revolution geben würde, dann auf der Basis von Bauernaufständen. Er schrieb:
"Sie müssen wissen, dass wir in Russland uns nicht eines einzigen der revolutionären Kampfmittel bedienen können, die Ihnen im Westen allgemein und besonders in Deutschland zur Verfügung stehen. Wir haben kein städtisches Proletariat, keine Pressefreiheit, keine repräsentative Versammlung, nichts würde uns erlauben, bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage auf die Vereinigung der unterdrückten und ignoranten Volksmassen zu einer einzigen, organisierten und disziplinierten Arbeiterassoziation zu hoffen." [16]
Die Widerlegung solcher Argumente zwang die russischen Marxisten zu einer erschöpfenden Analyse dessen, was damals oft als "unsere schreckliche russische Wirklichkeit" bezeichnet wurde. Die fast endlose Debatte über "Perspektiven" behandelte so wesentliche Fragen wie: 1) Gab es in Russland objektive Bedingungen für den Aufbau einer sozialistischen Partei? 2) Angenommen, diese Bedingungen existierten - auf welche Klasse sollte sich eine solche Partei bei ihren revolutionären Bemühungen stützen? 3) Welchen Klassencharakter würde, in objektiven soziökonomischen Begriffen gesprochen, die kommende Revolution in Russland haben: bürgerlich-demokratisch oder sozialistisch? 4) Welche Klasse würde im Kampf der Volksmassen gegen die zaristische Autokratie die politische Führung übernehmen können? 5) Welches Verhältnis würden im Verlauf des revolutionären Kampfes gegen den Zarismus die wichtigsten Klassen und Gegner der Autokratie - Bourgeoisie, Bauernschaft und Arbeiterklasse - zueinander haben? 6) Was würde das politische Ergebnis der Revolution sein, welche und Staats- und Regierungsform würde aus ihr hervorgehen?
Plechanow beschäftigte sich in den 1880er Jahren als Erster systematisch mit diesen Fragen und gab damit der sozialdemokratischen Bewegung Russlands eine programmatische Grundlage. Mit der ihm eigenen Nachdrücklichkeit antwortete er, die kommende Revolution in Russland werde einen bürgerlich-demokratischen Charakter haben. Die Aufgabe dieser Revolution sei der Sturz des zaristischen Regimes, die Befreiung Russlands von seinem feudalen Erbe in Staat und Gesellschaft, die Demokratisierung des politischen Lebens und die Schaffung bestmöglicher Bedingungen für die Entwicklung einer modernen kapitalistischen Wirtschaft.
Das politische Ergebnis der Revolution könne nur die Herrschaft des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus sein, ähnlich dem, der in den fortgeschrittenen bürgerlichen Saaten Westeuropas herrschte. Die politische Macht in diesem Staat würde in den Händen der Bourgeoisie liegen. Angesichts der ökonomischen Rückständigkeit Russlands, dessen überwältigende Bevölkerungsmehrheit aus Analphabeten bestand, die als Bauern das weit ausgedehnte Land bewohnten, könne vom sofortigen Übergang zum Sozialismus keine Rede sein. In Russland bestünden ganz einfach nicht die notwendigen Vorbedingungen für solch einen radikalen Wandel.
Die Aufgabe der Arbeiterklasse lag demnach darin, als militanteste soziale Kraft innerhalb des demokratischen Lagers den Kampf gegen die zaristische Autokratie anzuführen. Dabei sollte sie die objektiven, bürgerlich-demokratischen Grenzen, die der Revolution durch Russlands sozioökonomischen Entwicklungsstand gesetzt seien, anerkennen und akzeptieren. Dies zog unweigerlich eine Art politischer Allianz mit der liberalen Bourgeoisie im Kampf gegen den Zarismus nach sich. Die Sozialdemokratische Partei sollte zwar ihre politische Unabhängigkeit bewahren, aber nicht die ihr von der Geschichte vorgeschriebene Rolle als Oppositionskraft innerhalb einer bürgerlichen Demokratie überschreiten. Sie würde versuchen, das bürgerliche Regime so weit wie möglich zur Erfüllung eines fortschrittlichen Programms zu bewegen, ohne dabei jedoch den kapitalistischen Charakter der Wirtschaft und die Aufrechterhaltung des bürgerlichen Eigentums in Frage zu stellen.
Plechanows Programm enthielt keine ausdrückliche Absage an sozialistische Ziele. Der "Vater des russischen Marxismus" hätte vehement bestritten, dass aus seinem Programm solche Schlüsse gezogen werden könnten. Vielmehr wurden diese Ziele in eine ferne Zukunft verschoben, um damit dem bestehenden sozioökonomischen Entwicklungsstand Russlands Rechnung zu tragen. Während sich Russland schrittweise auf kapitalistischem Wege weiterbewegen würde, in Richtung eines ökonomischen Reifegrades, der den Übergang zum Sozialismus ermöglicht, sollte die sozialdemokratische Bewegung die Möglichkeiten nutzen, die ihr der bürgerliche Parlamentarismus eröffnen würde, um weiterhin die Arbeiterklasse politisch zu erziehen und sie auf die schließliche - wenn auch ferne - Machteroberung vorzubereiten.
