Der Bolschewismus und die Künstler der Avantgarde

Unter dem Titel "Die große Utopie: Die russische und sowjetische Avantgarde 1915-32" wurde im Jahre 1993 in New York, Frankfurt am Main und anderen Großstädten rund um die Welt eine bemerkenswerte Ausstellung der frühen sowjetischen Kunst gezeigt. Die Ausstellung war ursprünglich schon 1988 geplant worden, als in der UdSSR noch Michael Gorbatschow an der Macht war. Als die riesige Ausstellung dann in New York und anderen Städten gezeigt wurde, war die Sowjetunion schon zusammengebrochen, und die Organisatoren bemühten sich, das Ereignis zu nutzen, um die russische Revolution von 1917 zu diskreditieren und als unbedeutend hinzustellen.

Die 800 Ausstellungsstücke erzählen aber eine ganz andere Geschichte. Sie zeigen Lebenskraft des nachrevolutionären, intellektuellen und künstlerischen Lebens und den großen Impetus, den die erste Machteroberung der Arbeiterklasse in der Geschichte der kreativen Aktivität verlieh. Die Ausstellung weckte in der Öffentlichkeit großes Interesse und zog allein in New York mehr als eine Viertelmillion Besucher an.

Die reichhaltige Ausstellung von Kunstwerken der russischen und sowjetischen Avantgarde, die unter dem Titel "Die große Utopie: Die russische und sowjetische Avantgarde 1915-1932" im Guggenheim-Museum in New York gezeigt wurde, verdient außerordentliche Aufmerksamkeit und ein sorgfältiges Studium. Die Ausstellung ist von großem Interesse, sowohl der ästhetischen Qualität der Werke selbst, als auch der unzähligen historischen und begrifflichen Fragen wegen, die sie aufwirft.

Dieser Artikel will nicht die formalen Qualitäten der Kunst als solcher besprechen, sondern die Beziehung der Künstler zum revolutionären Arbeiterstaat und dessen Aufgaben untersuchen, sowie feststellen, wie sich diese in ihrem Werk niederschlug. Es geht dabei um Künstler, die im Allgemeinen dem russischen Futurismus und Konstruktivismus zugerechnet werden.[1]

Eine Reihe von Fragen sollen behandelt werden: Wie reagierten die linken Künstler auf die Machtübernahme der Arbeiterklasse? Welche Haltung nahm die neue revolutionäre Regierung gegenüber den Künstlern ein? Gab es eine "bolschewistische" Tendenz in der Kunst? Wie stellten sich Künstler und Revolutionäre die Rolle der Kunst beim Aufbau des Sozialismus vor? Welche Bedeutung hat dieser geschichtliche Hintergrund für die heutige Zeit?

Will man diese Fragen beantworten, so muss man sich unter anderem mit den Widersprüchen und Konflikten befassen, die unweigerlich entstanden, als Künstler der kleinbürgerlichen Bohème versuchten, die Wirklichkeit der sozialen Revolution zu bewältigen, und disziplinierte, hoch gebildete proletarische Revolutionäre sich mit dem künstlerischen Schaffen auseinandersetzten, in dem das Unbewusste und das Irrationale eine so wichtige Rolle spielten.

Leo Trotzki Leo Trotzki

Die Persönlichkeit, die mehr als irgendjemand sonst in der Lage war, die Widersprüche in beiden Tätigkeitsbereichen zu verstehen und zu meistern, war Leo Trotzki. Bei der Betrachtung der Künstler und der Kunst jener Periode und ihrer Beziehung zur Oktoberrevolution wird man unweigerlich an Trotzkis Schriften und Reden erinnert, die vor beinahe siebzig Jahren verfasst wurden und tiefe Einblicke in die komplexen Fragen erlauben.

Bei der Durchsicht des Ausstellungskatalogs stellt man fest, dass es selbst in der heutigen politischen Atmosphäre nicht möglich war, eine derartige Ausstellung durchzuführen, ohne sich mit der Rolle Trotzkis und seiner kritischen Würdigung der frühen sowjetischen Kunst auseinanderzusetzen. In welcher Art und Weise dies stattgefunden hat, werden wir noch näher betrachten.

Die Ausstellung umfasste rund 800 Gemälde, Skulpturen, architektonische Modelle, Bühnenbildentwürfe, Photographien und Plakate. Der überwiegende Teil der Künstler, deren Werke gezeigt wurden, verdient eigene Ausstellungen; viele haben sie auch bereits erhalten und sind zum Gegenstand spezialisierter Forschung geworden. Die Kunstwerke zählen zu den bedeutendsten dieses Jahrhunderts.

Ursprünglich war die Ausstellung für das Jahr 1988 vorgesehen, als Michail Gorbatschow noch an der Macht war und jeder bürgerliche Kommentator Glasnost im Munde führte. Sie wurde vom Guggenheim-Museum zusammen mit der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau, dem Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg und der Schirn in Frankfurt am Main organisiert.

Schon der Titel der Ausstellung - "Die große Utopie" - deutet die Grundhaltung der Aussteller gegenüber den Künstlern und ihren Werken an. Im Vorwort des New Yorker Ausstellungskatalogs schreiben der Direktor und der stellvertretende Direktor des Guggenheim-Museums: "Der Begriff ’Utopie’ beinhaltet die innere Vorstellung und Absicht des Avantgarde-Künstlers, Kunst in den Dienst höherer gesellschaftlicher Zielsetzungen zu stellen und Harmonie und Ordnung zu schaffen in der ihn umgebenden chaotischen Welt. Angesichts des Verlaufs, den die Geschichte in Russland im 20. Jahrhundert genommen hat, hat ’Utopie’ auch den Beigeschmack von Undurchführbarkeit: Idealismus ist gut in der Theorie, aber nicht in der Praxis." (The Great Utopia: The Russian and Soviet Avantgarde 1915-1932, New York 1992, S. X)

Die Vertreter der russischen Museen sind in ihrem einleitenden Grußwort eifrig bemüht, die Kunst von der Revolution mit ihren politischen und sozialen Begleiterscheinungen abzugrenzen. Sie schreiben: "Seit den frühen achtziger Jahren ist die romantische Verklärung des revolutionären Impetus in unserem Land deutlich abgeklungen. In diesem Sinn kommt diese Ausstellung für uns vielleicht zu spät. Die künstlerische Kraft der Epoche, ihre über die Jahrzehnte angesammelten kreativen Energien und Erfindungen behaupten sich jedoch gegen jeden kurzfristigen Wechsel politischer Mode und Konjunktur. Umso wertvoller ist es, dass nun das kunstinteressierte Publikum die Werke der russischen Avantgarde erstmals in dieser Breite, ohne politische Leidenschaft und in Ruhe betrachten und ihren Beitrag zur Weltkunst ermessen kann." (Die große Utopie, Katalog der Schirn Kunsthalle, Frankfurt 1992, S. 10)

Diese beiden Argumente - Es sei erstens utopisch zu glauben, dass Kunst zu einer Veränderung der Wirklichkeit beitrage (oder dass die Wirklichkeit überhaupt in fortschrittlicher Weise verändert werden könne), und zweitens gebe es keinen Zusammenhang zwischen der Revolution und dem explosionsartigen Ausbruch kreativer Energie in den 1910er und 1920er Jahren - werden am besten durch die Ausstellung selbst widerlegt.

In erster Linie dokumentiert die Ausstellung die außerordentlichen, fast übermenschlichen und in hohem Maße "praktischen" Errungenschaften der Oktoberrevolution in zahlreichen menschlichen Tätigkeitsbereichen. Hätte die Revolution nichts weiter hervorgebracht als die Errungenschaften in den Bereichen Bildung, Erziehung und Sozialplanung der Periode 1917-1923, so hätte sie allein dadurch ihre geschichtliche Bestätigung erfahren.

Zu den Beiträgen, die die Revolution im Bereich der Kunst praktisch geleistet hat, gehörte unter anderem die Gründung der Freien Staatlichen Kunstwerkstätten im Herbst 1918. "Zum ersten Mal in der Geschichte", schreibt dazu eine russische Kunsthistorikerin, "beruhte die russische Kunsterziehung auf den Prinzipien von Freiheit und Demokratie." (Natalja Adaskina, "Die Rolle der WCHUTEMAS in der russischen Avantgarde", in: Die große Utopie, S.82)

Darüber hinaus gab es die Aktivitäten des ISO NARKOMPROS (der Abteilung für bildende Kunst des Volkskommissariats für kulturelle Bildung), die Gründung von OBMOCHU (Gesellschaft Junger Künstler) 1919 und seine Ausstellungen, die Gründung der WCHUTEMAS (Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten) 1920, aus denen ein großer Teil höchst experimenteller Werke hervorging, die Arbeit von Kasimir Malewitschs Gruppe UNOWIS (Bejaher der Neuen Kunst) in Witebsk, die Errichtung des bahnbrechenden Museums für Malerische Kultur in Moskau, das Werk der Konstruktivisten und der Produktionskünstler und die Bemühungen einer großen Vielfalt von Künstlern, zur kulturellen und intellektuellen Weiterbildung der Arbeiterklasse und sowjetischen Massen beizutragen.

Das Gegenteil von "Utopismus" heißt jedoch nicht einfach "praktische" Errungenschaft. Neben ihren Malereien, Gedichten und Skulpturen trugen die sowjetischen Künstler durch ihre theoretische Arbeit zu einem Verständnis der objektiven Wirklichkeit bei, und wie ihre Wahrheit enthüllt werden kann. Wenn auch einige ihrer Schlussfolgerungen abwegig waren, so steht doch außer Frage, dass die Arbeit, die sie im Bereich der Ästhetik in den frühen Jahren der Oktoberrevolution geleistet haben, einen äußerst reichhaltigen Wissensschatz darstellt. Ein großer Teil dieser Arbeit lag freilich infolge der Verbrechen des Stalinismus jahrzehntelang begraben.

Das zweite Argument - dass das politische Leben und die Revolution selbst für das Werk der Künstler nebensächlich waren - ist intellektuell so banal und unehrlich, dass es beinahe keine Antwort verdient. Die beteiligten Künstler mit den verschiedensten Vorlieben und Temperamenten verschrieben sich der Sache der sozialen Revolution und des Kommunismus. Sie taten dies anfangs unter häufigen Zweideutigkeiten und Schwierigkeiten (auf diese Frage werden wir weiter unten eingehen), aber Tatsache ist, dass sie sich mit dem revolutionärem Arbeiterstaat identifizierten.

Der antikommunistische Kunstkritiker Igor Golomschtok stellt fest, dass in der Liste der sowjetischen Emigranten "nicht ein einziger aufgeführt war, der als Kämpfer für die radikale Umwandlung der Welt durch Kunst herausgeragt hatte". (I. Golomschtok, Totalitäre Kunst in der Sowjetunion, das Dritte Reich, das faschistische Italien und die Volksrepublik China, New York 1990, S.20)

Räumliche Konstruktion - Alexander Rodtschenko, 1920 Räumliche Konstruktion - Alexander Rodtschenko, 1920

Trifft man auf solche Werke wie Formel des Petrograder Proletariats von Pawel Filonow, Porträt von Karl Liebknecht von Boris Ender, Petrokommune von Natan Altman, Entwurf für eine Konstruktion zum 5. Jahrestag der Oktoberrevolution von Gustav Kluzis, Ohne Titel ("Rosa Luxemburg") von El Lissitzky, Entwurf für das Monument zum Kongreß der 3. Kommunistischen Internationale von Alexander Wesnin - alles abstrakte Darstellungen -, so sieht man sich einem Prozess gegenüber, der ganz sicherlich nicht auf "Zwang" zurückgeführt werden kann.

Der Pianist - Ljubow Popowa, 1914 Der Pianist - Ljubow Popowa, 1914

Es stimmt natürlich, dass die ersten Werke von Künstlern wie Malewitsch, Wladimir Tatlin, Alexander Rodtschenko und Ljubow Popowa der Oktoberrevolution zeitlich vorangehen. Dies wird als Argument dagegen vorgebracht, den revolutionären Umsturz von 1917 als ein entscheidendes Ereignis in der Entwicklung dieser Künstler zu betrachten.

Diese oberflächliche Betrachtungsweise ignoriert die komplexe Beziehung zwischen Kultur und politischem Leben, die sich im Weltmaßstab während einer ganzen historischen Epoche entwickelt hatte. Die russische Revolution war nicht einfach das Ereignis eines spontanen Aufstands der Arbeiterklasse, dem einige bolschewistische Parolen aufgepfropft wurden. Auch war es nicht so, dass die Werke der russischen Futuristen, Suprematisten und Konstruktivisten einfach entstanden, weil diese Künstler Gelegenheit gehabt hatten, einige Gemälde von Picasso, Braque, Matisse und anderen zu betrachten.[2]

Die Oktoberrevolution war selbst das Produkt eines internationalen Kampfes für die höchsten Prinzipien und Ideale, der sich über Jahrzehnte erstreckte und auch an der kulturellen und ästhetischen Front geführt wurde. Andererseits wäre die völlige Umwälzung der künstlerischen Formen in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts undenkbar gewesen ohne die geistige und praktische Herausforderung, die der Sozialismus und die Arbeiterklasse der kapitalistischen Gesellschaft entgegenschleuderten. Dass die Revolution selbst einen starken Antrieb für künstlerische Experimente schuf, kann schwerlich in Frage gestellt werden.

Viele der ausgestellten Werke sind überwältigend. Der Hauptteil der Ausstellung war den abstrakten Malereien der Futuristen, Kubofuturisten, Suprematisten und verwandter Schulen gewidmet. Die jeweiligen Künstler versuchten unter dem Einfluss der künstlerischen, sozialen und wissenschaftlichen Revolution einen entschiedenen Bruch mit früheren Strömungen zu vollziehen. Im Zentrum ihres Werks stand das Bewusstsein, dass es angesichts der umfassenden, rapiden und weltweiten Veränderungen notwendig sei, eine neue Auffassung der Gesellschaft. des Menschen und der Kunst zu gewinnen.

Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Artikels die Ausstellung in allen Einzelheiten zu besprechen, aber bestimmte Kunstwerke, Künstler und ganze Tendenzen ragen heraus.

Selbstprotrait - Kasimir Malewitsch, 1908-11 Selbstprotrait - Kasimir Malewitsch, 1908-11

Jede Betrachtung der russischen und sowjetischen Kunst muss die Beiträge von Malewitsch (1878-1935) und der Gruppe UNOWIS würdigen; dazu gehören Lissitzky (1890-1941), Ilja Tschaschnik (1902-1992), Nikolaj Suetin (1897-1954) und andere. Nachdem Malewitsch sich durch sämtliche großen europäischen und russischen Kunstrichtungen durchgearbeitet hatte, gab er mitten im Ersten Weltkrieg die Wiedergabe natürlicher Gegenstände in der Malerei völlig auf und widmete sich der "gegenstandlosen" Kunst. Auf der Ausstellung "0.10" im Jahre 1915 verärgerte er die Kritiker mit seinem suprematistischen Schwarzen Quadrat - einem gemalten schwarzen Quadrat innerhalb eines gemalten weißen Rahmens.

Laut Malewitsch lag die Wahrheit "hinter der objektiven Umhüllung der Welt verborgen. Diese Umhüllung musste zerrissen werden, um die Fesseln von ’Äußerlichkeit’ (’weschtschnost’), ’Gegenständlichkeit’ (’predmetnost’) und ’Vernunft’ (’rasum’) zu zerbrechen. Allein dies würde den Anbruch einer neuen Wahrhaftigkeit’ sicherstellen...’’ (Alexandra Schazkich, "UNOWIS: Brennpunkt einer neuen Welt", in: Die große Utopie, S.63).

<I>Die siebte Dimension, Suprematistisches Streifenrelief </I> und seine F <I>arbenlinien in vertikaler Bewegung </I> - Ilja Tschaschnik Die siebte Dimension, Suprematistisches Streifenrelief
und seine Farbenlinien in vertikaler Bewegung - Ilja Tschaschnik

Tschaschniks Die siebte Dimension, Suprematistisches Streifenrelief und seine Farbenlinien in vertikaler Bewegung zeigen sein sehr großes Talent. Auch sein Kosmos - Roter Kreis auf schwarzer Oberfläche (1925) ist ein außergewöhnliches Werk. Ein riesiger roter Kreis (Sonne, Planet) schwebt in Schwärze (Himmel, Atmosphäre). Darunter befindet sich in der Fläche des Gemäldes eine suprematistische Struktur (Raumstation), Linien und Rechtecke sind horizontal entlang seiner Zentralachse aufgereiht. Das suprematistische Flugobjekt ist - zierlich, leichtgewichtig, in blasser Farbe - scheinbar auf die gigantische, perfekte rote Sphäre gerichtet. Die Ungeheuerlichkeit der Aufgabe, die erschreckende Leere des Universums, die Zerbrechlichkeit des Fahrzeugs werden dem Betrachter bewusst.