Kurz zusammengefasst: Plechanow entwickelte eine "Zweistufentheorie" der Revolution in vollendeter Form. In einem ersten Schritt sollte demnach die bürgerlich-demokratische Revolution und die Festigung kapitalistischer Herrschaft stattfinden. In einem zweiten Schritt, nach einer mehr oder weniger ausgedehnten Periode wirtschaftlicher und politischer Entwicklung, würde die Arbeiterklasse die zweite, sozialistische Stufe der Revolution durchführen - nach Abschluss ihrer notwendigerweise lang andauernden politischen Lehrzeit.
Nahezu zwei Jahrzehnte lang bildete Plechanows Analyse der Triebkräfte und des sozialen, ökonomischen und politischen Charakters der kommenden Revolution die programmatische Grundlage, auf der die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands aufgebaut wurde. Doch um die Wende zum 20. Jahrhundert, spätestens mit dem Ausbruch der Revolution im Januar 1905, begannen die Schwächen von Plechanows Theorie hervorzutreten. Das geschichtliche Rahmenwerk, dessen er sich bedient hatte, war in bedeutenden Teilen aus den revolutionären Erfahrungen Westeuropas abgeleitet, beginnend mit der französischen Revolution von 1789-1794. Die Zweistufentheorie der Revolution nahm an, die Entwicklung in Russland würde sich entlang der Linien dieses alten, vertrauten Musters bewegen. Die bürgerliche Revolution in Russland würde, wie in Frankreich, die Bourgeoisie an die Macht bringen. Kein anderes Ergebnis war denkbar.
Ungeachtet seiner oftmals brillanten Kommentare zur Dialektik - die Plechanow als abstraktes logisches Modell sehr gut zu erklären verstand - gab es ein deutliches Element formaler Logik in seiner Analyse der russischen Revolution. Wie A=A ist, so war ihm eine bürgerliche Revolution gleich einer anderen bürgerlichen Revolution. Plechanow übersah, wie tief greifende Unterschiede in der gesellschaftlichen Struktur Russlands - von Europa und der Welt ganz zu schweigen - diese politische Gleichung und die sich daraus ergebenden politischen Berechnungen beeinflussten. Es stellte sich die Frage, ob eine bürgerliche Revolution im 20. Jahrhundert identisch wäre mit einer im 18. Jahrhundert oder auch nur Mitte des 19. Jahrhunderts. Dazu musste die Kategorie Bürgerliche Revolution nicht nur vom Standpunkt ihrer äußeren politischen Form, sondern vom breiteren und tieferen Standpunkt ihres sozioökonomischen Inhalts untersucht werden.
Lenin und die "Demokratische Diktatur"
Dieses Schwachpunkts nahm sich Lenin in seiner Analyse der russischen Revolution an. Was, so fragte er, waren die historischen Aufgaben der großen bürgerlichen Revolutionen gewesen? Anders gefragt, welche entscheidenden Probleme der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklung waren durch die bürgerlichen Revolutionen früherer geschichtlicher Perioden angegangen worden?
Die wichtigsten Aufgaben dieser Revolutionen waren die Liquidierung der verbliebenen feudalen Beziehungen auf dem Land und die Verwirklichung der nationalen Einheit. In Russland war das erst genannte Problem das dringendste. Die Durchführung einer bürgerlich-demokratischen Revolution würde ein massives Aufbegehren der Bauern gegen die alten Großgrundbesitzer mit sich bringen, gefolgt von der Enteignung und Nationalisierung ihrer gewaltigen Ländereien.
Derartige Maßnahmen jedoch würden nicht die Unterstützung der russischen Bourgeoisie finden, die als besitzende Klasse keine Enteignungen in irgendeiner Form begrüßen oder gar ermutigen würde. Obwohl die Nationalisierung des Landes in ökonomischer Hinsicht eine bürgerliche Maßnahme war, die auf lange Sicht die Entwicklung des Kapitalismus erleichtern würde, war die Bourgeoisie zu eng mit der Verteidigung des Eigentums verbunden, um solch eine Maßnahme zu unterstützen. Mit anderen Worten: Bei der Durchführung der bürgerlichen Revolution konnte man sich nicht auf die Bourgeoisie verlassen. In Russland würde daher die bürgerliche Revolution des 20. Jahrhunderts eine soziale Dynamik besitzen und eine politische Form annehmen, die sich grundlegend von denen früherer bürgerlicher Revolutionen unterschied. Die Aufgaben der bürgerlichen und demokratischen Revolution konnten nur durch ein Bündnis zwischen der russischen Arbeiterklasse und den besitzlosen, verarmten Bauernmassen gelöst werden, die auf eine entschlossene, konterrevolutionäre Allianz von zaristischer Autokratie und Großbürgertum stoßen würden.
Es blieb die Frage nach der politischen Form der Staatsmacht, die aus dieser großen Arbeiter- und Bauernerhebung hervorgehen würde. Lenin vollzog einen klaren Bruch mit Plechanows Perspektive eines mehr oder weniger konventionellen, bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus und propagierte ein neues und völlig anderes Ergebnis des Sturzes der Autokratie: Eine demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.