Auch das Werk von Rodtschenko (1891-1956) - Maler, Konstruktivist, Graphiker und Photograph - ragte bei der Ausstellung heraus. Seine Malereien der Ausstellung "5x5=25" von 1921 fielen ganz besonders auf. Rodtschenko folgte der Richtung der "gegenstandslosen" Kunst. Die Ausstellung enthält seine Gemälde Schwarz auf Schwarz von 1918, Hängende Raumkonstruktion (1921) - eines der ersten konstruktivistischen Werke -, ein Reklameplakat: " Machst du gute Bleistifte?" (1923), Bucheinbände, Filmplakate, Stoffentwürfe und zahlreiche außergewöhnliche Photographien aus den späten 1920er Jahren.

Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa

" Die Grosse Utopie" enthielt auch die Werke einer bemerkenswerten Gruppe von Künstlerinnen - ein starken Anzeichen der befreienden Wirkung der sozialen Revolution -, zu der Popowa (1889-1924), Olga Rosanowa (1886-1918), Warwara Stepanowa (1894-1958), Nadeschda Udalzowa (1886-1961), Sofia Dymschitz-Tolstaja (1889-1963), Antonia Sofronowa (1892-1966), Vera Jermolajewa (1893-1938), Nina Kogan (1889-1942) und Xenia Ender (1894-1953) gehörten.

Rosanowas Gegenstandslose Komposition (1916) und Popowas Raum-Kraft-Konstruktion (1920-21) waren besonders herausragend.

Der brillante Tatlin war vertreten durch seine "Reliefs", Modelle aus Eisen, Kupfer, Holz, Seil, Aluminium, Zink - Kubismus (obwohl er diese Tendenz öffentlich zurückwies) in drei Dimensionen [3]. Leider wurde keine von Tatlins Malereien gezeigt, weil er ab 1915 die Malerei bereits aufgegeben hatte. Neben den Reliefs, seinen Kostüm- und Bühnenbildentwürfen für das Theater, wurden seine Modelle für Männer- und Damenkleidung gezeigt und Entwürfe für Teekannen und Sahnekännchen.

Axiometrische Kunst - Gustav Kluzis, 1920 Axiometrische Kunst - Gustav Kluzis, 1920

Ebenfalls herausragend war das Werk des relativ unbekannten Kluzis (1895-1938). Von ihm waren Werke aus ganz unterschiedlichen Bereichen zu sehen: Malerei, Leinwandentwürfe, Tribünen und der Radio-Orator Nr. 5, Plakate, Buchumschläge und Entwürfe für Fenstergestaltung.

Darüber hinaus enthielt die Ausstellung einige bemerkenswerte Malereien von Filonow (1882-1941), die in ihrem Tribut an die natürliche Form einen Gegensatz zur Geometrie der Suprematisten und Konstruktivisten bildeten. Die Filmplakate der Brüder Stenberg, Wladimir (1899-1982) und Georgij (1900-1933) ragten heraus, wie auch die Werke von Iwan Kljun (1873-1943), einem Maler einer etwas älteren Generation, und die Werke der Projektionisten - einer Gruppe jüngerer Künstler, die Mitte der zwanziger Jahre heranwuchsen.

"Die große Utopie" enthielt auch Abteilungen, die der sowjetischen Architektur, Textilentwürfen, Porzellan, Graphik und Photographie gewidmet waren.

Lang lebe der Welt-Oktober - Gustav Kluzis 1933 Lang lebe der Welt-Oktober - Gustav Kluzis 1933

Die Aussteller taten ihr Bestes, um die ersten Jahre der Festigung des Stalinregimes als direkte Fortsetzung und natürliche Fortentwicklung der frühen Jahre der revolutionären Regierung darzustellen; aber die Kunst spricht für sich selbst. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen der ungezwungenen, beinahe anarchischen Qualität der Werke zwischen 1918-1923 und etwa den Plakaten, die ab den späten zwanziger Jahren erscheinen und die Arbeiter oder Mitglieder von Genossenschaftsgütern dazu auffordern, die Pläne für Industrie oder Landwirtschaft zu erfüllen. Besonders unheilverkündend ist das Plakat von Gustav Kluzis Unter Lenins Fahne für den Aufbau des Sozialismus (1930), in dem Stalin mit unbeabsichtigt düsterem Blick undeutlich hinter Lenins Kopf sichtbar ist. Stalin tritt auch allein in Kluzis’ Der Sieg des Sozialismus in unserem Land ist garantiert (1932) in Erscheinung.

Zum heutigen geschichtlichen Zeitpunkt wäre es sicherlich nicht angemessen, die gezeigten Werke einfach gutzuheißen und ihrer Schönheit und geistigen Aussagekraft Tribut zu zollen. Die Künstler selbst wären sicher nicht in dieser Art und Weise vorgegangen. Sie waren in verschiede Strömungen gespalten, die untereinander heftige Auseinandersetzungen über eine Vielzahl ästhetischer und sozialer Fragen austrugen.

Oft neigt man dazu, den sowjetischen Künstlern und ihren Werken gegenüber eine unkritische Haltung einzunehmen. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Erstens entstand aufgrund ihres in den meisten Fällen tragischen Schicksals während einer ganzen historischen Periode die natürliche (und berechtigte) Tendenz, sie rückblickend gegen die Verleumdungen der stalinistischen Bürokratie zu verteidigen. Kluzis starb während der Säuberungswellen. Der linke Kunstkritiker und Ehemann der Dichterin Anna Achmatowa, Nikolaj Punin, wurde Ende der dreißiger Jahre in ein Arbeitslager geschickt. Roy Medwedew schreibt: "Es ist unmöglich, sämtliche Schriftsteller aufzulisten, die zwischen 1936-1939 festgenommen und vernichtet wurden." (Die Geschichte soll entscheiden, New York 1989, S. 446)

Malewitsch starb 1935, nachdem seine Werke jahrelang entweder ignoriert oder als "formalistisch" und "dekadent" verunglimpft worden waren. Lissitzky versuchte, ein loyaler Stalinist zu werden, aber sein künstlerisches Gewissen hielt ihn davon ab, der Schule des "Sozialistischen Realismus" beizutreten. Er schwand einfach dahin. Rodtschenko hörte Ende der frühen dreißiger Jahre mit ernsthafter Arbeit auf. An einem Punkt wandte er sich gegen seine eigenen Werke und zerstörte zehn seiner Gemälde. Tatlin, einer der außergewöhnlichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, arbeitete nach 1934 fast ausschließlich an Theaterentwürfen. Ein Biograph schreibt: "Das Ende seines Lebens war sehr schwer. Und als er starb, waren nur sieben oder acht von uns bei seinem Begräbnis." (L.A. Schadowa [Hrsg.], Tatlin, New York 1988, S. 439)

Zweitens wurden die Werke der sowjetischen Künstler durch die stalinistische Unterdrückung und die Gleichgültigkeit oder Feindschaft des Westens unter Bedingungen weltweiter politischer Reaktion in großem Ausmaße in Dunkelheit gehüllt, und somit wurde jegliche Untersuchung, ob kritisch oder nicht, zu einer schwierigen Aufgabe. Unter den sehr widersprüchlichen Bedingungen der Auflösung der Sowjetunion und des Zusammenbruchs der Nachkriegsordnung sind die Künstler und ihre Werke in den letzten Jahren aus diesem Dunkel aufgetaucht.

In mehreren Aufsätzen des Ausstellungskatalogs werden breite und weitreichende Themen angeschnitten und tragen so auf die eine oder andere Weise zu einer kritischen Herangehensweise bei. Ein Aufsatz des Katalogs, "Die Avantgarde und die Politik" von Paul Wood, ist der Versuch, sich mit einem Problem auseinanderzusetzen, das für Marxisten von großem Interesse ist: Die Beziehung zwischen der künstlerischen Arbeit der Avantgarde und ihrer Politik, genauer, die mögliche Wechselbeziehung zwischen der künstlerischen Avantgarde und der trotzkistischen Linken Opposition.

Aus den Quellen zu schließen, die von Wood anerkennend zitiert werden, ist er in staatskapitalistischen (nämlich der britischen Socialist Workers Party) und pablistischen Kreisen zu Hause. Sein Aufsatz enthält zwar einiges an wertvollem Material, ist jedoch erfüllt von der Anschauung des kleinbürgerlichen Radikalismus und mit seiner Atmosphäre vollgesogen.

Wood spricht von der scheinbaren Ironie, dass die jüngste, plötzliche Verfügbarkeit der russischen Avantgarde-Kunst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusammenfällt. Ganz typisch wendet er sich an den "akademischen Forscher" und meint, dass er täte gut daran, "sich zu erinnern, dass Alexander Rodtschenko, El Lissitzky, Warwara Stepanowa, Wladimir Majakowskij, Dsiga Wertow, Gustav Kluzis und alle anderen anfänglich unter Entbehrungen arbeiteten und später unter harter Zensur. Ohne Ausnahme hatten sie sich alle ausdrücklich der Revolution der Arbeiterklasse verschrieben, aus der die neue Ordnung des internationalen Sozialismus entstehen sollte". (Die große Utopie, S. 283)

Er fährt fort: "Auch darf man das Paradoxon nicht übersehen, dass die gleiche Forschung, die diese Konturen der sowjetischen Avantgarde nach und nach aufdeckt, auf der historischen Niederlage der gesellschaftlichen Vision der Avantgarde beruht." (ebd.)

Es ist bezeichnend, dass Wood den Zusammenbruch des Sowjetstaats mit der historischen (vielleicht endgültigen) Niederlage der Perspektive der "Revolution der Arbeiterklasse" und des "internationalen Sozialismus" gleichsetzt.

Er geht dann auf die unterschiedlichen Haltungen ein, die Kunsthistoriker und Kritiker traditionsgemäß sowjetischen Künstlern und ihrer Politik gegenüber bezogen haben, und teilt sie in drei allgemeine Kategorien.

Als erste nennt Wood jene Kritiker, die die Avantgarde einfach von der revolutionären Politik trennen. Im Text des amerikanischen Katalogs (der deutsche enthält eine gekürzte Fassung) zitiert er den bekannten Kunsthistoriker John Bowlt, der 1984 schrieb: "Das vielleicht gefährlichste Gerücht bezüglich der russischen Avantgarde hat mit ihrer angeblichen Unterstützung radikaler Politik und radikaler politischer Philosophie im allgemeinen zu tun." (The Great Utopia, S. 2) Dieses bürgerliche Wunschdenken wird durch historische Tatsachen wie die Erklärungen der betreffenden Künstler selbst widerlegt.

Eine zweite Herangehensweise, die Wood als "revisionistisch" bezeichnet, entwickelte sich in den späten siebziger und achtziger Jahren unter dem allgemeinen Thema einer Kritik der Moderne und einer neuen gesellschaftlichen Kunstgeschichte. Christine Lodder schrieb in ihrem Aufsatz "Russischer Konstruktivismus" (New Haven, 1983) - einer in vieler Hinsicht bahnbrechenden Arbeit - das Scheitern der russischen Avantgarde dem "Erfolg" der Revolution zu. Sie geht von der Existenz einer unterdrückenden Partei aus, die den Realismus in der Kunst bevorzugte, von der angeblichen Popularität dieses Realismus, der vermeintlich den ungebildeten Massen zugänglicher war, und von den harten Lebensbedingungen, die künstlerische Experimente unmöglich machten.

Beide Herangehensweisen gründen sich auf die größte Lüge des 20. Jahrhunderts: dass der Stalinismus die unvermeidliche Fortentwicklung und Forstsetzung des Bolschewismus sei. Die erste Herangehensweise betrachtet die Revolution als ein zufälliges (und tragisches) Ereignis, das eine Unterbrechung in der Entwicklung der Arbeit der Künstler darstellte. Sie geht davon aus, dass der Leninismus und Stalinismus einen einzigen fortlaufenden Alptraum bildeten.

Der zweite, anspruchsvollere Ansatz versucht Verbindungen zwischen den Zielsetzungen der sozialen Revolution und den Künstlern herzustellen, betrachtet das gesamte Unternehmen jedoch mit einigem Bedauern als Fehlschlag. Er steht auf dem Standpunkt, dass die "Massen" von Natur aus Spießbürger seien und ihre Machtergreifung mit experimenteller Kunst unvereinbar sei. Es wird impliziert, dass die Bevölkerung sich den Stalinismus entweder gewünscht oder ihn zumindest verdient habe.

Die dritte These stützt sich ebenfalls auf die Fehleinschätzung, dass der Stalinismus dem Bolschewismus gleichzusetzen sei, aber auf eine noch schlimmere Art und Weise. Die neue Herangehensweise, die in dem Werk von Leuten wie Boris Groys und Igor Golomschtok zum Ausdruck kommt, klagt im wesentlichen die Avantgarde-Künstler der Komplizenschaft mit dem Stalinismus an oder macht sie für dessen widerwärtigen Ableger im Bereich der Kultur, den Sozialistischen Realismus verantwortlich.

Groys behauptet in Die Kultur der Stalinperiode (New York 1990) die "Identität" des Sozialistischen Realismus "mit der Ära der Avantgarde" und "ihre Übereinstimmung im grundsätzlichen künstlerischen Ziel". Der reaktionäre Emigrant Golomschtok schreibt in seinem Werk Totalitäre Kunst (London 1990): "Wenn das vorherrschende Merkmal des Totalitarismus darin besteht, dass er seine ideologische Doktrin sowohl als einzig wahr und universal zwingend erklärt, dann ist die künstlerische Avantgarde der zehner- und zwanziger Jahre die erste, die eine totalitäre Ideologie der Kultur ausgearbeitet hat."

Es lohnt sich nicht, diese reaktionäre Idiotie zu entwirren, aber auf einige Punkte wollen wir trotzdem hinweisen. Golomschtok hat den Standpunkt übernommen, der in den dreißiger Jahren zuerst von Ultralinken vertreten wurde, dass nämlich der Stalinismus mit dem Faschismus gleichzusetzen sei, und er hat diesen Standpunkt noch einen Schritt vorangetrieben. Anscheinend ist es ihm gelungen, eine ideologische Doktrin ausfindig zu machen, die den Totalitarismus hervorbringt.

Indem er die heftigen Erklärungen der Futuristen, die zuweilen Ausdruck einer fixen Idee sind, für bare Münze nahm, zieht er eine direkte Verbindung zwischen ihnen und dem brutalen stalinistischen System autoritärer Herrschaft. Es ist wirklich der Gipfel an Unehrlichkeit, die Ausschweifungen der Künstler in den unmittelbaren Nachkriegsjahren - gegen die Lenin und Trotzki stark angekämpft haben - als Beweis ihrer Verantwortung für die Verbrechen der dreißiger Jahre heranzuziehen. Die Tatsache, dass zu einem späteren Zeitpunkt einige der "linken" Argumente von Vertretern der Bürokratie für ganz andere Zwecke benutzt wurden, ist eine ganz andere Frage, auf die wir weiter untern eingehen werden.

Golomschtoks wirkliche Absicht besteht darin, jede Anschauung zu verleumden, die davon ausgeht, dass die objektive Wahrheit erkennbar und die Welt veränderbar sei und verändert werden sollte, und die darauf beharrt, dass die Kunst in diesem Prozess eine Rolle zu spielen hat. Im Unterschied zu den liberaler eingestellten Kritikern ist er nicht bereit, Majakowskij [4], Tatlin und anderen ihre Bejahung der Revolution zu verzeihen. Genauso wenig sieht er über ihre Unterstützungserklärungen für den Kommunismus und die Weltrevolution als nebensächlich oder zufällig hinweg.

Im zweiten Teil seines Aufsatzes befasst sich Wood mit dem "Niedergang" der Avantgarde nach dem Ende des Kriegskommunismus - der "heroischen" Phase der Revolution - und der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) 1921. Er berichtet über die Unzufriedenheit der Avantgarde mit der aufsteigenden Bürokratie und versucht eine Beziehung zwischen den Aktivitäten dieser buntscheckigen künstlerischen Strömung und denen der trotzkistischen Linken Opposition herzustellen. Insbesondere bringt Wood die neuerliche "linke" Aktivität in der Kunst mit den beiden "Wellen" der Opposition gegen die Bürokratie (die Gründung der Linken Opposition 1923-24 und die Bildung der Vereinigten Opposition 1926-27) in Zusammenhang.