Mit dieser Formel zielte Lenin auf eine radikal demokratische Regierung ab, die sich aus einem Bündnis der russischen Sozialdemokratie mit den radikalsten politischen Vertretern der Bauernschaft bilden würde. Dennoch verneinte er ausdrücklich, dass ein derartiges revolutionär-demokratisches Regime den Versuch unternehmen würde, Maßnahmen sozialistischen Charakters zu ergreifen. Im März 1905 schrieb er:
"Wollte sich die Sozialdemokratie sofort die sozialistische Umwälzung zum Ziel setzen, so würde sie sich in der Tat nur blamieren. Gerade gegen solche verworrenen und unklaren Ideen unserer Sozialrevolutionäre’ hat jedoch die Sozialdemokratie stets gekämpft. Gerade deshalb betont sie stets den bürgerlichen Charakter der in Russland bevorstehenden Revolution, gerade deshalb fordert sie die strenge Trennung des demokratischen Minimalprogramms vom sozialistischen Maximalprogramm. Einzelne Sozialdemokraten, die dazu neigen, vor der Spontaneität zu kapitulieren, mögen all das während der Umwälzung vergessen, nicht aber die Partei als Ganzes. Die Anhänger dieser irrigen Meinung verfallen in eine Anbetung der Spontaneität, wenn sie glauben, der Gang der Dinge werde die Sozialdemokratie zwingen, in einer solchen Lage gegen ihren Willen an die Durchführung der sozialistischen Umwälzung zu gehen. Wäre dem so, dann wäre also unser Programm falsch, dann würde es dem Gang der Dinge’ nicht entsprechen: gerade das befürchten die Anbeter der Spontaneität, sie fürchten für die Richtigkeit unseres Programms. Aber ihre Furcht [...] ist in höchstem Grade unbegründet. Unser Programm ist richtig. Gerade der Gang der Dinge wird es unbedingt bestätigen, und je weiter, je mehr. Gerade der Gang der Dinge wird uns die unbedingte Notwendigkeit eines erbitterten Kampfes um die Republik aufdrängen’, gerade er wird praktisch unsere Kräfte, die Kräfte des politisch aktiven Proletariats, in diese Richtung lenken. Gerade der Gang der Dinge wird uns bei der demokratischen Umwälzung unvermeidlich eine solche Menge von Verbündeten aus dem Kleinbürgertum und der Bauernschaft aufdrängen, deren reale Bedürfnisse die Durchführung des Minimalprogramms erfordern werden, dass die Befürchtungen eines allzu raschen Übergangs zum Maximalprogramm geradezu lächerlich sind." [17]
Trotzki und die Permanente Revolution
Gegen Ende des Jahres 1904, am Vorabend der revolutionären Erhebungen, die wenig später das Land erschüttern sollten, entwarf der 25-jährige Leo Trotzki eine verblüffend originelle Analyse der sozioökonomischen und politischen Dynamik des antizaristischen Kampfes in Russland. Bei der Ausarbeitung von Perspektiven für Russland lehnte er jede formalistische Herangehensweise ab. Die demokratische Revolution im Russland des frühen 20. Jahrhunderts konnte nach Trotzki nicht einfach die Formen nachahmen, die antiautokratische Revolutionen fünfzig oder gar hundert Jahre zuvor angenommen hatten. Vor allem war die Entwicklung des Kapitalismus in Europa und weltweit auf einem unvergleichlich höheren Stand als in den vorangegangenen historischen Perioden. Sogar der russische Kapitalismus, der im Vergleich zu den fortgeschrittensten europäischen Staaten ökonomisch hinterherhinkte, zeichnete sich durch eine kapitalistische Industrie aus, die im Vergleich zu der des 19. oder gar 18. Jahrhunderts unendlich viel höher entwickelt war.
Die Entwicklung der russischen Industrie, die durch französisches, englisches und deutsches Kapital finanziert wurde, konzentrierte sich in hohem Maße auf einige Schlüsselindustrien in wenigen Großstädten. Die dadurch entstandene Arbeiterklasse spielte, wenngleich sie nur einen geringen prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachte, eine immense Rolle in dessen Wirtschaftsleben. Darüber hinaus hatte die russische Arbeiterbewegung seit Mitte der 1890er Jahre einen äußerst militanten Charakter angenommen, ein hohes Maß an Klassenbewusstsein entwickelt und spielte mittlerweile eine weitaus gewichtigere und beständigere Rolle im Kampf gegen die zaristische Autokratie.