Zu Recht verweist er beispielsweise auf zwei Berichte, die Tatlin im November 1924 über die Arbeit seiner Abteilung für Materialkultur am GINCHUK (Staatliches Institut für künstlerische Kultur) in Petrograd gegeben hatte. Er stellt fest, dass "Tatlin seine Verteidigung einer Planung für den Entwurf der Kultur der Materialien damit begründete, dass ’Anarchie’ die Produktion beherrsche." (Die große Utopie, S. 291) Wood meint, dass es zu diesem Zeitpunkt eine "natürliche" Affinität der Künstleravantgarde zur Opposition gab, weil letztere an einer Wirtschaftsplanung festhielt.

Obwohl Wood beteuert, dass dies nicht heißen solle, dass "die Lef einfach nur eine kulturelle ’Widerspiegelung’ der Linken Opposition war", ist es genau das, was er im weiteren zum Ausdruck bringt. (Lef, ein Akronym für "Linke Front der Kunst", war der Name einer Zeitschrift, die von der gleichnamigen, 1923 gegründeten Gruppe veröffentlicht wurde und die allgemeine Weltsicht der Futuristen vertrat.)

Wood schreibt: "Die Avantgarde, die Linke Front, hat eine Beziehung zur Linken Opposition. Diese ist jedoch nicht ihre ’Widerspiegelung’, sondern eine Art relativ autonomen Gegenstücks ... Sie war ihre ’historisch-logische, ästhetische Entsprechung’." (ebd. S. 297)

Wood erklärt, "dass aus mindestens vier Gründen die Linke Front der Künste als eine kulturelle Entsprechung der hauptsächlich trotzkistischen Linken Opposition verstanden werden kann

· wegen ihrer Feindschaft zur NEP

· wegen ihres Einsatzes für die Planung

· wegen ihrer Forderung nach einem gewissen, den Verbrauch der produzierten Waren ermöglichenden Grad von Wohlstand für die Arbeiterklasse

· und wegen ihrer Forderung nach einer industriellen Demokratie, in der der Künstler-Konstrukteur sich betätigen kann." (ebd. S. 298)

Es ist Wahres an Woods Behauptung, dass die linken Künstler im allgemeinen dem Anwachsen der Bürokratie gegenüber feindlich eingestellt waren. Und es gibt nicht wenige Zeugnisse davon, dass einzelne Künstler mit Trotzki persönlich sympathisierten. Sowohl vor als auch nach der Revolution genossen seine Schriften über Literatur und Politik ein sehr großes Ansehen in intellektuellen Kreisen. Ein Großteil dieser Geschichte wurde von stalinistischen und bürgerlichen Historikern vertuscht.

Beispielsweise wissen wir, dass der experimentelle Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold Trotzki sehr nahe stand; dass Sergej Essenin, der imaginistische Dichter, der 1925 Selbstmord beging, ihn sehr bewunderte; dass der Dichter Ossip Mandelstam warmherzige Bemerkungen über Trotzki machte, die unterschlagen wurden, usw.

Nichtsdestoweniger muss man Woods grundlegende These zurückweisen. Sie beinhaltet zwei grundlegende Fehler.

Erstens setzt die Identifizierung einer spezifischen künstlerischen/literarischen Strömung mit der Linken Opposition Kunst und Politik auf völlig unangebrachte Art und Weise gleich. Die Linke Opposition war nicht einfach eine Gruppe gleichgesinnter Individuen, die über das Anwachsen der Ungleichheit und die Unterdrückung innerparteilicher Demokratie beunruhigt war. Die Opposition war die Fortsetzung des wirklichen Bolschewismus und Marxismus, die Interessenvertretung der internationalen Arbeiterklasse.

Wood ignoriert Lenins und Trotzkis oft geäußerte Zurückweisung jeglicher Ansprüche literarischer Gruppierungen, sich als offiziell sanktionierte "kommunistische Kunst" zu bezeichnen. Trotzki schrieb: "Und schon auf keinen Fall kann und wird die Partei sich auf den Standpunkt einer literarischen Clique stellen, die andere literarische Cliquen bekämpft ... Lässt sich der Standpunkt einer gegebenen Gruppe heute noch nicht erkennen, dann wird die Partei wohlwollend und aufmerksam ... abwarten. Einzelne Kritiker oder einfach nur Leser können ihre Sympathien vorschussweise dieser oder jener Gruppe entgegenbringen. Die Partei im Ganzen muss bei der Sicherung der historischen Klasseninteressen objektiv und weise sein." (Literatur und Revolution, München 1972, S. 182f) Dies ist eine Frage, auf die wir noch mehr als einmal zurückkommen werden.

Indem Wood die linken Künstler mit der Opposition in dieser Schematischen Art und Weise "in eine Reihe stellt", ignoriert er zudem den Unterschied und sogar Widerspruch zwischen den beiden Methoden, die Welt zu erkennen: der marxistisch-wissenschaftlichen und der künstlerischen. Die Tatsache, dass die Sympathie der Künstler für die Revolution nicht automatisch in eine Teilnahme an den Aktivitäten der Opposition umgesetzt wurde, bedeutet beispielsweise nicht, dass sie den Stalinismus oder sein Dogma des "Sozialismus in einem Land" gutgeheißen hätten.

Der Vorgang selbst, wie der Künstler die Welt in Form von Bildern wahrnimmt; die enge Verbindung, die zwischen seinem oder ihrem Lebensbereich und der Sinneswahrnehmung, unmittelbaren Eindrücken und Gefühlen besteht; die große Rolle von Intuition und Unbewusstem in der künstlerischen Arbeit - dies alles ist beinahe schon Gewährleistung dafür, dass der Künstler der Tagespolitik "hinterherhinkt". Der "Ausgleich" dafür besteht darin, dass der herausragende Künstler Wahres ahnt und aufdeckt, das weit über die unmittelbaren Kämpfe hinausgeht.

Wood drängt sich die Frage auf: "Wenn Lef tatsächlich eine Art Entsprechung zur... Linken Opposition war [eine Behauptung, die wir gerade in Frage stellten], warum hat letztere sie dann nicht aufgenommen?" Nach einer kurzen Untersuchung von Trotzkis Literatur und Revolution und Nikolaj Gorlows Futurismus und Revolution zieht er die Schlussfolgerung, dass das, "was ein konstruktiver Dialog hätte sein können" zwischen der Avantgarde und der Opposition tatsächlich begonnen hatte. (Diese Zitate entstammen Woods Text in dem englischsprachigen Katalog The Great Utopia: The Russian and Soviet Avant-Garde, 1915-1932, New York, Guggenheim Museum 1992, S.17 und S. 19. Der deutsche Katalog enthält eine gekürzte Ausgabe des Aufsatzes, in der die Passagen zur Trotzkis Kritik an den Künstlern fehlen.)

Woods Unwissenheit und der "Klumpfuß" seiner kleinbürgerlichen Weltanschauung tritt gerade im Verlauf seiner Betrachtung von Literatur und Revolution offen zutage. Er beschreibt Trotzkis Werk im Jargon postmoderner Kritiker als den "Hauptschauplatz" der "historischen Konfrontation zwischen der Avantgarde und der Linken Opposition".

Portrait Majakowskis von Rodtschenko Portrait Majakowskis von Rodtschenko

Trotzki widmete den Problemen, die der Futurismus und der Formalismus aufwarfen, sechzig gehaltvolle und gedankenreiche Seiten. Bevor Wood und Trotzki kritische Bemerkungen über Wladimir Majakowskijs Gedicht 150 000 000 und Tatlins Monument zur Dritten Internationale eingeht, bemerkt er herablassen: "Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass Trotzki kein Kunstkritiker und zu diesem Zeitpunkt mit den Produkten der europäischen Avantgarde nicht ganz vertraut war... Angesichts seiner Unkenntnis der Mittel der Avantgarde und angesichts der Bedrohung, die diese für sein Bewusstsein - das sich in den Normen der Aufklärung/klassischen Kultur entwickelt hatte - wohl bedeutete, verdient eher Trotzkis Neigung zu Toleranz unsere Aufmerksamkeit, als seine kritische Haltung." (The Great Utopia..., S.18)

Offensichtlich stellt Literatur und Revolution mit seiner "toleranten" und doch kritischen Haltung Wood nicht zufrieden. Man hat das Gefühl, dass er sich besonders über Trotzkis Bemerkung aufregt, wonach der Futurismus "in vielem noch eine bohème-revolutionäre Abzweigung der alten Kunst blieb". (L. Trotzki, Literatur und Revolution, München 1972, S. 12)

Auf der Suche nach weniger kritischen Bewunderern stößt Wood auf die Schriften von Nikolaj Gorlow, einem alten Bolschewisten, der 1924 eine Broschüre mit dem Titel Futurismus und Revolution verfasste. Wood behauptet, dass Gorlow "scharfsinniger ist als Trotzki, was die Beziehungen zwischen der existierenden Kunst und der bürgerlichen Gesellschaft anbelangt. Besonders sein technisches Verständnis der Innovationen der Avantgarde übertrifft jenes von Trotzki..." (The Great Utopia ..., S. 18)

In Literatur und Revolution stellt Trotzki in Bezug auf Gorlows Werk fest, dass darin "unter Missachtung historischer Gesichtspunkte der Futurismus mit proletarischer Poesie identifiziert wird". Gleichzeitig lobt er die Broschüre dafür, dass sie "gescheit und inhaltsreich die formal-künstlerischen Errungenschaften des Futurismus" zusammenfasst. (op. cit. S. 129)

Gorlows Schrift (enthalten in The Futurists, the Formalists an the Marxis Critique, London 1979) ist wertvoll hinsichtlich seiner Analyse speziell von Majakowskijs Dichtung. Jedoch leidet sie an einer simplifizierten und unkritischen Gleichsetzung des Futurismus mit dem Bolschewismus.

Gorlow schreibt in einem typisch vagen Kommentar: "Die Futuristen versetzen dem Geschmack (und somit dem Lebensstil) der Bourgeoisie einen Schlag, während wir Bolschewiki ihrer Ordnung einen Schlag versetzen." Und weiter: "Wie ich bereits gesagt habe, machten die Futuristen die gleiche Revolution wie wir Bolschewiki, aber von der entgegen gesetzten Seite aus." (ebd. S. 194)

Die wirkliche Beziehung zwischen dem Futurismus, zwischen der Avantgarde im Allgemeinen und der Oktoberrevolution ist ein Thema, mit dem sich Trotzki in seinen Schriften ausführlich befasst. Die komplexen sozialen und künstlerischen Fragen und ihre grundlegende Bearbeitung durch Trotzki hat Gorlow nicht begriffen. Wood aber ist unfähig, sie auch nur zu erwähnen.

In Literatur und Revolution bot Trotzki seinen Lesern einen detaillierten, kritischen Überblick über den Futurismus und nahm nicht einfach die oft extravaganten, wenn auch unterhaltsamen Behauptungen Majakowskijs und seiner Kollegen für bare Münze. Er erklärte, dass der Futurismus ein europäisches Phänomen war, das vom soziologischen Standpunkt aus die widersprüchliche Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft widerspiegelte, die Mitte der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts einsetzte.

Während Europa zwei Jahrzehnte eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs durchlebte, der "neue Maßstäbe und Kriterien für das Mögliche und Unmögliche schuf und den Menschen vom Unterbewusstsein her zu immer neuen Wagnissen trieb", dümpelte die offizielle Gesellschaft weiterhin in den alten, stehenden Gewässern. (Literatur und Revolution, S. 105)

Trotzki schrieb: "Die bewaffnete Welt, mit ihrem diplomatischen Flickwerk, dem Dreschen leeren Strohs in den Parlamenten, der Außen- und Innenpolitik, aufgebaut auf einem System von Sicherheitsventilen und Bremsen - all das lastete auch auf der Dichtkunst, während die in der Luft angestaute Elektrizität mächtige Entladungen entließ. Der Futurismus erwies sich als deren, ’Vorahnung’ in der Kunst." (ebd.)

Russischer Futurismus

Wenn Kritiker und Bewunderer wie Gorlow den spektakulären Protesten des Futurismus gegen bürgerliches Leben und bürgerliche Moral derart große Bedeutung beimaßen, wies Trotzki darauf hin, dass sie damit lediglich ihre Unwissenheit über die Entstehung literarischer Strömungen bloßlegten. "Die französischen Romantiker, und mit ihnen auch die deutschen, sprachen über die bürgerliche Moral und das kleinbürgerliche Dasein nie anders als in den allergemeinsten Ausdrücken. Darüber hinaus trugen sie langes Haar, paradierten mit ihrer grünen Gesichtsfarbe und Théophile Gautier trug, um die Bourgeoisie endgültig bloßzustellen, eine sensationelle rote Weste." (ebd. S. 106)

Leo Trotzki Leo Trotzki

Er meinte, dass der russische Futurismus aufgrund seiner Entstehungsperiode zwischen Februar- und Oktoberrevolution gewisse Vorteile genoß: "Er fing die noch unklaren Rhythmen der Aktivität, des Handelns, Ansturms und der Zerstörung ein." (ebd. S. 107)

Das entscheidende Ereignis für die Entwicklung des Futurismus war jedoch nicht literarischer oder künstlerischer Art, sondern bestand in der "Arbeiterrevolution in Russland", die ausgebrochen war, "bevor sich der Futurismus von seinen Kindereien, den gelben Blusen und der überflüssigen Hitzigkeit befreien und eine offiziell anerkannte, das heißt politisch unschädlich gemachte und nur stilistisch ausgenutzte künstlerische Richtung werden konnte." (ebd. S. 107f)

Die Tatsache, dass die Futuristen von der Revolution erfasst wurden, als sie noch eine verfolgte, jugendliche Gruppierung waren, drängte sie in die Richtung der Arbeiterklasse und des Sozialismus. Trotzki fügte jedoch eilends hinzu: "Aber die Merkmale seiner sozialen Herkunft von der bürgerlichen Bohème hat der Futurismus auch auf sein neues Entwicklungsstadium übertragen. In der Vorwärtsentwicklung der Literatur ist der Futurismus nicht weniger ein Produkt der Vergangenheit der Poesie als jede andere literarische Schule der Gegenwart." (ebd. S. 108)

Das ist natürlich genau das, was Wood nicht hören will. Sein gesamtes Bemühen zielt darauf ab, Unebenheiten zu glätten und so den Unterschied zwischen kleinbürgerliche Bohème und dem Bolschewismus aufzuheben.

In einem wohldurchdachten Abschnitt kritisiert Trotzki die Futuristen für ihre gänzlich negative Haltung gegenüber der künstlerischen Vergangenheit. "Der Aufruf der Futuristen, mit der Vergangenheit zu brechen, Puschkin zum alten Eisen zu werfen, Traditionen abzuschaffen u.a.m. hat nur Sinn, wenn er an die alte literarische Kaste, an den geschlossenen Kreis der Intelligenzler gerichtet wird... Aber die Inhaltslosigkeit dieses Aufrufs wird offenkundig, sobald man ihn an das Proletariat umadressiert. Die Arbeiterklasse braucht nicht mit literarischen Traditionen zu brechen, sie könnte es auch gar nicht, weil sie sich ja nie in ihren Fesseln befunden hat. Sie kennt die alte Literatur nicht, sie muß sie sich ja erst aneignen, sie muß Puschkin erst noch bewältigen, ihn in sich aufnehmen - und schon allein damit ihn überwinden." (ebd. S. 108)

(Man tut gut daran, sich diese Worte nochmals in Erinnerung zu rufen angesichts der extremsten Vertreter der sogenannten Multikulturalisten, die vieles an der bürgerlichen Kultur als "weiß", "männlich", "europäisch" usw. abstempeln - sie weisen sämtliche Schwächen der Futuristen, aber keiner ihrer Stärken auf.)

Trotzki erklärt, dass der Bruch der Futuristen mit dem geschlossenen Kreis der Intelligenzler, die nichts mehr zu sagen hatten, nützlich war. Er fügt jedoch hinzu: "Man darf nur nicht die Technik der Trennung zum Gesetz der Weltentwicklung erheben." (ebd. S. 109)

Trotzki verweist darauf, dass Marxisten "immer in Traditionen gelebt und gerade dadurch nicht aufgehört [haben], Revolutionäre zu sein. Wir haben die Traditionen der Pariser Kommune schon vor unserer ersten Revolution studiert und durchlebt. Dann kamen die Traditionen des Jahres 1905 hinzu, von denen wir uns leiten ließen, als wir uns auf die zweite Revolution vorbereiteten." (ebd.)

"Für die Intelligenzler", führt Trotzki aus, bedeutete daher "die Oktoberrevolution eine völlige Zertrümmerung der gewohnten Welt... Für uns war die Revolution dagegen die Verkörperung einer uns gewohnten und innerlich verarbeiteten Tradition... Wir sind in die Revolution hinein gegangen, er aber [der Futurismus] stürzt in sie hinein." (ebd.)

Wenn Trotzki den Futurismus in dieser objektiven Art und Weise auffasste, so tat er dies nicht, um ihn aufgrund der gesellschaftlichen Herkunft seiner Vertreter zu verurteilen, und noch weniger, um ihn als literarische Strömung abzutun. Davon ist er weit entfernt. Er übt hier nicht "Toleranz", um Woods (sehr aufschlussreiche) Wortwahl zu gebrauchen, sondern stellt Überlegungen an, wie der Futurismus in der Lage sein wird, "sich umzubilden und dann in die neue Kunst einzugehen - nicht in seiner alles bestimmenden Eigenschaft, sondern als ein wichtiger Bestandteil der Strömung." (ebd. S. 110)

Wladimir Tatlin Wladimir Tatlin

Natürlich weigerte sich Trotzki - zur großen Enttäuschung der rivalisierenden Richtungen der Avantgarde - dem Futurismus oder irgendeiner anderen "kleinen Künstlerwerkstatt" den Titel "Kommunistische Kunst", "Proletarische Dichtung" oder "Offizieller Vertreter der Künstlerischen Interessen der Arbeiterklasse" zu verleihen. Solche Kategorien gab es nicht und konnte es auch nicht geben. Er betrachtete die verschiedenen lebendigen und "wirklich revolutionären" Gruppierungen als Beitragende zur Schaffung der sozialistischen Kultur, die nur im internationalen Maßstab durch einen geduldigen Kampf herbeigeführt werden konnte - und dazu gehörte die profane Aufgabe, das kulturelle Niveau der unterdrückten Massen zu heben.

Wladimir Majakowskij Wladimir Majakowskij

Im wesentlichen kann sich Wood, wie auch alle anderen kleinbürgerlichen Kommentatoren sowjetischer Kunst - aus dem linken wie auch rechten Spektrum - die revolutionäre Partei nur auf zwei Arten vorstellen: als Unterdrückungsinstrument oder als passiven und unkritischen ("toleranten") Verbündeten der Bohème. Daß Trotzki versucht hat, den Marxismus kreativ als Werkzeug zur Veränderung der Welt und der Ideen einzusetzen, dass Trotzki in einen historischen Dialog mit Majakowskij, Tatlin und den Konstruktivisten getreten ist, um einen Beitrag zu ihrer künstlerischen Arbeit zu leisten - dieser Gedanke liegt außerhalb seines Vorstellungsbereichs.

Die Einwände, die Wood gegen Trotzkis Kritik von Majakowskij erhebt, sind ebenso irreführend oder einfach unwissend, wie herablassend. Wood beschreibt die Reaktion des bolschewistischen Führers auf Majakowskij als "cri de coeur [verzweifelter Stoßseufzer] eines Menschen, dessen Kategorien in Frage gestellt worden sind, ohne dass er über die Mittel verfügt, entsprechend darauf zu antworten." (The Great Utopia, S. 18) Damit verschleiert Wood aufgrund seiner eigenen politischen Haltung eine der bedeutendsten Aussagen Trotzkis in Literatur und Revolution.

Seine Bemerkung über den "cri de coeur" ist einfach absurd und bösartig, so wie all seine herablassenden Behauptungen. Trotzki war möglicherweise die bedeutendste Figur in der Geschichte der marxistischen Literaturkritik, die wiederum die vorausschauendsten Elemente der Ästhetikkritik beinhaltete, die die bürgerlich-demokratischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts hervorgebracht hatten.

Trotzki folgte dem Weg, den Persönlichkeiten von welthistorischer Bedeutung vorgezeichnet hatten: Hegel, der großartige russische Kritiker und revolutionären Demokrat Wissarion Belinski (1811-1848), Marx und Plechanow. Er studierte literarische Tendenzen vor dem Hintergrund eines tiefen Verständnisses über die Beziehung zwischen Kunst und gesellschaftlichem Leben. Seine Analyse über die Bedeutung der verschiedenen künstlerischen Tendenzen, die in der Folge der Oktoberrevolution entstanden, ist historischer Materialismus in seiner reichhaltigsten und überaus beweglichen Form.

Nadeschda Udalzowa - <I>Rote Nackte</I>, 1919 Nadeschda Udalzowa - Rote Nackte, 1919

Natürlich muß man nicht mit jeder einzelnen persönlichen Stellungnahme Trotzkis übereinstimmen. Darum geht es gar nicht. Aber Wood, ein kleinbürgerlicher Kritiker oder Akademiker, versucht Eindringlinge abzuhalten. Er verwehrt den Marxisten das Recht an sich, ihre kritischen Einschätzungen vorzubringen. Er schreibt: " Trotzkis etwas undifferenzierte Kategorien konnten den Werken der Avantgarde, die er seiner Kritik unterzog, nicht gänzlich gerecht werden." (ebd.) Das ließe sich folgendermaßen übersetzen: "Der Marxismus ist ein zu grobschlächtiges und derbes Werkzeug, als dass man es für ein derart sensibles Unterfangen wie die Betrachtung der Kunst der Avantgarde benützen könnte. Überlaßt das den Spezialisten - Leute wie mir!"

(In diesem Zusammenhang ist es sicherlich bezeichnend, dass Wood nicht ein einziges Mal Bezug nimmt auf den Berufsliteraturkritiker Alexander Woronski, den Herausgeber der Literaturzeitschrift Rotes Neuland, der Trotzki intellektuell und politisch am nächsten stand.)

Wood meint, dass der Futurismus Trotzki "erhebliche Schwierigkeiten" bereitet habe. Aus seinem Aufsatz muß man allerdings schließen, dass er selbst mit Literatur und Revolution noch größere Schwierigkeiten hatte. Überheblich ignoriert er Trotzkis detaillierte Analyse der Ursprünge und Entwicklung des Futurismus und befasst sich stundenlang mit recht zweitrangigen Angelegenheiten über das Werk Majakowskijs.

Welche Haltung auch immer ein "Linker" zu Trotzkis Werk als ganzem einnehmen mag, so möchte man doch meinen, dass er dazu in der Lage sein sollte, ein gewisses Maß an Bescheidenheit aufzubringen und wenigstens innezuhalten und einigermaßen ernsthaft die vorgebrachten Anschauungen in Betracht zu ziehen.

Rodtschenkos <I>Spezielle Konstruktion Nr. 5</I>, 1918 Rodtschenkos Spezielle Konstruktion Nr. 5, 1918

Trotzkis Bemerkungen über Majakowskij enthalten eine äußerst wichtige Beobachtung über die Beziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem in der Arbeit des Künstlers. Trotzki erklärt, dass die sozialistische Revolution den Futurismus und die Avantgarde ergriffen und vorwärts getrieben hat. "Die Futuristen wurden Kommunisten. Damit betraten sie den Boden tiefer liegender Probleme, die weit über die Grenzen ihrer alten, kleinen Welt hinausgingen und organisch noch nicht von ihrer Psyche verarbeitet waren. Daher sind die Futuristen, darunter auch Majakowski, künstlerisch in jenen Werken am schwächsten, in denen sie als Kommunisten am vollendetsten auftreten." (Literatur und Revolution, S. 121)

Mit großer Einsicht verwies Trotzki auf diese Tatsache - dass die Probleme der Revolution "organisch noch nicht von (seiner) Psyche verarbeitet waren" - als der Wurzel für die Schwächen von Majakowskijs "politischen" Gedichten.

In seinen Bemerkungen vom 09. Mai 1924 - die unter dem Titel Klasse und Kunst veröffentlicht wurden - erklärte er dazu: "Der Kern der Sache ist, dass die künstlerische Kreativität von Natur aus hinter den anderen Ausdrucksformen des Geistes eines Menschen und noch mehr einer Klasse hinterherhinkt. Etwas zu verstehen und logisch auszudrücken ist eine Sache, aber es ist etwas ganz anderes, es organisch in sich aufzunehmen, das ganze System der eigenen Gefühle neu aufzubauen und für dieses Ganze einen neuartigen künstlerischen Ausdruck zu finden. Jener Vorgang ist organischer, langsamer und dem bewussten Einfluß schwieriger unterzuordnen..."(Class and Art, London 1974, S. 7)

Das war kein Vorwurf. Es war eine ganz offene Einschätzung eines historischen Problems und ein künstlerisches und persönliches Dilemma für Gestalten wie Majakowskij.

Es handelte sich um Künstler, die sich die Revolution sozusagen als intellektuellen Begriff zu eigen gemacht hatten, denen sie aber nicht in Fleisch und Blut übergegangen war und die sie darum nicht in ihrer Dichtung wiedergeben konnten.

Dies ist keine unbedeutende Frage. Wood stößt sich nicht daran, denn seine Auslegung des "Marxismus" verträgt sich durchaus mit einer Bohème- oder akademischen Existenz. Die Notwendigkeit einer kritischen und schmerzhaften Überarbeitung der eigenen Persönlichkeit und Arbeit, die Trotzki anspricht, kommt ihm gar nicht in den Sinn.

Wood möchte dem Leser den Eindruck vermitteln, dass Trotzki einfach zu sehr in der "Aufklärung/ klassischen Kultur" befangen (in anderen Worten, nicht auf dem Laufenden) war, um Majakowskijs Dichtkunst und damit auch seiner Sensibilität Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Möglicherweise. Aber dann sollte er wenigstens ehrlich genug sein, Trotzkis Anmerkungen zu Die Wolke in Hosen zu zitieren - Majakowskijs vorrevolutionärer, hinreißender Huldigung an Liebe, Frauen, Bohème, und vor allem an sich selbst: "Letzten Endes ist,Die Wolke in Hosen’ ein Poem der unerfüllten Liebe, das künstlerisch bedeutendste, schöpferisch kühnste und das am meisten versprechende Werk Majakowskijs. Es fällt einem sogar schwer, zu glauben, dass ein 22 bis 23-jähriger junger Mann ein Werk von so intensiver Kraft und formaler Unabhängigkeit geschaffen hat! Sein,Krieg und Friede’,,Mysterium Buffo’ und,150 000 000’ sind schon wesentlich schwächer, gerade weil Majakowskij hier seine individuelle Bahn verlässt und versucht, in die Bahn der Revolution einzuschwenken." (Literatur und Revolution, S. 130)

Nur ein Dummkopf - oder ein Mitglied des Clubs der empfindlichen Seelen, wo offene Wörter verpönt sind - kann darin etwas anderes sehen, als die denkbar freundlichste und fruchtbarste Kritik.

Trotzkis Bemerkungen zu Majakowskij stehen in direktem Zusammenhang mit einem späteren Abschnitt in Literatur und Revolution, wo er seine Auffassung über die Rolle der Partei in Bezug auf die Kunst zusammenfasst: "Die marxistische Methode bietet die Möglichkeit, die Entwicklungsbedingungen für die neue Kunst zu beurteilen, alle ihre Quellen zu beobachten und die fortschrittlichsten unter ihnen durch kritische Durchleuchtung der Wege zu unterstützen". (ebd. S. 182)

Die rasche Degeneration des bolschewistischen Regimes und der internationalen Arbeiterbewegung ab 1924 verhinderte, dass die "kritische Duchleuchtung" Früchte tragen konnte. Es dauerte weitere 15 Jahre, bevor sich Trotzki wieder diesen Fragen widmen konnte - unter Bedingungen, die unsäglich schwerer waren.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Künstler der russischen Avantgarde schon lange dem Stalinismus sowohl physisch als auch moralisch untergeordnet. Was das "gewaltige" Talent Majakowskij anbelangt, so hatte er 1930 Selbstmord begangen, ein Opfer des offiziellen Kampfs für "proletarische Kultur". Wie Trotzki in einem Nachruf schrieb, war Stalins offiziell sanktioniertes kulturelles Regime "einfach zu einem System bürokratischer Befehle über die Kunst und ein Mittel zu ihrer Verarmung geworden."

Auf der Grundlage dieses kurzen Rückblicks auf Trotzkis Werk kann man bereits feststellen, dass die Gleichsetzung des Futurismus mit "Bolschewismus im Bereich der Kunst" eine Fiktion ist, die in zweierlei Hinsicht Schaden anrichtet. Erstens wird damit versucht, den Bolschewismus zwar rückwirkend, jedoch aus sehr aktuellen Beweggründen, in den Sumpf des Radikalismus abzuschieben. Zweitens wird versucht, jede Auseinandersetzung mit den Auffassungen der heutigen Künstler und Kritiker in die Irre zu leiten oder ganz zu unterbinden.

In der heutigen Zeit, in der ein Teil der Intelligenz unweigerlich auf die kulturelle Stagnation reagieren und sich auf der Suche nach einem Ausweg vielleicht dem Marxismus zuwenden wird, stehen Wood und seinesgleichen bereit, um sie in die Arme zu schließen und entweder zurückzugeleiten oder in jenen zynischen Radikalismus einzuführen, der in kleinbürgerlichen und akademischen Kreisen die Maske des "Marxismus" trägt.

Die politische Evolution der russischen Avantgarde

Viele Künstler, deren Werke in der Guggenheim-Ausstellung zu sehen waren, gehörten der Strömung des Konstruktivismus an. Bevor wir uns einer Analyse des Konstruktivismus zuwenden - dazu gehören auch die Kommentare Trotzkis zu diesem Thema - mag es nützlich sein, die politischen Entwicklungswege der Künstler der russischen Avantgarde konkret zu betrachten.

In einem anderen wichtigen Aufsatz des Ausstellungskatalogs "Konstruktivisten: Die Moderne auf dem Weg in die Modernisierung" geht Hubertus Gaßner unter anderem auf die ideologischen Standpunkte der Avantgarde-Gruppen ein.

Nach der Februarrevolution 1917, in der Zar Nikolaus gestürzt und die Staatsmacht an die russische Bourgeoisie übertragen worden war, wurde der Verband der Kunstschaffenden gegründet, der sämtliche Bereiche künstlerischer Aktivitäten umfasste. Gaßner berichtet, dass ihr "Linker Block" unter der Führung von Persönlichkeiten wie Wladimir Majakowskij, dem Maler Natan Altman, dem Kunstkritiker Nikolai Punin und dem Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold stand.

Der Linke Block, der sich Föderation Freiheit der Kunst nannte, veröffentlichte im März 1917 sowohl in der menschewistischen als auch in der bolschewistischen (es war vor dem April) Tageszeitung eine Erklärung gegen das von der neuen Regierung geplante Ministerium der Schönen Künste. Die Erklärung war von 28 Künstlern unterzeichnet, darunter Alexander Rodtschenko, Wladimir Tatlin und Nadeschda Udalzowa.