Gegen Plechanows Zweistufentheorie wie auch Lenins Annahme einer demokratischen Diktatur wandte Trotzki ein, dass beide Konzepte der Arbeiterklasse eine Selbstbeschränkung auferlegten, die sich im tatsächlichen Verlauf der Revolution als völlig unrealistisch erweisen würde. Die Annahme, das bürgerliche und das sozialistisches Stadium der Revolution seien vollständig voneinander getrennt und die Arbeiterklasse werde, nachdem sie den Zaren gestürzt habe, ihre sozialen Kämpfe auf das innerhalb des kapitalistischen Systems Akzeptable beschränken, war höchst fragwürdig. Bei ihrem Versuch, die Errungenschaften der demokratischen Revolution zu verteidigen, sie weiter auszubauen und ihre eigenen sozialen Interessen zu verfolgen, würde die Arbeiterklasse unweigerlich in Konflikt mit den Interessen der Unternehmer und dem kapitalistischen System als Ganzem kommen. Wenn eine solcher Fall einträte, beispielsweise ein erbitterter Streik von Arbeitern gegen einen reaktionären und unnachgiebigen Kapitalisten - welche Haltung würden die in der "Demokratischen Diktatur" mit verantwortungsvollen Posten betrauten Abgeordneten oder Minister der Arbeiterklasse einnehmen? Würden sie sich auf die Seite der Unternehmer stellen, den Arbeitern sagen, ihre Forderungen gingen über das hinaus, was im kapitalistischen Rahmen zulässig sei, und sie anweisen, ihren Kampf zu beenden?
Der Standpunkt Plechanows und - nach der Spaltung in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) im Jahr 1903 - der Menschewiki war, dass die Sozialisten dieses politische Dilemma vermeiden würden, indem sie die Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung nach dem Sturz des Zaren verweigern. Die Perspektive ihrer Zweistufentheorie erforderte prinzipiell politische Enthaltsamkeit.
Dies lief darauf hinaus, aus Gründen historischer und politischer Notwendigkeit alle politische Macht der Bourgeoisie zu überlassen. Abgesehen davon, dass er schematisch und formalistisch war, ignorierte dieser Standpunkt den politischen Umstand, dass die politischen Schlussfolgerungen aus der Zweistufentheorie aller Wahrscheinlichkeit nach zum Scheitern der demokratischen Revolution selbst führen würden. Angesichts des feigen Charakters der russischen Bourgeoisie, ihrer krankhaften Angst vor der Arbeiterklasse sowie ihrer zwiespältigen, kapitulationsbereiten Haltung gegenüber dem Zarismus bestand Trotzki zufolge kein Grund zu der Annahme, dass sich die russischen Liberalen gegenüber der Revolution weniger verräterisch verhalten würden als die deutsche Bourgeoisie in den Jahren 1848/49.
Was die Formel Lenins anbelangte, so sah diese eine revolutionäre Diktatur vor, in der sich die Sozialisten die Macht mit den Vertretern der Bauernschaft teilen würden. Doch sie zeigte weder auf, welche Klasse in diesem Verhältnis die führende Rolle spielen, noch wie man mit den inneren Spannungen umgehen würde, die angesichts der sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse und der bürgerlich-kapitalistischen Beschränkungen der demokratischen Diktatur aufkommen mussten. Trotzki beharrte darauf, dass sich auf kapitalistischer Grundlage und innerhalb des Rahmens der von Lenin vorgeschlagenen demokratischen Diktatur kein Ausweg aus diesem Dilemma finden ließe.
Ein tragfähiges politisches Programm für die Arbeiterklasse musste davon ausgehen, dass die soziale und politische Dynamik der russischen Revolution unumgänglich zur Machteroberung durch die Arbeiterklasse führt, dass die demokratische Revolution in Russland - und allgemein in Ländern mit verspäteter bürgerlicher Entwicklung - nur dann vollendet, verteidigt und gefestigt werden kann, wenn die Arbeiterklasse mit Unterstützung der Bauernschaft die Staatsmacht übernimmt. In einer solchen Situation würden schwere Eingriffe in das bürgerliche Eigentum unvermeidlich sein: Die demokratische Revolution würde zunehmend einen sozialistischen Charakter annehmen.
Es lässt sich, vor allem hundert Jahre später, nur schwer ermessen, welch einen Eindruck Trotzkis Argumente auf russische und auch europäische Sozialisten machte. Seine Argumentation, dass die Arbeiterklasse im rückständigen Russland die Eroberung der politischen Macht ansteuern sollte und dass die kommende Revolution einen sozialistischen Charakter annehmen würde, schien allem zuwider zu laufen, was Marxisten als objektive ökonomische Voraussetzungen für den Sozialismus betrachtet hatten. Das wirtschaftlich fortgeschrittene Großbritannien mochte reif für den Sozialismus sein (auch wenn seine Arbeiterklasse in Europa zu den konservativsten zählte). Frankreich oder Deutschland vielleicht. Aber das rückständige Russland? Unmöglich! Ein Irrsinn!
Trotzkis Vorwegnahme einer sozialistischen Revolution in Russland war sicherlich ein intellektueller Kraftakt. Aber noch außergewöhnlicher war das theoretische Verständnis, mit dem er den Einwand gegen eine Machteroberung durch die Arbeiterklasse und gegen eine sozialistische anstatt bürgerlich-demokratische Entwicklung der Revolution widerlegte, der bisher allgemein als unbestreitbar gegolten hatte, nämlich das Fehlen der ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus in Russland.