Die Föderation fasste ihre wesentlichen Forderungen in einer Broschüre zusammen, die am 21. März auf den Petrograder Straßen verteilt wurde: "Freiheit für die Kunst: Abschaffung der Bevormundung durch die Regierung. Völlige Dezentralisierung des kulturellen Lebens und Autonomie aller Institutionen, die von den städtischen Behörden finanziert werden sollen. Einrichtung eines Allrussischen Künstlerkongresses. Abschaffung aller Akademien und ihre Ersetzung durch Kunsthochschulen, die für die Ausbildung von Kunstlehrern verantwortlich sind. Ersetzung der Patronage durch öffentliche Unterstützung mit Zuwendungen und Förderungen." (zitiert bei Gaßner, S. 113)

Während Gaßner die Wirklichkeit verzerrt, um die angeblichen "anti-intellektuellen" Neigungen der Massen zu unterstreichen, weist er berechtigterweise auf eine wachsende Krise der bürgerlichen Intelligenz in der Periode vor der Oktoberrevolution hin:

"Mit der Radikalisierung der Massen im Sommer 1917 verschärft sich die Krise der Künstler und Intellektuellen...,Intelligent’ und,bourgeois’ verschmelzen im Bewusstsein der radikalisierten Massen zu einem Begriff. Die Künstler, wie die Intelligenzija insgesamt, sieht sich plötzlich ins Lager des Klassenfeindes gestellt... und zu den,überflüssigen Menschen’ der verhassten Vergangenheit gerechnet. Der Bruch zwischen den aufständischen Massen und der Intelligenz kulminierte in der Oktoberrevolution. Die Absetzung der Provisorischen Regierung und die Übernahme der Staatsgewalt durch die Bolschewiki versetzte fast allen außerhalb der radikalen Linksparteien stehenden Intellektuellen einen derartigen Schock, dass sie zunächst für mehrere Monate in Schweigen verfielen, bzw. durch Stillhalten die neuen Machthaber boykottierten." (Gaßner, S.115)

Anatoli Lunatscharski Anatoli Lunatscharski

In der Tat, als der Volkskommissar für kulturelle Bildung, Anatolij Lunatscharskij, einige Tage nach dem revolutionären Aufstand eine breit angekündigte Einladung an die Künstler Petrograds richtete, ins Smolny-Institut zu kommen, um über die zukünftige Zusammenarbeit zu sprechen, fanden sich nur sechs Personen ein: der Dichter Alexander Blok, die Publizistin Larissa Reissner, der Maler David Schterenberg, Altman, Meyerhold und Majakowskij - wobei letzterer seine Beziehungen zu den Bolschewiki kurz danach abbrach und sich nach Moskau absetzte.

Die konservativeren, für Kerenski eingestellten Intellektuellen blieben aufgrund ihrer offensichtlichen Feindschaft den Bolschewiki gegenüber abwesend. Sie hofften, dass die revolutionäre Regierung innerhalb einiger Tage oder Wochen gestürzt werden würde. Viele der extrem linken Künstler weigerten sich aufgrund ihrer anarchistischen Neigungen und weil sie mit Regierungsinstitutionen jeglicher Art nichts zu tun haben wollten, mit dem neuen Regime zusammenzuarbeiten.

Sechs Monate später, nach der offiziellen Gründung von ISO NARKOMPROS (der Abteilung für Schöne Künste im Volkskommissariat für kulturelle Bildung) im Januar 1918, mussten Altman, Punin und der Komponist Arthur Lurje eigens nach Moskau reisen, um die Künstler dort für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. In einem Aufruf, der in der Zeitschrift Anarchija veröffentlicht wurde, riefen sie namentlich die "Genossen Majakowskij und Tatlin" auf, mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten.

Am 21. November wurde Tatlin vom Moskauer Berufsverband der Kunstmaler als Delegierter in den Rat der Moskauer Arbeiter- und Soldatendeputierten gewählt. Wie Gaßner aufzeigt, stand er jedoch "wie viele andere Künstler der Avantgarde den Anarchisten politisch näher als den kommunistischen Bolschewiki." Am 29. März 1918 veröffentlichte er in der Anarchija einen Aufruf an "alle meine Bundesgenossen", der dazu aufforderte "durch das von mir gebotene Tor zum Sturz des Überkommenen zu treten, damit ihr Geist den Weg des Anarchismus beschreiten kann". (zitiert bei Gaßner, S. 117)

Wie bereits erwähnt, war Majakowskij (der von allen wahrscheinlich den Bolschewiki am nächsten stand) nach seinen anfänglichen Besprechungen mit Lunatscharskij ungeduldig geworden und hatte Petrograd verlassen. In Moskau hatte er zusammen mit zwei alten Freunden - dem Maler David Burljuk und dem Dichter Wassily Kamenskij - das Kafe poetow (Café der Dichter) aufgemacht. Die drei gründeten die Föderation der Futuristen, und in der ersten und einzigen Nummer ihrer Zeitung der Futuristen erklärten sie, dass "Futurismus" das ästhetische Gegenstück zum "Sozialismus-Anarchismus" sei und dass nur eine "Revolution des Geistes" die Arbeiter von den Fesseln der alten Kunst befreien könne.

Laut Ilja Ehrenburg war das Café ein Treffpunkt "für Leute, die wenig mit Dichtung zu tun hatten - Spekulanten, Damen von zweifelhaftem Ruf, junge Leute, die sich Futuristen nannten...". (zitiert bei Gaßner, S. 118) Am 14. April 1918 wurde das Café von der revolutionären Regierung geschlossen.

Sowohl Tatlin als auch Rodtschenko hatten in der Initiativgruppe der Moskauer Vereinigung der Anarchistischen Gruppen gearbeitet. Am 2. April 1918 veröffentlichte die Anarchija eine Grußadresse an Rodtschenko, Olga Rosanowa, Udalzowa und andere Mitglieder der Avantgarde: "Voller Stolz schauen wir auf ihr schöpferisches Rebellentum... Wir beglückwünschen den Schaffenden Rodtschenko zu den geistreichen, in drei Dimensionen sich bewegenden Konstruktionen aus Farbflächen..." (ebd. S. 119)

Der "heftigste anarchistische Furor" entströmte der Feder des Malers Kasimir Malewitsch, der zwischen März und Juli 1918 eine Artikelserie für Anarchija schrieb. In den Worten Gaßners: "Das Prinzip der Gegenstandslosigkeit in der Kunst diente ihm als Ausgangspunkt für eine nihilistische Ontologie, die sowohl die materielle Wirklichkeit als auch jegliche Form des Staates verneinte." (ebd. S. 120)

Malewitsch verfluchte diejenigen, die mit dem neuen Regime zusammenarbeiteten und erklärte "unser,ego’ für das Höchste". In einem für ihn typischen blumigen Abschnitt schrieb er: "Die Flagge der Anarchie ist die Flagge unseres Ich und unser Geist wird, wie ein freier Wind, unser schöpferisches Werk in den weiten Räumen unserer Seele flattern lassen." (zitiert bei Gaßner, S. 120)

Vor dem Hintergrund ihres politischen Werdegangs und ihrer manchmal schrillen Äußerungen ist es bemerkenswert, dass im Verlauf des folgenden Jahres buchstäblich alle bedeutenden "linken" Künstler, einschließlich Malewitsch, Tatlin und Rodtschenko, sich damit einverstanden erklärten, mit einer oder mehreren Institutionen des neuen revolutionären Staates zusammen- oder direkt für sie zu arbeiten.

Diese Veränderung ist um so verblüffender angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krise, mit der sie einherging. 1918 war für die Revolution zweifelsohne das schwierigste Jahr. Trotzki schrieb folgendes über den Sommer und das Frühjahr 1918: "In manchen Augenblicken hatte man das Gefühl, dass alles auseinanderkrieche und es nichts gäbe, woran man sich anklammern könnte. Es entstand die Frage: Werden die Lebenssäfte des entkräfteten, verwüsteten, verzweifelten Landes für die Unterstützung des neuen Regimes und die Rettung seiner Unabhängigkeit überhaupt ausreichen? Lebensmittel gab es nicht. Eine Armee gab es nicht. Das Eisenbahnwesen war vollständig desorganisiert. Der Staatsapparat kaum im Werden. Überall eiterten Verschwörungen" (Mein Leben, Frankfurt/M. 1974, S. 341).

Im Januar 1918 stand die bolschewistische Regierung in Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten in Brest-Litowsk. Im Februar, als noch keine Vereinbarung unterzeichnet war, begannen die Deutschen eine Offensive. Im März wurde von den Vertretern der sowjetischen Regierung ein demütigender Friedensvertrag unterzeichnet. Die Linken Kommunisten unter der Führung Bucharins widersetzten sich dem Frieden heftig und forderten einen "revolutionären Krieg".

Im Januar 1918 wurden die anarchistischen Klubs durchsucht und an die 600 Leute - darunter sowohl anarchistische Ideologen als auch kriminelle Elemente - zur Übergabe ihrer Waffen gezwungen. Die Linken Sozialrevolutionäre agitierten offen gegen die Bolschewiki, und eines ihrer Mitglieder ermordete im Juli den deutschen Botschafter Mirbach, um einen Krieg zwischen den beiden Ländern zu provozieren. Im August feuerte die Linke Sozialrevolutionärin Fanja Kaplan in Moskau zwei Kugeln auf Lenin, die ihn beinahe töteten. M.S. Uritzkij, Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewiki und einer der Verantwortlichen für den Kampf gegen die Konterrevolution, wurde am 20. August 1918 in Petrograd ermordet.

So wurden die besten Elemente aus der kleinbürgerlichen Bohème gerade zu der Zeit auf die Seite des neuen Staates gewonnen, als dieser sich in einer Auseinandersetzung mit - neben anderen Kräften - verschiedenen Formen des Anarchismus und des pseudorevolutionären "Linksradikalismus" befand. Es wäre irreführend anzunehmen, dass es den Künstlern dabei einfach nur darum gegangen wäre, ihre eigene Haut zu retten.

Der Bolschewismus grenzte sich während dieser Periode ein für allemal als eine Tendenz, die die internationalen Interessen der Arbeiterklasse repräsentierte, von dem Phrasen dreschenden, kleinbürgerlichen Radikalismus ab. Diese unzweideutige politische Abgrenzung und die Entschlossenheit und Flexibilität, mit der Lenin und die Bolschewiki darangingen, ein neues Leben aufzubauen, gewann die Unterstützung der Künstler.

El Lissitzki - <I>Skizze für Proun1E: Stadt</I>, 1919-1920 El Lissitzki - Skizze für Proun1E: Stadt, 1919-1920

Was Trotzki 1923 in Bezug auf die Linken Sozialrevolutionäre geschrieben hat, lässt sich auf die Bohème der Avantgarde übertragen: "Die Revolution ist höchst begabt darin, sowohl Menschen voneinander zu trennen als auch, wo es nottut, sie zusammenzubringen. Die kühnsten und konsequentesten Elemente der Linken Sozialrevolutionäre sind nun alle bei uns." (Military Writing and Speeches of Leon Trotsky, Volume I, London 1979, S. xxvii).

Nachdem sie auf die Seite der Bolschewiki gewonnen worden waren - wenn auch unter Zögern und Schwanken -, stürzten sich die weitblickendsten Künstler unter Bedingungen äußerster Entbehrungen in eine Vielfalt von Aktivitäten. Rodtschenko schrieb im April 1918 einen Aufruf an die "Künstler-Proletarier", den Gaßener zitiert und der einen Einblick in diese Zeit vermittelt.

Er schrieb: "Wir, deren Lage schlechter ist als die der unterdrückten Arbeiter, sind gleichzeitig Arbeiter für unseren Lebensunterhalt als auch Schöpfer von Kunst. Wir, die wir in Löchern hausen, haben weder Farben noch Licht, noch Zeit für unser Schöpfertum. Proletarier der Pinsel, wir müssen uns zusammenschließen, müssen eine,freie Assoziation der unterdrückten Künstler’ schaffen, Brot und Ateliers und unser Existenzrecht fordern." (S. 127)

Majakowskij malte und verfasste Texte für über 2000 Plakate, die von ROSTA (der Russischen Telegraphenagentur) herausgegeben wurden. Die Plakate waren darauf ausgelegt, das politische Bewusstsein der Arbeiter und Bauern während des Bürgerkriegs zu heben. Ihre Themen reichten von den einfachsten - wie reinigt man sein Gewehr, wie näht man Knöpfe an - bis zum allerkomplexesten - wie zerstört man die Truppen der Weißen Generäle, wie baut man den Sozialismus auf.

Kasimir Malewitsch (Mitte) und Mitglieder von Unowis auf dem Weg von Witebsk zur Ersten Allrussichen Konferenz der Kunstlehrer und -studenten in Moskau, 1920 Kasimir Malewitsch (Mitte) und Mitglieder von Unowis
auf dem Weg von Witebsk zur Ersten Allrussichen Konferenz
der Kunstlehrer und -studenten in Moskau, 1920

Malewitsch lehrte an den neuen Freien Staatlichen Kunstwerkstätten vom Oktober 1918 bis zum Herbst 1919, danach ging er an die Kunstschule in Witebsk und begann die Gruppe UNOWIS (Bejaher der neuen Kunst) zu organisieren. Er, Tatlin, Rodtschenko und Wassily Kandinsky waren alle an der Arbeit der Museumsabteilung der ISO NARKOMPROS beteiligt, das innerhalb von zwei Jahren 36 Museen für moderne Kunst gründete.

Tatlin wurde einer der Leiter der Moskauer Abteilung des ISO NARKOMPROS. El Lissitzky berichtete, dass er selbst und Malewitsch in Witebsk unter anderen Aktivitäten "für ein Fabrikfest 1500 Quadratmeter Leinwand bemalt, drei Gebäude gestaltet und die Bühne für die feierliche Sitzung des Fabrikkomitees im städtischen Theater geschaffen" haben. (zitiert bei Gaßner, S. 121)

Tatlin wie auch Malewitsch erarbeiteten Texte für eine mehrsprachige Zeitschrift mit dem Titel Kunst International, die leider nie erschien.

Die Beziehung zwischen den Künstlern der Avantgarde und den revolutionären Behörden war keineswegs ohne Reibungen; und wir werden etwas weiter unten noch genauer darauf eingehen. Gaßner Schreibt: "Der Moskauer Stadtsowjet sprach sich bereits 1919 gegen die Beteiligung der Futuristen an der Ausgestaltung der revolutionären Feiertage in der Öffentlichkeit aus." (S. 122)

Warwara Stepanowa - <I>Studie zu das Alte studieren, um das Neue zu schaffen</I>, 1919 Warwara Stepanowa - Studie zu das Alte studieren,
um das Neue zu schaffen
, 1919

Rodtschenko und Warwara Stepanowa schrieben zu Beginn desselben Jahres ihr "Manifest der Suprematisten und Gegenstandslosen", in dem sie erklärten: "Laut lobpreisen wir die Revolution als den einzigen Antrieb des Lebens... Wir malten unsere ungestümen Leinwände unter den Pfiffen und dem Gelächter der davonlaufenden Bürokraten und Kleinbürger. Wir wiederholen auch heute, dass wir auch jetzt dem sogenannten Proletariat aus ehemaligen Dienern der Monarchie und Intelligenz, die nun den Platz der vormaligen Beamten eingenommen haben, nicht klein beigeben werden. In zwanzig Jahren wird die Sowjetrepublik stolz auf diese Bilde sein." (ebd.)

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, auf die verschiedenen künstlerischen Schulen Russlands einzugehen, die Zustimmung zu den Zielen der Revolution äußerten. Für unseren unmittelbaren Zweck müssen wir zunächst insbesondere die Tendenz aus unserer Betrachtung auszuklammern, die mit Malewitsch identifiziert wird, um uns denjenigen zuzuwenden, die mit dem Konstruktivismus und mit der Parole "Kunst ins Leben" verbunden werden.

Wassili Kandinski - <I>Das Weiße Kreuz</I>, Januar - Juni 1922 Wassili Kandinski - Das Weiße Kreuz, Januar - Juni 1922

Die Gruppe um Malewitsch als "idealistische" Tendenz und ihre Gegner als "Materialisten" zu identifizieren wäre (auch wenn letztere es gerne so darstellten) eine Vulgarisierung des Marxismus und einfach falsch. Die Wirklichkeit ist viel komplizierter. Tatsächlich hatte Malewitsch, wie auch Kandinsky, ausgehend von seinem Standpunkt des absoluten Idealismus (die Nichtexistenz des Gegenstands, die Welt als reine Sinneswahrnehmung) einige äußerst wertvolle Argumente gegen die auf bloße Nützlichkeit ausgerichteten Exzesse des Konstruktivismus.

Auch schwebten die Mitglieder der UNOWIS-Gruppe trotz ihrer scheinbar kultartigen, utopischen Gemeinschaftsatmosphäre nicht einfach in höheren Regionen. Die künstlerischen Anhänger von Malewitsch beteiligten sich an zahlreichen praktischen Aktivitäten, von der Städtegestaltung bis zum Entwurf von Teekannen.

Auch gab es zwischen den Gruppierungen beträchtliche Überschneidungen intellektueller und sogar stilistischer Art. Auf die eine oder andere Art durchliefen sie alle, oder beinahe alle, die Pflichtstadien des Cézannismus, Kubismus, Kubofuturismus und der "gegenstandslosen" Kunst. Lissitzky, ein späterer Mitarbeiter der begeistertsten Vertreter des Konstruktivismus, war in Witebsk ein engagierter Kollege von Malewitsch gewesen. (1922 erklärte er sogar, dass UNOWIS eine der beiden Gruppierungen sei, die den "Konstruktivismus für sich beansprucht".) Einem Beobachter aus unserer Zeit, der in diesen Dingen kein Spezialist ist, mag man wohl verzeihen, wenn er Tatlin, Rodtschenko, Lissitzky, Ljubow, Popowa, Stepanowa, Rosanowa und Malewitsch alle als Vertreter einer einzigen, vielseitigen Tendenz betrachtet.

Tatlins Modell für das <I>Denkmal für die Dritte Internationale, ausgestellt In Petrograd</I>, November 1920 Tatlins Modell für das Denkmal für die Dritte Internationale,
ausgestellt In Petrograd
, November 1920

Auch fehlte es in diesen Kontroversen offen gesagt nicht an persönlichem Ehrgeiz und "höchstem Ego". Der berühmte Faustkampf zwischen Tatlin und Malewitsch war - wenn er denn stattgefunden hat - sicherlich in den unterschiedlichen künstlerischen Perspektiven begründet, aber er ging zweifellos auch darum, wer in Kunstkreisen den Ton angab. Laut Wassilij Rakitin ("Handwerker und Prophet", ein Artikel im Ausstellungskatalog) malten Tatlins Freunde "das Bild eines,Narren in Christo des Futurismus’, in Worten voller Sympathie gezeichnet; eines Menschen voller Misstrauen, das ans Lächerliche, an Manie grenzt. Malewitsch wurde von ihm geradezu der künstlerischen Spionage verdächtigt." (Die große Utopie, S. 29) "Tatlin errichtete mitten in seinem Atelier eine Art Zelt, das man verschließen konnte... Gott bewahre, dass Malewitsch sehen könnte, was er im Sinn hatte, und ihm zuvorkommen würde." (The Great Utopia, S. 29)

Ungeachtet all dessen bestanden ganz sicher wesentliche Unterschiede, die die eine oder andere Tendenz oder Person in eine günstigere soziale, psychologische oder gewissermaßen sogar physische Ausgangslage versetzten, um einige der Probleme aufzugreifen, die durch die Revolution und die revolutionäre Epoche gestellt wurden. Für unseren Zweck müssen wir die Ursprünge und Entwicklung des Konstruktivismus untersuchen, da seine Befürworter etwas großsprecherisch behaupteten, dass sie sich auf die Prinzipien des Marxismus begründeten.

Exzesse der Avantgarde

Ein Teil der Künstler, besonders die jugendlichsten unter ihnen, verspürten zweifelsohne einen starken Drang, so unmittelbar wie möglich in den Strom der Revolution und das Leben der revolutionären Klasse, des Proletariats, einzutreten.

Es ist kein Zufall, dass eine der Triebkräfte in Richtung Konstruktivismus von der Arbeit der Gesellschaft Junger Künstler ausging, der OBMOCHU, die 1919-20 aus den ersten Freien Staatlichen Kunstwerkstätten hervorgegangen war.

Die zweite Ausstellung der OBMOCHU im Mai 1921 wird im allgemeinen als die erste öffentliche Darstellung des Konstruktivismus betrachtet.

Ausschnitt der zweiten Obmokhu-Ausstellung im Mai 1921 Ausschnitt der zweiten Obmokhu-Ausstellung im Mai 1921

Aber auch vorher war der Kunst und ihrer Bedeutung im neuen revolutionären Arbeiterstaat große Beachtung geschenkt worden. Am 24. November 1918 beispielsweise organisierte ISO NARKOMPROS eine Konferenz in Petrograd zum Thema, ob Kunst "Tempel oder Fabrik" sei.

Mit auf der Rednerliste standen Lunatscharskij, Punin, Osip Brik und Majakowskij. Gaßner erwähnt dazu folgendes: "Punin unterscheidet in seiner Rede die Tätigkeit des bürgerlichen Künstlers, der nur Ausschmückungen und Verzierungen entwerfe, von der Produktion des Arbeiters, der,Material’ bearbeitet und dadurch,Dinge’ hervorbringt."

Punin "erwartet eine,ganz neue Ära in der Kunst’, wenn die Künstler dem Vorbild der Arbeiter folgen und ebenso,Dinge’ fertigen würden." (Gaßner, S. 123)

Im Jahre 1919 kritisierte Punin den Suprematismus von Malewitsch, der an sich lediglich der Verschönerung diene. Die Zukunft der Kunst gehöre Tatlins "Materialkultur". Jener hielt sehr viel von den stofflichen Eigenschaften wie Elastizität, Gewicht, Spannung usw. Er trat ein für "die Ästhetik wirklicher Materialien im wirklichen Raum".

Tatlin bezeichnete seine Werkstätte in den Freien Staatlichen Kunstwerkstätten (wo er im Frühjahr 1919 seine Lehrtätigkeit aufnahm) als die Werkstatt des Materials, des Volumens und der Konstruktion. Aber nicht Tatlin sollte den Konstruktivismus zu seiner logischen Schlussfolgerung führen.

Ein Portrait von Osip Brik von Rodtschenko Ein Portrait von Osip Brik von Rodtschenko

Andere traten begeistert in Punins Fußstapfen. Es erschien offensichtlich, dass die komplexen Probleme der Kunst und der neuen Gesellschaft gelöst waren! In der Wochenzeitung Kunst der Kommune definierte Brik Kunstwerke als "Dinge" und stellte die Formel auf: "Nicht ideeller Dunst, sondern das materielle Ding!"

Bevor wir die schlimmsten Exzesse des Konstruktivismus und der Produktionskunst betrachten - wie die Versuche, künstlerisches Schaffen auf der Grundlage von Henry Fords und Frederick Winslow Taylors industriellen Prinzipien zu organisieren - müssen wir noch auf einige Punkte eingehen.

Die künstlerische Reaktion auf die Vorkriegskunst (sie wird identifiziert mit Sentimentalität, überzogener Sprache und Ausschmückung) wie auch auf den Expressionismus (er wird identifiziert mit kleinbürgerlichem Herumpsychologisieren und Eigenlob) war erstens ein internationales Phänomen. Die russische Avantgarde jedoch wurde von der Oktoberrevolution erfasst, die dem völlig neue Elemente hinzufügte.

Zweitens hatten die Künstler, die im allgemeinen aus der Mittelschicht stammten, unter den schwierigen Bedingungen, die 1921 in der Sowjetunion herrschten, zwingende objektive Gründe, ihre traditionelle Rolle in Frage zu stellen. Sie waren entschlossen zu beweisen, dass sie weder Träumer waren, die im Elfenbeinturm sitzen, noch Salonlöwen, die in Cafés ihre Zeit vertrödeln. Sie arbeiteten unter Bedingungen, wo die Massen nach sieben Jahren imperialistischem Krieg und Bürgerkrieg Hungersnot, Seuchen und allgemeinen wirtschaftlichen Ruin ausgesetzt waren, und die Bolschewiki und die bewußtesten Arbeiter eine heroische Selbstaufopferung zeigten. Die Künstler selbst brachten die Frage auf, "welche Existenzberechtigung es für Künstler heutzutage überhaupt noch gibt".

Drittens waren sehr viele Künstler inspiriert - und hier muß man das Wort "inspiriert" gebrauchen - von dem Gewicht, das der Bolschewismus auf Industrialisierung und Modernisierung legte. Lenins berühmte Aussage: "Kommunismus ist gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung des gesamten Landes" wurde für eine ganze Künstlerschicht zum Schlüsselwort. Wie Trotzki sagte, traten sie ein "für Technik, für wissenschaftliche Organisation, für die Maschine, die Planung, den Willen, den Mut, die Geschwindigkeit und Präzision, für den neuen Menschen, der mit all diesen Eigenschaften ausgestattet ist." (Literatur und Revolution, S. 121)

Sie wünschten sich sehnlich, daran teilzuhaben, Russlands Rückständigkeit mit seiner "Faulheit... Träumerei und Wehleidigkeit" zu überwinden. (ebd.)

Diese Faktoren können die (hoffentlich) als Witz gemeinten Bemerkungen der OBMOCHU-Studenten Georgij und Wladimir Stenberg erklären, wenn nicht sogar entschuldigen: "Sie (die Künstler) sind zu nichts zu gebrauchen. Man sollte sie auf die gleiche Weise behandeln, wie die Tscheka mit den Konterrevolutionären umgeht." (zitiert bei Gaßner, S. 110)

Konstantin Medunezkij erklärte: "Die Kunst endet mit uns". Boris Arwatow, ein Produktionskünstler, der mit dem Taylorismus experimentiert hatte, kam zu dem Schluß, dass "das Ende der Kultur" gekommen sei, weil die Kulturtechniken durch industrielle Techniken ersetzt worden seien. Insofern der Künstler für die Industrie "nicht von Nutzen ist und auch kein Ingenieur sein kann", wurde seine Lage als "tragisch" bewertet. (ebd.)

Die erste Arbeitsgruppe der Konstruktivisten bildete sich im März 1921. Zur Gruppe gehörten Rodtschenko, Stepanowa, die Stenbergs, Medunezkij, Alexey Gan und Karl Joganson. Sie sammelten sich im Institut für Künstlerische Kultur (INCHUK) in Moskau um Prinzipien, die Rodtschenko im Januar 1921 so formulierte: "Alle neuen Ansätze der Kunst entstehen aus Technologie und Ingenieurwesen und führen weiter zu Organisation und Konstruktion" und "Echte Konstruktion ist eine praktische Notwendigkeit". (zitiert in "Der Übergang zum Konstruktivismus", einem Aufsatz im Ausstellungskatalog von Christina Lodder, S. 95)

Christina Lodder schreibt: "In ihrem Programmentwurf vom 01. April 1921, verfasst von Gan, verkündete die Gruppe eine neue Synthese von Kunst und Industrie. Sie wollte ihre rein künstlerischen Versuche auf die Bedeutung von,Laborarbeit’ reduzieren und ihre Experimente mit der Verwendung dreidimensionaler abstrakter Formen auf die reale Umwelt ausdehnen, indem sie sich an der industriellen Herstellung von Gebrauchsgegenständen beteiligte. Die Künstler nannten diese neue Tätigkeit, die sie sich vornahmen,,intellektuelle Produktion’. Sie erklärten, ihre ideologische Grundlage sei ein,wissenschaftlicher Kommunismus, der auf der Theorie des historischen Materialismus aufbaut’..." (ebd.)

Im Verlauf desselben Jahres erklärte Stepanowa in einem Vortrag im INCHUK: "Die Kunst, von ästhetischen, philosophischen und religiösen Auswüchsen befreit, hinterlässt uns ihre materiellen Grundlagen, die von nun an durch intellektuelle Verfahren organisiert werden. Zum Organisationsprinzip wird die zielbewusste Konstruktion, in der die Ästhetik durch Technologie und experimentelles Denken ersetzt wird." (zitiert bei Gaßner, S. 110)

Eine Reihe von Künstlern der Avantgarde lehnten die Auffassung vom Künstler als Ingenieur und das Beharren auf der Notwendigkeit, die "künstlerische Intuition" durch "Professionalität" zu ersetzen, ab - zu ihnen zählten Kandinsky, Malewitsch, Lissitzky und Tatlin selbst, obwohl seine Arbeit ursprünglich als vorbildliches Beispiel hochgehalten worden war.

Bevor der die UDSSR verließ, bemerkte Kandinsky 1920: "Obwohl die Kunstschaffenden im Moment an Problemen der Konstruktion arbeiten (die Kunst hat praktisch keine genauen Regeln), suchen sie die Lösung vielleicht allzu leicht und mit zuviel Begeisterung beim Ingenieur. Und es kann sein, dass sie fälschlicherweise die Antwort des Ingenieurs als Lösung für die Kunst annehmen. Das ist eine sehr reelle Gefahr."

Gaßner schreibt dazu: "Denn weder Tatlin noch die UNOWIS um Malewisch [und Lissitzky] sind generell gegen die Verwendung technischer Arbeitsinstrumente oder technischer Materialien in der Kunst. Im Gegensatz zu den Konstruktivisten im INCHUK aber lehnen sie die Technisierung der Schaffensmethoden und die Reduktion des Schaffensprozesses auf rationale Operationen ab." (S. 126)

Malewitsch bezeichnete die Produktivisten und Konstruktivisten als "Lakaien der Fabrik und Produktion". Er setzte Utilitarismus und Konstruktivismus gleich, und bezeichnete jenen verächtlich als "Auftragskunst".

Ein Eckenrelief von Tatlin, 1915 Ein Eckenrelief von Tatlin, 1915

Tatlin erklärte: "Der Einfluß meiner Kunst drückt sich in der Richtung der Konstruktivisten aus, deren Begründer eben ich bin." (zitiert bei Rakitin, S. 28) Die Moskauer Gruppe und ihre führende Figur Rodtschenko wies er jedoch zurück.

Rakitin schreibt: "Die Konstruktivisten bestätigen das Modell des Lebens, wie es sein könnte - hier bestimmte die Form der Kunst die neuen Formen des Lebens. Tatlin kritisierte die Konstruktivisten als,sogenannte Konstruktivisten’, weil sie, wie ihm schien, den modernen Stil imitierten." (ebd. S. 29)

Die Verwandlung Rodtschenkos in einen glühenden Konstruktivisten ist besonders aufschlussreich. Im Januar 1919 bekräftigte er sein Bekenntnis zum "abstrakten geistigen Schöpfertum". Im März desselben Jahres brachte er anlässlich des Plans für das Museum für Malerische Kultur seine Unterstützung für die Überlegenheit der östlichen gegenüber der westlichen Kunst zum Ausdruck. Er erklärte: "Asiatische Kunst gilt als etwas Geistiges, das mit religiöser Ehrfurcht betrachtet wird... Der Westen hat ein lockeres, materielles Verhältnis zum Schöpfertum; der Osten betet die Kunst an und erhebt sie über alles andere, macht sie nicht zu etwas Nützlichem." (zitiert bei Gaßner, S. 142)

Noch im April 1919 wählte Rodtschenko für den Katalog einer Ausstellung, auf der er seine "Schwarz auf Schwarz"-Malereien zeigte, Zitate von Charakteren wie dem Junghegelianer und Anarchisten/Egoisten Max Stirner und dem Dichter Walt Whitman. Lissitzky bezeichnete Rodtschenko in einer Ausstellungsbesprechung zustimmend als "Individualisten", der mit seinen schwarzen Bildern den "Umschwung zur neuen Stofflichkeit" eingeleitet habe.

Jedoch lediglich zwei Jahre später, im März 1921, war Rodtschenko in der Lage folgendes zu schreiben: "Konstruktion ist ein Ding oder eine Aufgabe, die nach einem präzisen Arbeitsplan behandelt wird, in dem alle Materialien, mit all ihren spezifischen Komponenten organisiert sind und die für ihre korrekte Form benutzt werden, ohne irgend etwas Überflüssiges hinzuzufügen. Der richtige Umgang mit jedem Raum ist Konstruktion." Verächtlich fügte er hinzu: "Die Komposition ist immer Ausdruck des Individualismus und all dessen, was er impliziert." (zitiert bei Gaßner, S,141)

Die Kehrtwende von Stepanowa, der Lebens- und Arbeitsgefährtin Rodtschenkos, kann in Monaten gemessen werden. Noch im Oktober 1920, so schreibt Gaßner, "verteidigt sie das,Wunder’ im Sinne des Unbegreiflichen als ein wesentliches Merkmal jeder Kunst. Auch spricht sie sich entschieden gegen die Gleichsetzung von Mathematik und Kunst aus: "Das formale Herangehen, das man jetzt in der Kunst sucht, ist ein Tribut an den Materialismus der Zeit. Doch wird sich niemand von uns jemals im Schaffen von der Mathematik leiten lassen." (ebd. S. 142)

Im Dezember 1921 hatte sich Stepanowa dann zu der entgegengesetzten Einstellung bekehren lassen: "Der Verstand wird zu unserem Ausgangspunkt, er ersetzt uns,die Seele’ des Idealismus. Daher ist auch der Konstruktivismus im Ganzen ein intellektuelles Produkt (und nicht nur das Denken), das mit dem Geistigen des künstlerischen Tätigkeit unvereinbar isr." (ebd.)