Dieser Einwand war nicht zu entkräften, solange man die Aussichten für den Sozialismus in Russland lediglich innerhalb des Rahmens der nationalen Entwicklung dieses Landes betrachtete. Dass die nationale Entwicklung der russischen Wirtschaft keinen für den Aufbau des Sozialismus erforderlichen Stand erreicht hatte, war nicht zu bestreiten. Doch was, wenn man Russland nicht einfach als nationale Einheit, sondern als integralen Teil der Weltwirtschaft ansah? Und in der Tat konnte die russische Entwicklung insofern, als das Anwachsen des russischen Kapitalismus vom Zufluss internationalen Kapitals abhängig war, nur als Ausdruck eines komplexen und einheitlichen Weltprozesses verstanden werden.
Als sich die Russische Revolution 1905 entwickelte, erklärte Trotzki, der Kapitalismus habe "die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt. [...] Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat." [18]
Lasst mich zitieren, was ich bereits vor einigen Jahren zu Trotzkis Analyse der Triebkräfte der russischen und internationalen Revolution geschrieben hatte:
"Trotzkis Herangehensweise stellte einen erstaunlichen theoretischen Durchbruch dar. Genau wie Einsteins Relativitätstheorie - ein weiteres Geschenk des Jahres 1905 an die Menschheit - den Begriffsrahmen für die Sicht des Universums grundlegend und unwiderruflich änderte und Probleme lösbar machte, auf die es in der Zwangsjacke der klassischen Newtonschen Physik keine Antworten gegeben hatte, so führte auch Trotzkis Theorie der permanenten Revolution zu einer grundlegenden Verschiebung der analytischen Perspektive, unter der revolutionäre Prozesse betrachtet wurden. Vor 1905 wurden Revolutionen als Resultat fortschreitender nationaler Ereignisse aufgefasst, deren Ergebnis von der Logik ihrer inneren sozioökonomischen Struktur und Beziehungen bestimmt wurde. Trotzki trat für eine andere Herangehensweise ein: Die Revolution sollte in der modernen Epoche als ein im Wesentlichen welthistorischer Prozess aufgefasst werden, ein Prozess des Übergangs von der Klassengesellschaft, die politisch in Nationalstaaten verwurzelt war, zu einer klassenlosen Gesellschaft, die sich auf der Grundlage einer global integrierten Wirtschaft und der international vereinten Menschheit entwickelt.
Die Analogie zu Einstein ist meiner Meinung nach nicht weit hergeholt. Es bestand eine Parallele zwischen den Erkenntnisproblemen, die sich den Theoretikern der Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten, und denjenigen der Physiker. In ganz Europa ergaben Experimente Resultate, die nicht mit den vertrauten Formeln der klassischen Newtonschen Physik erklärt werden konnte. Die Materie verhielt sich, zumindest auf der Ebene der subatomaren Teilchen, nicht so, wie sie es nach Herrn Newton eigentlich sollte. Einsteins Relativitätstheorie lieferte den begrifflichen Rahmen für das Verständnis des materiellen Universums.
In ähnlicher Weise war die sozialistische Bewegung mit einer Flut sozioökonomischer und politischer Daten konfrontiert, die innerhalb des bestehenden theoretischen Rahmens nicht angemessen verarbeitet werden konnten. Wegen ihrer schieren Komplexität entzog sich die moderne Weltwirtschaft simplifizierenden Definitionen. Die Entwicklung der Weltwirtschaft schlug sich mit bis dahin unbekannter Stärke innerhalb jeder nationalen Wirtschaft nieder. Selbst rückständige Ökonomien wiesen - infolge von Investitionen aus dem Ausland - einige hoch entwickelte Merkmale auf. Es gab feudalistische oder semi-feudalistische Regime, deren politische Strukturen in Überbleibseln des Mittelalters verhaftet waren, während die Wirtschaft der von ihnen beherrschten Länder stark von der Schwerindustrie geprägt war. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass man in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung auf eine Bourgeoisie traf, die weniger Interesse am Erfolg ihrer’ demokratischen Revolution an den Tag legte als die einheimische Arbeiterklasse. Diese Anomalitäten passten nicht in formalstrategische Schemata, die in ihren Prognosen von gesellschaftlichen Phänomen ausgingen, die weniger von inneren Widersprüchen zerrissen waren.
Trotzkis große Leistung bestand in der Ausarbeitung eines neuen Theorierahmens, der den neuen sozialen, ökonomischen und politischen Komplexitäten gerecht wurde. Es war nichts Utopisches an Trotzkis Ansatz. Er entsprang vielmehr einer tiefen Einsicht in die Auswirkungen der Weltwirtschaft auf das gesellschaftliche und politische Leben. Eine realistische Herangehensweise an die Politik und die Erarbeitung einer wirkungsvollen revolutionären Strategie hing davon ab, dass die sozialistischen Parteien vom objektiv gegebenen Primat des Internationalen gegenüber dem Nationalen ausgingen. Dies erschöpfte sich nicht im Eintreten für internationale proletarische Solidarität. Ohne ein Verständnis ihrer wesentlichen, objektiven Grundlage in der Weltwirtschaft, und ohne die objektive Realität der Weltwirtschaft zur Grundlage des strategischen Denkens zu machen, würde der proletarische Internationalismus ein utopisches Ideal bleiben, das keinen inneren Zusammenhang zu Programm und Praxis national basierter sozialistischer Parteien aufwies.