Gaßner schreibt diese Wandlung organisatorischen Maßnahmen der Bolschewiki zu, die dazu führten, dass die Künstler der Avantgarde viele ihrer Stellungen in der Verwaltung verloren. So mussten sie, meint er, "zum dritten Mal, nach der ersten Krise in der Februarrevolution und der zweiten nach dem Oktober 1917, ein neues Selbstverständnis und einen neuen Platz in der Gesellschaft finden." Er bringt ein Zitat von Majakowskij aus dem Winter 1920: "Wir bekennen: zum Teufel mit dem Individualismus, zum Teufel mit den Wörtern, den Empfindungen,... so dass wir uns sogar von unserer eigenen Persönlichkeit lossagen können... den Dichter kann man nicht zwingen, aber er kann sich selbst zwingen." (Zitiert bei Gaßner, S. 144)

Um kurz abzuschweifen, das angebliche In-Ungnade-Fallen der Avantgarde 1921 mit dem Einsetzen der Neuen Ökonomischen Politik wird von Gaßner und in gewissem Maße auch von Wood und anderen als der Anfang vom Ende der progressiven Kunst in Russland bewertet. Eine solche Auffassung würde natürlich das Argument untermauern, dass nicht der Stalinismus, sondern Lenin und der Bolschewismus die bürokratische Unterdrückung der Kunst einführten. Das ist ganz und gar falsch.

Zwei völlig verschiedene Dinge werden hier durcheinandergeworfen: die Tatsache, dass die Kunst im Staat nicht mehr "das Sagen" hatte, wird mit bürokratischem Terror gleichgesetzt.

Ohne viel eigenes Zutun hatten die Avantgardisten in der ersten Zeit nach der Revolution viele staatliche Posten erhalten, weil sie - und das ist ihr Verdienst - zu den wenigen Tendenzen der Intelligenz gehörten, die bereitwillig mit dem neuen Arbeiterstaat zusammenarbeiteten.

Es wäre aber Wunschdenken anzunehmen, dass die vormaligen Anarchisten, denen oftmals das eigene "Ego" nach wie vor als "das Höchste" galt, in allen Fällen faire oder tolerante Verwalter gewesen wären.

Die Futuristen, Suprematisten usw. stellten eine Tendenz dar, die zwar möglicherweise die interessanteste, aber dennoch eine Minderheitstendenz war. Trotzdem versuchten sie nach Kräften, das kulturelle und künstlerische Leben in der UDSSR für sich zu monopolisieren.

Auch waren sie nicht über dumme Provokationen und Possen erhaben. Zenovia A. Sochor beschreibt in Revolution and Culture: The Bogdanov-Lenin Controversy (Ithaca 1988), wie Lunartscharskij einige Jahre später amüsiert erzählte, daß 1918 einige "Beiträge" der Futuristen zu den Revolutionsfeiern etwas daneben geraten waren. Einem dieser Werke, das anscheinend Marx und Engels in eine Art Schwimmbecken versetzte, gaben die Moskauer den Spitznamen "die bärtigen Badenden".

Gustav Kluzis feierte zusammen mit anderen jungen Künstlern den ersten Jahrestag der Revolution, indem er die Sträucher auf bekannten Plätzen in Moskau einfärbte. Auch entlang der Kremlmauer bedeckte ihre Zweige nun ein leuchtendes Blau, die Bäume erglänzten in silbriger Umhüllung. Leider konnte die Farbe nicht wieder entfernt werden, und Lenin beispielsweise fand dies gar nicht lustig.

Lenins berüchtigte Bemerkungen und Gefühle gegen die Futuristen müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Im Mai 1921 schrieb er an Lunartscharskij: "Schämst Du Dich nicht, dafür zu stimmen, dass 5000 Drucke von Majakowskij,150 000 000’ gemacht werden? Das ist Unsinn, zweifacher Blödsinn und Affektiertheit." Am selben Tag schrieb er an M.N. Pokrowskij: "Einigen wir uns doch darauf, dass diese Futuristen nicht öfters als zweimal pro Jahr veröffentlicht werden und nicht mehr als 1500 Drucke davon... Können Sie einige verlässliche Anti-Futuristen ausfindig machen?"

Wenn die bürgerlichen Akademiker diese Zeilen lesen, fangen sie gleich an aufgeregt durcheinander zu rufen: "Von da an geht alles bergab! Direkt zu den Arbeitslagern! Seht, dieser Lenin - was für ein Ungeheuer!"

Diese zartfühlenden Seelen sollten mehrere Dinge berücksichtigen. Erstens hat Lenin seine persönliche Abneigung gegen den Futurismus und seinen eingestandenen konservativen Kunstgeschmack niemandem aufgezwungen. Er äußerte nur seinen Widerwillen gegen die "Affektiertheit" des Futurismus und wies dessen Anspruch zurück, die Dichtkunst der Revolution zu sein.

Zweitens schlug er keine Strafmaßnahmen vor. Er war verärgert, dass zu einem Zeitpunkt, in dem die Papierproduktion auf ein Achtel des Vorkriegsniveaus gesunken war und 75 Prozent der Druckereien wegen Reparaturarbeiten nicht liefen, den Werken nur einer Richtung soviel Zeit und Raum eingeräumt wurde.

Drittens gibt es einen klaren Unterschied zwischen privaten Äußerungen (auch ironischen, wie dass Lunatscharskij "für seinen Futurismus geprügelt werden sollte"), und bolschewistische Politik.

Und viertens: Wie viele bürgerliche Regime, die nicht von Hungersnot und Bürgerkrieg geplagt sind, veröffentlichen die Werke revolutionärer Avantgarde-Dichter in einer Auflage von 5000 oder auch nur 1500?

Wie dem auch sei, als die Bolschewiki der Avantgarde 1921 die offizielle staatliche Unterstützung entzogen, reagierten die vormals staatsfeindlichen Künstler ziemlich verärgert. In den Worten Trotzkis bestanden die Bolschewiki darauf, dass die Avantgarde "sich ihren Weg auf eigenen Füßen bahnt, ohne den Versuch, sich als staatliche Richtung zu dekretieren... Die neuen Formen müssen selbständig den Zugang zum Bewusstsein der fortschrittlichen Schichten der Arbeiterklasse finden..." (Literatur und Revolution, S. 132)

Für die Weltrevolution

Die Beweggründe für den "Krieg" gegen den Individualismus, den sich die Künstler der sowjetischen Avantgarde selbst auferlegten, lagen allerdings nicht im Verlust der offiziellen staatlichen Unterstützung, und schon gar nicht in drohender Unterdrückung.

Es waren objektive Ereignisse ganz anderer Art, von denen sich die Künstler und andere Schichten der Intelligenz stark angesprochen fühlten - Ereignisse, über die ein Philister wie Gaßner nur spotten würde: die weltweite revolutionäre Welle und die Bemühungen um den Aufbau einer neuen Kommunistischen Internationale, wie auch die schlimmen wirtschaftlichen Bedingungen in der UDSSR und die Entbehrungen, die weiter oben bereits angesprochen waren.

Majakowskij, Rodtschenko und andere hatten zweifelsohne die Grenzen ihres früheren Anarcho-Individualismus wirklich erkannt. Hinzu kam die einfache Erkenntnis, dass die Umstände des Bürgerkriegs der Liebeslyrik, wie sie beispielsweise Majakowskij vor 1914 geschrieben hatte, nicht unbedingt förderlich waren.

Vermengt mit diesem gut gemeinten Abschwören war auch ein nicht geringes kleinbürgerliches Element an "Überkompensation". Neben der Reaktion auf bedeutende Ereignisse und einer verständlichen Klassen- und psychologischen Reaktion gab es jedoch noch etwas anderes: Im wesentlichen hatten diese Künstler den Bolschewismus in die Arme geschlossen, ohne seinen wesentlichen Inhalt zu assimilieren. Und diese Kinderkrankheit des "Linksradikalismus" war nicht nur ihnen eigen.

Es ist überhaupt kein Zufall, dass Stepanowa auf den Formalismus Bezug nimmt. Eine Einschätzung der Anschauung des Formalismus und seiner Verbindung zum Futurismus liefert einen Schlüssel zum Verständnis der ideologischen Grundlage für die jähen Wandlungen, auf die wir oben eingegangen sind. Wir müssen einen kurzen Blick auf den Formalismus werfen und dabei für einen Moment seinen wirklichen Beitrag zur Literaturkritik außer acht lassen.

Der Formalismus hatte sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution großen Einfluß unter intellektuell-künstlerischen Kreisen in Russland. Die russischen Formalisten, vertreten durch Schklowskij, Jakobson, Krutschenich und andere, postulierten die Unabhängigkeit des künstlerischen Elements vom Einfluß der gesellschaftlichen Bedingungen. Sie reduzierten ihre Aufgabe in der Literaturkritik auf "die Analyse (im wesentlichen eine beschreibende und halbstatistische) der etymologischen und syntaktischen Eigenschaften poetischer Werke, auf das Zählen sich wiederholender Vokale und Konsonanten, Silben, Epitheta... Für sie beschränkt sich die Sprachkunst vollkommen und endgültig auf das Wort, wie die Malerei - auf die Farbe. Ein Poem ist eine Kombination von Tönen, das Gemälde - eine Kombination von farbigen Flecken..." (Literatur und Revolution, S. 137)

Trotzki führte den Formalismus und seine Behauptung eines unabhängigen ästhetischen "Faktors" auf philosophische Wurzeln im Kantschen Idealismus zurück. Er erklärte: "Was aber die Formalisten betrifft..., so betrachten sie nicht die Dynamik der Entwicklung, sondern deren Querschnitt am Tage und zur Stunde ihrer eigenen philosophischen Erleuchtung. Im Querschnitt stellen sie die Kompliziertheit und Vielfalt ihres Objekts fest (nicht eines Prozesses, denn sie denken nicht in Prozessen). Diese Kompliziertheit zergliedern und klassifizieren sie. Den Elementen geben sie Namen, die an Ort und Stelle in Wesen verwandelt werden, in Subabsoluta..." (ebd. S. 153)

Leo Trotzki Leo Trotzki

Wie Trotzki erklärte, ging er in seinem Buch nicht nur deshalb auf den Formalismus ein, weil er an sich bedeutend war, sondern vor allem, weil er die Futuristen und die Avantgarde insgesamt philosophisch beherrschte. "Ein absonderliches Paradox", schrieb Trotzki, "besteht darin, dass der russische Formalismus sich eng mit dem russischen Futurismus verbunden hat und dass, während der letztere vor dem Kommunismus politisch mehr oder weniger kapitulierte, der Formalismus sich mit allen Kräften dem Marxismus theoretisch entgegenstellte." (ebd. S. 136)

Trotzki sah die Aufgabe nun darin, die ehemaligen Futuristen, die politisch und praktisch vom bolschewistischen Programm überzeugt waren, von ihrer idealistischen Ästhetik zu lösen. Diese Aufgabe erwies sich in gewisser Hinsicht als noch schwieriger als jene, sie von der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution zu überzeugen.

Der Versuch, die neue Bindung an das Proletariat mit der alten Ästhetik auszusöhnen, erklärt wenigstens teilweise das Bemühen der Konstruktivisten, sich von nun an als "intellektuelle Arbeiter" zu bezeichnen. Die Einstellung der Formalisten, Soziales und Psychologisches zugunsten der reinen Technologie abzulehnen, nahm nun neue Gestalt an und präsentierte sich als kommunistische Unversöhnlichkeit.

Formalistische Kälte verwandelte sich in "bolschewistische" Härte, ohne jedoch das Studium des materialistischen Realismus zu durchlaufen. Das erklärt vielleicht die häufigen Misstöne in den Erklärungen Rodtschenkos, in denen Gefühl und Intuition abgelehnt werden.

Eine bürgerliche Wissenschaftlerin wie Christina Lodder wird von den Problemen und Behauptungen der Künstler selbst so verwirrt, dass sie schreibt: Rodtschenko "betrachtete den schöpferischen Akt weniger als einen Ausdruck persönlicher Inspiration, sondern vielmehr als eine quasi-wissenschaftliche Untersuchung der Eigenschaften der Malerei, wie Ton, Farbe, Linie, Struktur und Organisation. Weit entfernt davon, eine modernistische Bestätigung der,Autonomie’ der Kunst zu suchen, war ein solcher Standpunkt der Versuch - den auch die russischen literarischen Formalisten zur gleichen Zeit unternahmen -, die Kunst als eine spezialisierte, quasi-wissenschaftliche Tätigkeit und den Künstler selbst als einen Facharbeiter zu verstehen." (Die große Utopie, S.1999 Hervorhebung hinzugefügt)

Als Formalisten erklärten Rodtschenko und seine Kollegen, dass der Kunstgegenstand als Ding an sich existiere, und zwar außerhalb der Gesellschaft. Als Konstruktivisten erklären sie, dass das Werk des Künstlers als ein rein praktischer Gegenstand für die Gesellschaft existiere, und zwar außerhalb der Kunst.

Trotzki kritisierte diese Befürworter von "Kunst ins Leben", von "Kunst, die das Leben nicht verziert, sondern formt", in Literatur und Revolution aus verschiedenen Gründen. Zuerst zeigte er ihr "utopisches Sektierertum" auf. Er erklärte: "Selbst wenn die Theoretiker des LEF [Linke Front der Kunst] die allgemeine Entwicklungstendenz auf diesem oder jenem Gebiet der Kunst oder des Lebens richtig umreißen, stellen sie aus dieser historischen Antizipation ein Schema, ein Rezept auf und vergleichen es dann mit dem, was da ist.." (Literatur und Revolution, S. 111f)

Noch grundsätzlicher widersprach Trotzki jenen, die die Verbindung von Kunst und Leben als Ultimatum stellten. Er schrieb: "Mit anderen Worten: Die Dichter, Maler, Bildhauer und Schauspieler sollen aufhören widerzuspiegeln und darzustellen, Gedichte zu schreiben, Bilder zu malen, Skulpturen zu schaffen und auf der Bühne Dialoge zu führen und sollen ihre Kunst unmittelbar ins Leben hineintragen. Wie? Wohin? Durch welche Tore?" (ebd. S. 113)

Er argumentierte, dass es kein allzu großes Verständnis erfordern dürfte, zu begreifen, dass aufgrund der wirtschaftlichen und kulturellen Armut Russlands "noch die Gebeine mehrerer Generationen vermodern müssen, bevor die Kunst mit dem Alltag verschmilzt." (ebd. S. 114)

Wie wir aus dieser Antwort auf die extremeren Konstruktivisten und Produktivisten ersehen, legt Trotzki seinen Zweifel zu ihren Gunsten aus. Tatsächlich forderten sie nicht die Verschmelzung der Kunst mit dem Leben auf der Grundlage der ersteren, sondern die Auflösung der Kunst im Alltagsleben in seiner jetzigen Form und auf seinem jetzigen Niveau.

Tatlin hatte durchaus recht, auf das Element im Konstruktivismus hinzuweisen, das einer Anerkennung oder einem Vorschubleisten der vollendeten Tatsachen gleichkam. Kandinsky und Malewitsch hatten in gleicher Weise recht, wenn sie argumentierten, dass die Anbetung des gegebenen Stands von Technologie und Konstruktionswesen den Konstruktivismus mit gemeinem Positivismus und Utilitarismus verband.

Auf jeden Fall verteidigte Trotzki die Kunst energisch gegen ihre linken Abweichler: "...die Kunst als Mittel der Darstellung, als anschauliche Erkenntnis ablehnen - das hieße wahrhaft der Klasse, die eine neue Gesellschaft aufbaut, ein Instrument von allergrößter Wichtigkeit aus der Hand schlagen." (ebd. S. 114)

Er fragte, was es bedeutete, Erfahrung und Psychologie abzulehnen: "Auf welche Weise, mit welcher Begründung und in wessen Namen kann sich die Kunst der Innenwelt des heutigen Menschen zuwenden, der eine neue äußere Welt baut und damit auch an sich selbst arbeitet? Wenn die Kunst dem neuen Menschen bei seine Erziehung, Festigung und Verfeinerung nicht helfen soll, wozu dann eine solche Kunst?" (ebd)

Überzeugend wies Trotzki auch den Versuch zurück, Kunst auf eine intellektuelle Formel zu reduzieren: "Eine rein logische Betrachtungsweise macht die Frage nach der Kunstform völlig überflüssig. Man soll sie nicht mit dem Verstand beurteilen, der über die formale Logik nicht hinausreicht, sondern mit der Vernunft, die auch das Irrationale in ihren Bereich miteinbezieht, soweit es lebendig und lebensfähig ist. Die Poesie ist nicht so sehr eine rationale als eine emotionale Angelegenheit..." (ebd. S. 119, letzte Hervorhebung hinzugefügt)

Welcher Künstler, möchte man fragen, wirft die Kunst einfach aus dem Fenster, sobald neue und geschichtliche Anforderungen an sie gestellt werden? Wofür haben Künstler gekämpft, wenn nicht für eine solche Gelegenheit und Verantwortung? Wenn wir die Kunst als nutzlos zur Lösung großer Probleme ansehen würden, warum sollten wir uns dann überhaupt mit ihr befassen? Welchen "Zweck" hätte dann Kunst überhaupt?