Ausgehend von der Realität des Weltkapitalismus und in Anerkenntnis der objektiven Abhängigkeit der russischen Ereignisse von der internationalen ökonomischen und politischen Entwicklung sah Trotzki voraus, dass die russische Revolution unweigerlich eine sozialistische Richtung einschlagen musste. Die russische Arbeiterklasse würde gezwungen sein, die Macht zu erobern und bis zu einem gewissen Grad Maßnahmen sozialistischen Charakters zu ergreifen. Doch auf dem einmal eingeschlagenen sozialistischen Kurs würde die Arbeiterklasse in Russland unvermeidlich an die Schranken der nationalen Umgebung stoßen. Wie würde sie dieses Dilemma lösen? Indem sie ihr Schicksal mit der europäischen und der Weltrevolution verknüpfte, deren Manifestation ihr eigener Kampf letztlich war.
Diese Zusammenhänge erkannte ein Mann, der, wie Einstein, gerade erst 26 Jahre alt geworden war. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ermöglichte eine realistische Konzeption der Weltrevolution. Das Zeitalter der nationalen Revolutionen war zu Ende - oder, um genauer zu sein, nationale Revolutionen konnten nur noch im Rahmen der internationalen sozialistischen Revolution verstanden werden." [19]
Zusammengefasst hatte Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution den folgenden Inhalt: Ob in Russland oder einem anderen Land die ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus vorhanden waren oder nicht, argumentierte er, hing letzten Endes weniger von dessen eigenem nationalen wirtschaftlichen Entwicklungsstand ab, als von dem allgemeinen Grad, den das Wachstum der Produktivkräfte und die Vertiefung der kapitalistischen Widersprüche weltweit erreicht hatten. In Ländern verzögerter kapitalistischer Entwicklung wie Russland, wo die Bourgeoisie sowohl unfähig als auch unwillig war, ihre eigene demokratische Revolution durchzuführen, würde die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft auftreten, die Bauernschaft und alle anderen progressiven Elemente der Gesellschaft um sich scharen, die Macht in die eigenen Hände nehmen und ihre revolutionäre Diktatur errichten müssen. Dann würde sie den jeweiligen Umständen entsprechend in das bürgerliche Eigentum eingreifen und Maßnahmen sozialistischen Charakters einleiten. Die demokratische Revolution würde damit in die sozialistische Revolution hinüber wachsen und den Charakter einer "Revolution in Permanenz" annehmen, die alle Hindernisse zur Befreiung der Arbeiterklasse niederreißen und überwinden würde. Da ihr jedoch im nationalen Rahmen die für den Sozialismus notwendigen ökonomischen Ressourcen fehlten, würde die Arbeiterklasse Unterstützung für ihre Revolution im internationalen Maßstab suchen müssen.
Diese Erwartung basierte nicht auf utopische Hoffnungen - vielmehr würde die sich entfaltende Revolution trotz ihrer nationalen Anfänge ein internationales Echo hervorrufen, sie würde die internationalen Klassenspannungen auf die Spitze treiben und zur Radikalisierung der Arbeiter auf der ganzen Welt beitragen. Daher bestand Trotzki darauf:
"Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. [...] Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten." [20]
Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, nach der die demokratische Revolution nur durchgeführt werden konnte, wenn die Arbeiterklasse mit Unterstützung der Bauernschaft die politische Macht eroberte, warf die Grundannahmen der russischen Sozialdemokratie über den Haufen. Sogar im Jahre 1905, als die Revolution sich mit einer Energie entwickelte, die ganz Europa überraschte, verspottete die menschewistische Fraktion der SDAPR Trotzkis Perspektive als eine gefährlich, abenteuerliche Übertreibung der politischen Möglichkeiten, die sich der Arbeiterklasse eröffneten. Die menschewistische Position fasste Martynow in einer Broschüre zusammen:
"Welche Form könnte dieser Kampf um die revolutionäre Hegemonie zwischen Bourgeoisie und Proletariat annehmen? Machen wir uns nichts vor. Die kommende Revolution wird eine Revolution der Bourgeoisie sein: das heißt, sie wird bei allen Wechselfällen, selbst wenn sich das Proletariat vorübergehend an der Macht befinden würde, die Herrschaft der bürgerlichen Klassen oder eines Teils der bürgerlichen Klassen mehr oder minder sichern. Selbst beim größtmöglichen Erfolg, selbst wenn sie die zaristische Autokratie mit einer bürgerlichen Republik ersetzte, selbst dann würde sie die vollkommene Herrschaft der Bourgeoisie sichern. Das Proletariat kann weder die ganze politische Macht im Staat noch einen Teil von ihr erlangen, solange es nicht die sozialistische Revolution durchgeführt hat. Das ist jener unwiderlegbare Grundsatz, der uns vom opportunistischen Jaurèsismus trennt. Wenn dem aber so ist, so liegt es auf der Hand, dass die bevorstehende Revolution keinerlei politische Formen gegen den Willen der gesamten Bourgeoisie realisieren kann, denn sie wird Herr des morgigen Tages sein. Wenn dem so ist, dann kann der revolutionäre Kampf des Proletariats durch einfache Einschüchterung der Mehrheit der bürgerlichen Elemente nur zu einem führen: zur Wiederherstellung des Absolutismus in seiner ursprünglichen Gestalt. Das Proletariat wird natürlich vor diesem eventuellen Resultat nicht haltmachen, es wird im schlimmsten Fall nicht von einer Einschüchterung der Bourgeoisie Abstand nehmen, nämlich dann, wenn die Dinge entschieden dahin treiben, dass die im Zerfall begriffene Selbstherrschaft durch ein scheinkonstitutionelles Zugeständnis belebt und gefestigt werden soll. Doch das Proletariat hat, wenn es in den Kampf zieht, selbstverständlich nicht diesen schlimmsten Fall im Auge." [21]
Martynows Broschüre brachte mit einer beinahe peinlichen Offenheit die politische Psychologie der Menschewiki zum Ausdruck - die nicht nur auf den bürgerlichen Charakter der Revolution bestanden, sondern sogar eine offene Konfrontation mit der Bourgeoisie als Unglück betrachteten. Eine solche Konfrontation sei bedauerlich, weil sie gegen die unverletzlichen bürgerlichen Beschränkungen der Revolution verstieße. Im Gegensatz zu Trotzki bestanden die Menschwiki darauf, dass die sozialdemokratische Bewegung in Russland "kein Recht hat, sich den Illusionen der Macht hinzugeben".
Es ist im Rahmen dieser Vorlesung nicht möglich, auf die gesamte Kontroverse einzugehen, die Trotzkis Perspektive auslöste und die über ein Jahrzehnt hinweg anhielt. Ich will mich daher auf die wichtigsten Punkte beschränken. Die Menschewiki wiesen die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in Russland kategorisch zurück, während die Bolschewiki zwar jede Form der politischen Anpassung an die liberale Bourgeoisie ablehnten, aber ebenfalls vom objektiv bürgerlichen Charakter der Revolution ausgingen.
Wie ist demnach der Wechsel in der politischen Linie der Bolschewiki zu erklären, der die Machteroberung im Jahre 1917 möglich machte? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss man sich meiner Meinung anschauen, wie sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf Lenins Einschätzung der Dynamik der russischen Revolution auswirkte. Lenin verstand, dass der Krieg einen Wendepunkt in der Entwicklung und Krise des Kapitalismus als Weltsystem darstellte, und sah sich gezwungen, seine Perspektive der demokratischen Diktatur in Russland zu überdenken. Die Verwicklung Russlands in den imperialistischen Krieg war Ausdruck der Vorherrschaft der internationalen über die nationalen Voraussetzungen. Die russische Bourgeoisie, die auf wirtschaftlicher und politischer Ebene untrennbar in das reaktionäre Netz imperialistischer Beziehungen eingebunden war, stand der Demokratie organisch feindlich gegenüber. Die Durchführung der ungelösten demokratischen Aufgaben, die in Russland auf der Tagesordnung stand, fiel der Arbeiterklasse zu, der die Bauernschaft den Rücken stärken würde. Und obwohl in einem isolierten Russland die ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus nicht existierten, schuf die Krise des europäischen Kapitalismus - die Existenz einer herangereiften revolutionären Krise, die im Krieg selbst auf eine verzerrte und reaktionäre Art zum Ausdruck kam - ein internationales politisches Umfeld, in dem die Verknüpfung der russischen mit der europaweiten Revolution möglich wurde.
Die revolutionären Aufstände in Russland waren ein mächtiger Impuls für den Ausbruch der Weltrevolution. Als Lenin im April 1917 nach Russland zurückkehrte, führte er einen politischen Kampf, um die Bolschewistische Partei auf der Grundlage einer internationalen Perspektive neu zu orientieren, die sich in allen wichtigen Fragen auf Trotzkis Theorie der permanenten Revolution stützte. Dieser Wechsel legte die politische Basis für das Bündnis zwischen Lenin und Trotzki und für den Sieg der Oktoberrevolution im Jahre 1917.
Auch wenn Herr Popper behauptet, es sei unmöglich die Zukunft vorauszusagen, entwickelten sich die Ereignisse 1905, 1917 und in folgenden Revolutionen des 20. Jahrhunderts doch hartnäckig so, wie Trotzki es vorhergesehen hatte: In Ländern mit verspäteter bürgerlicher Entwicklung bewies die nationale Kapitalistenklasse wieder und wieder, dass sie unfähig war, ihre eigene demokratische Revolution durchzuführen. Die Arbeiterklasse war mit der Aufgabe konfrontiert, die Staatsmacht zu erobern, die Verantwortung für die Vollendung der demokratischen Revolution zu übernehmen und dabei die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft anzugreifen und die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft zu beginnen. Immer wieder, in einem Land nach dem anderen - in Russland 1917, in Spanien 1936/37, in China, Indochina und Indien während der 1940er Jahre, in Indonesien während der 1960er, in Chile und Lateinamerika während der 1970er, im Iran 1979 und in zahllosen Ländern des Mittleren Ostens und Afrikas während der ausgedehnten postkolonialen Periode - hing das Schicksal der Arbeiterklasse davon ab, wie weit sie die Logik der sozioökonomischen und politischen Entwicklungen, wie sie Trotzki zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysiert hatte, erkannte und zur Grundlage ihres Handelns machte. Tragischerweise stand in den meisten Fällen die Bürokratie, die in diesen Ländern über die Arbeiterklasse dominierte, in Opposition zu dieser Analyse. Das Ergebnis war nicht nur die Niederlage des Sozialismus, sondern das Scheitern der demokratischen Revolution selbst.
Doch wie tragisch diese Erfahrungen auch gewesen sein mögen, so bezeugen sie doch die außergewöhnliche Weitsicht von Trotzkis Analyse, ihre anhaltende Relevanz, und schließlich die überaus wichtige, über Leben und Tod entscheidende Bedeutung des Marxismus als Wissenschaft der revolutionären Perspektive.
Anmerkungen:
[1] Miller (Hg.), Popper Lesebuch, Tübingen 1995, S. 277f.
[2] Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 2003, S. XI-XII.
[3] Ebenda, S. 90f.
[4] Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 1. Halbband, Luchterhand 1984.
[5] Popper, Das Elend des Historizismus, a.a.O., S. 1.
[6] Weinberg, Der Traum von der Einheit des Universums, München 1993, S. 43f.
[7] Zit. nach Plechanow, Selected Philosophical Works Bd. 2, Moskau 1976, S. 439 (aus dem Englischen).
[8] Cole, A History of Socialist Though t Bd. 1, London 1953, S. 2 (aus dem Englischen).
[9] Stein, Die industrielle Gesellschaft, der Sozialismus und Kommunismus Frankreichs von 1830 bis 1848, hg. von Salomon, München 1921, S. 123
[10] Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 464ff.
[11] In den Schriften Alexander Herzens findet sich eine brillante Beschreibung der Reaktion von Seiten der liberalen Bourgeoisie auf das Aufkommen der Arbeiterklasse als politische Kraft im Jahr 1848: "Seit der Restauration hatten die Liberalen aller Länder zum Sturz der monarchistisch-feudalen Ordnung aufgerufen im Namen der Gleichheit, im Namen der Tränen des Unglücklichen, der Leiden des Bedrängten, des Hungers des Unbemittelten; sie hatten sich gefreut, wenn sie Minister, von denen sie schwer zu Erfüllendes verlangten, zu Tode gehetzt hatten, hatten sich gefreut, als eine Stütze des Feudalismus nach der anderen fiel, und hatten sich schließlich so weit hinreißen lassen, dass sie über die eigenen Wünsche hinausgingen. Sie kamen wieder zu sich, als hinter den halb niedergerissenen Mauern - nicht in Büchern, nicht im parlamentarischen Geschwätz, nicht in philanthropischen schönen Reden, sondern in seiner ganzen Wirklichkeit - der Proletarier hervortrat, der Arbeiter mit der Axt und mit geschwärzten Händen, hungrig und kaum mit Lumpen bedeckt. Dieser unglückliche, bei der Erbteilung vergessene Bruder’, über den sie so viel geredet, den sie so bedauert hatten, fragte schließlich, wo denn sein Anteil an allen Gütern sei, worin seine Freiheit, seine Gleichheit, seine Brüderlichkeit bestünde. Die Liberalen waren verwundert über die Dreistigkeit und die Undankbarkeit des Arbeiters, nahmen im Sturm die Straßen von Paris, bedeckten sie mit Leichen und versteckten sich vor dem Bruder hinter den Bajonetten des Belagerungszustandes, um die Zivilisation und die Ordnung zu retten." (Herzen, Vom anderen Ufer, München 1969, S. 95f.)
[12] Marx/Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: MEW Bd. 7, S. 247f.
[13] Ebenda, S. 248.
[14] Ebenda, S. 251.
[15] Ebenda., S. 254.
[16] Tkatschow zit. nach Plekhanov, Selected Philosophical Works Bd.1, Moskau 1974, S. 157 (aus dem Englischen).
[17] Lenin, Die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, in: Werke Bd. 8, Berlin 1958, S. 289f.
[18] Trotzki, Die Permanente Revolution, Essen 1993, S. 267f.
[19] North, Ein Beitrag zur Neubewertung von Vermächtnis und Stellenwert Leo Trotzkis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, World Socialist Web Site, 6. Juli 2001, (http://www.wsws.org/de/2001/jul2001/trot-j06.shtml).
[20] Trotzki, Die Permanente Revolution, a.a.O., S. 185f.
[21] Martynow, Dve Diktatury, Genf 1905, S. 57f. (aus dem Englischen; teilweise zitiert aus Lenin, Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung, Werke Bd. 8, S. 247 f.)