Die extreme Position der Konstruktivisten leugnete tatsächlich, dass Kunst objektives Wissen hervorbringt und dem Menschen bei der Erkenntnis der Wirklichkeit genauso behilflich ist wie die Wissenschaft, wenn auch mit anderen Mitteln und andersartigen Ergebnissen.

Sie reduzierte Kunst auf eine Spielerei, einen Luxusartikel, eine Aktivität von Schmarotzern. Die Verbindung zwischen dem Kantianismus und dem schuldgeplagten Gewissen der Künstler sticht ins Auge. Rodtschenko und seine Kollegen unterschätzten sich und hatten nicht genug Vertrauen in ihr eigenes Wirken. In ihrem Innersten waren sie sich nicht sicher, ob sie nicht doch ihre Zeit vergeudet hatten.

Proletarische Kultur

An diesem Punkt müssen wir uns der Theorie und Praxis der Proletarischen Kultur, ihrer Schnittstelle mit dem Futurismus und dem Nutzen, den die aufsteigende stalinistische Bürokratie aus den Fehlern und der Verwirrung der Linken Avantgarde gezogen hat, zuwenden.

Der Ursprung der Proletarischen Kulturell-Erzieherischen Organisation (PROLETKULT) ist recht interessant und unterscheidet sich stark von dem oberflächlichen Eindruck, den man von der Bewegung hat. PROLETKULT war in der Tat eine unabhängige Organisation, die nur wenige Wochen vor der bolschewistischen Revolution gegründet wurde. Sie ging auf eine Idee von Alexander Bogdanow (1873-1928) zurück.

Bogdanow, den Lenin in seiner berühmten Polemik Materialismus und Empiriokritizismus angriff, war in vieler Hinsicht eine bemerkenswerte Persönlichkeit - Wissenschaftler, Science-Fiction-Autor, Theoretiker - aber philosophisch war er ein Feind des Marxismus. Ein "Ultralinker" während der Jahre der Reaktion, die der Niederlage der Revolution von 1905 folgte, versuchte er die idealistischen Theorien von Ernst Mach mit dem Marxismus zu versöhnen. [1]

Bogdanow wies den Materialismus zurück und behauptete, dass "die Elemente physischer Erfahrung" identisch seien mit der "psychischen Erfahrung", d.h. der Empfindung. Anders gesagt, es wies die Vorstellung zurück, dass die materielle Welt gegenüber dem Denken primär ist. Die Auffassung, dass das Denken die äußere Welt "widerspiegelt", zog er als ordinären, mechanischen Materialismus ins Lächerliche. Auf der Grundlage seiner neokantianischen Auffassung entwickelte er Theorien über Kultur und Gesellschaft, darunter die Vorstellung, dass Politik, Wirtschaft und Kultur völlig eigenständige Bereiche seien.

Die wesentliche Theorie des PROLETKULT lautete folgendermaßen: "Jede Klasse braucht die Kultur nicht nur als eine Widerspiegelung ihrer Ideale und Zielsetzungen, sondern tatsächlich als vorrangiges Instrument, um ihre Erfahrung auf ihre gewünschten Ziele hin zu orientieren; das Proletariat hat keine eigene Kultur, denn wirtschaftliche und politische Kämpfe haben all seine Kräfte aufgezehrt; die bürgerliche Kultur kann zweifellos nicht dazu dienen, die Psychologie des Proletariats zu organisieren; darum muß und kann das Proletariat seine eigene Kultur entwickeln. Es wurde davon ausgegangen, dass jedermann nach einigen Unterrichtsstunden in den handwerklichen Grundlagen zum proletarischen Künstler werden könne." (Maguire, S. 157)

Als Teilelement seiner Theorie machte Bogdanow die Einschätzung geltend, dass die Arbeiterklasse eine kulturelle/psychische Wiedergeburt durchmachen müsse, bevor sie in der Lage sei, in das Reich des Sozialismus einzutreten. Er legte große Betonung auf die Notwendigkeit, die unterwürfigen Gewohnheiten der Vergangenheit abzulegen und Verhaltensweisen, Gebräuche und besonders Autoritätsbeziehungen zu verändern.

Es war kein Zufall, dass Bogdanow, der sich (im Gegensatz zu seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen Lunatscharskij und PokrowskijI den Bolschewiki nicht wieder anschloß, die Oktoberrevolution als "verfrüht" ablehnte. Einige Zeit nach der Revolution schrieb er: "Und wenn (PROLETKULT) nicht stark genug wäre, hätte die Arbeiterklasse nichts, worauf sie sich stützen könnte, außer den Übergang von einer Sklaverei in eine andere, aus dem Joch der Kapitalisten unter das Joch der Ingenieure und Gebildeten." (zitiert bei Sochor, S. 185f)

Im Bereich der praktischen Politik kamen sein Theorien einer Art liberalem Wunschdenken, einer abstrakten Predigt kommunistischer Ethik gleich und, wie ein Kritiker bemerkte, dem Ersetzen ‚des wirklichen, existierenden russischen Arbeiters’ durch ‚ein Phantasiemodell eines Arbeiters’."

Bogdanow erfand einen regelrechten Ersatz für die Zehn Gebote, die er als "Gesetz des Neuen Gewissens" bezeichnete; "(1) Es soll keinen Masseninstinkt geben. (2) Es soll keine Sklaverei geben. (3) Es soll weder Subjektivismus persönlicher Art noch Subjektivismus mit Gruppencharakter geben, usw.

PROLETKULT unterstützte das bolschewistische Regime, und ihm wurde ein halboffizieller Status als Organisation für die kulturelle Erziehung der Arbeiterklasse gewährt, obwohl Bogdanow weit größere Zielsetzungen für die Organisation hatte. Von Anfang an teilte er mit dem Futurismus eine heftige Feindschaft gegen die Kultur der Vergangenheit. Auf der Gründungskonferenz in Petrograd argumentierten einige, "dass man die gesamte Kultur der Vergangenheit als bürgerlich bezeichnen könne, dass sie - außer im Bereich der Naturwissenschaften und technischen Fertigkeiten (und auch da mit Einschränkungen) - nichts Erhaltenswertes aufwies, und dass das Proletariat daran gehen werde, die alte Kultur zu zerstören und die neue unmittelbar nach der Revolution zu schaffen." (zitiert bei Sheila Fitzpatrick, The Commissariat of Enlightenment, Cambridge 1970, S. 92)

PROLETKULT brüstete sich mit seinem reinrassigen proletarischen Stammbaum. Die Organisation kritisierte Lunatscharskij und die Bolschewiki dafür, dass sie von bürgerlichen Experten Gebrauch machten. Bogdanow hatte die Vision einer Arbeiteruniversität und einer Arbeiterenzyklopädie, und zog eine Analogie zwischen der Aufgabe der Bolschewiki und jener der französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts.

Bogdanow, der sich das momentane extrem niedrige Niveau des Wirtschaftslebens in Russland wegwünschte oder es gemäß seiner Theorie der kulturellen Autonomie ignorierte, erklärte: "Wir sind unmittelbare Sozialisten. Wir bekräftigen, dass das Proletariat jetzt und unmittelbar für sich selbst sozialistische Formen von Gedanken, Gefühlen und täglichen Leben schaffen muß, unabhängig von den Beziehungen und Konstellationen der politischen Kräfte." (Sochor, S. 148, Hervorhebung hinzugefügt.)

Im Bereich der Kunsterziehung hat PROLETKULT, soweit man es beurteilen kann, einige nutzbringende Arbeit geleistet. Er eröffnete Ateliers, die für Arbeiter und junge Leute zugänglich waren. 1920 hatte er nach eigenen Angaben 400 000 Mitglieder, von denen circa 80 000 in Ateliers beschäftigt waren.

Diese Arbeit hatte jedoch vorbereitenden Charakter und war notwendigerweise durch einen niedrigen Standard technischen Könnens gekennzeichnet. PROLETKULT erfreute sich der Unterstützung Bucharins, der ihre Bemühungen im Bereich des Theaters ausdrücklich wegen ihrer "Ungeschliffenheit" und "Dilettanz" lobte. Lunatscharskij antwortet darauf mit der Bemerkung, dass es seines Wissens "kein primitives ABC des Kommunismus" gebe, eine Anspielung auf das bekannte Werk Bucharins.

W.I. Lenin bei der Arbeit in seinem Moskauer Büro W.I. Lenin bei der Arbeit in seinem Moskauer Büro

Lenin hielt ein wachsames Auge auf Bogdanows Aktivitäten und wies die Bemühungen seiner Organisation scharf zurück, die Rolle des Bildungskommissariats unter Lunatscharskij, der Gewerkschaften und der Partei selbst an sich zu reißen. Am 1. Dezember 1920 veröffentlichte die Partei einen Brief, der den Anspruch "von Futuristen, Dekadenten, Anhängern einer marxismusfeindlichen idealistischen Philosophie und ... von Müßiggängern aus den Reihen der bürgerlichen Publizisten und Philosophen, den Charakter und die Richtung der proletarischen Kultur zu bestimmen ..." scharf zurückwies.

In Opposition zur Auffassung des PROLETKULT schrieb Lenin: "Wir vertreten nicht die utopische Auffassung, dass die Arbeitermassen für den Sozialismus bereit sind." Er tadelte Bogdanow und seine Mitdenker dafür, dass sie sich "zu ausschweifend und zu leichtfertig über ‚proletarische Kultur’ verbreiten ... Für den Anfang sollten wir froh sein, die groberen Formen vorbürgerlicher Kultur loszuwerden, d.h. bürokratische Kultur oder Kultur der Leibeigenschaft usw." (zitiert bei Sochor, S. 172) Offensichtlich als Folge dieser politischen Opposition setzte Bogdanow sich 1920 vom PROLETKULT ab und widmete sein restliches Leben wissenschaftlicher Arbeit.

In Literatur und Revolution hat Trotzki die Vorstellung einer eigenen "proletarischen Kultur" kategorisch zurückgewiesen. Er erläuterte, weshalb die Analogie, die die Theoretiker des PROLETKULT zwischen der bürgerlichen Revolution und der proletarischen Revolution aufstellten, von Grund auf falsch war:

"Das Proletariat hat ja gerade dazu die Macht ergriffen, um ein für allemal der Klassenkultur ein Ende zu setzen und der Menschheitskultur den Weg zu bahnen. Das scheine wir nicht selten zu vergessen ... Die Entwicklung der bürgerlichen Kultur setzte einige Jahrhunderte früher ein, bevor die Bourgeoisie mit Hilfe einer Reihe von Revolutionen die Staatsgewalt in ihre Hände nahm." (Literatur und Revolution, S. 156)

Die Bourgeoisie war eine kultivierte Klasse, schon bevor sie die Macht übernahm. Zur Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus im internationalen Maßstab erklärte Trotzki, "dass das Proletariat, sobald es das Stadium der kulturellen Lehrzeit verlässt, aufhört, Proletariat zu sein." (ebd. S. 163)

Die neue Kultur des Menschen werde klassenlos sein, und alle Versuche, sie verfrüht mit künstlichen Labormethoden zu schaffen, würden - besonders unter den Bedingungen des rückständigen, isolierten Russlands - zum Scheitern verurteilt sein.

In Passagen, die sich direkt auf Bogdanows idealistische Vorstellungen beziehen könnten, schrieb Trotzki: " ... es [das Proletariat] ist gezwungen, die Macht zu ergreifen, bevor es sich die Grundelemente der bürgerlichen Kultur angeeignet hat; es ist gezwungen, die bürgerliche Gesellschaft gerade deshalb mit revolutionärer Gewalt zu stürzen, weil diese ihm keinen Zutritt zur Kultur gewährt." (ebd. S. 163, Hervorhebung hinzugefügt)

Und weiter: "Das ist fast dasselbe, als wenn man mit den Moralisten und Utopisten erklären würde: vor dem Aufbau einer neuen Gesellschaft müsse sich das Proletariat auf die Höhe der kommunistischen Moral erheben... Aber geraten wir da nicht in einen Teufelskreis? Wie soll man eine neue Gesellschaft mit Hilfe der alten Wissenschaft und der alten Moral aufbauen? Hier muß man nun schon ein wenig Dialektik zu Hilfe nehmen..." (ebd. S. 166)

Anhand des Beispiels einer "proletarischen Wissenschaft" erklärte Trotzki, dass die Arbeiterklasse innerhalb der alten Kultur "gewisse Stützpunkte und gewisse wissenschaftliche Methoden" vorfinde, "welche das Bewusstsein von dem ideellen Joch der Bourgeoisie befreien". (ebd.)

Die revolutionäre Klasse findet und benützt gewisse objektive Fortschritte innerhalb der alten Gesellschaft, wobei sie "je nach Notwendigkeit einen gewissen Prozentsatz in ihr enthaltener reaktionärer Klassenligatur mit in Kauf nimmt. Das praktische Ergebnis rechtfertigt sich im großen und ganzen selbst, denn die unter die Kontrolle der sozialistischen Zielsetzung gestellte Praxis wird allmählich die Theorie, ihre Methoden und Ergebnisse kontrollieren und auswählen. Inzwischen werden auch die unter den neuen Verhältnissen erzogenen Gelehrten herangewachsen sein." (ebd. S. 167)

Dieses tiefe Verständnis über die Beziehung zwischen der alten und der neuen Kultur wurde von Bogdanow ausdrücklich zurückgewiesen und von den Künstlern der Avantgarde gar nicht erst begriffen. Ihre gemeinsame Opposition gegen eine materialistische Auffassung hinderte die beiden Tendenzen im allgemeinen jedoch nicht daran, in Kulturkreisen als bittere Konkurrenten aufzutreten.

Der futuristische Maler David Schterenburg wandte sich mit folgenden Worten an die Anhänger des PROLETKULT: "Ihr Schreit über proletarische Kultur. Ihr beansprucht ein Monopol. Aber was habt ihr während der ganzen Zeit getan, als ihr Gelegenheit genug zum Handeln hattet?... Nichts. Ihr seid ein weißer Fleck." (zitiert bei Fitzpatrick, S 123)

PROLETKULT erklärte seinerseits: "Ja, der PROLETKULT bekämpft Futurismus wie auch Imaginismus und erkennt den Einfluß der sterbenden Bourgeoisie mit ihren pervertierten Geschmäckern sogar in den kommunistischen Futuristen." (ebd. S. 238)

1923 suchte der PROLETKULT, zu dieser Zeit bereits eine schwindende Bewegung, jedoch ein Bündnis mit der LEF. Zwischen den beiden Bewegungen gab es sicherlich Berührungspunkte: "eine fortschrittliche Idee als Arbeitsmodell der Kunst; die Notwendigkeit, die,Psyche’ der Massen durch das Instrument der Kunst zu,organisieren’; der Blickwinkel auf eine sich dauernd verändernde und zukünftige Wirklichkeit anstatt auf statische Bilder des Lebens; die Vorstellung, dass der Künstler nicht ein einzigartiges Genie, sondern Ausdruck eines kollektiven Willens sei; Verachtung für die Kunst der Vergangenheit - und auch für einen Großteil der zeitgenössischen - als,passiv’,,kontemplativ’ und ohne Bezug zu den Aufgaben der Zeit". (Maguire, S. 155)

Aufgrund des Kampfes, den die Bolschewiki gegen ihre idealistischen und utopischen Auffassungen führten, verlor die alte PROLETKULT-Organisation an Einfluß und schrumpfte. Im Dezember 1922 wurde jedoch die OKTOBER-Gruppe gegründet, die behauptete, der einzige Vertreter proletarischer Kultur zu sein. Sie veröffentlichte die Zeitschrift Auf dem Posten (Na Postu).

Die Oktobristen unter der Führung von Awerbach, Wardin, Lelewitsch, Rodow und Wolin wurden schnell mit der Stalin-Fraktion identifiziert und betrieben während der ganzen 20er Jahre eine gehässige Kampagne gegen sämtliche künstlerischen oder intellektuellen Strömungen, die sich von der Bürokratie und deren Interessen abhoben.

Mitte der 20er Jahre wurde die Theorie der proletarischen Kultur zu etwas ganz Anderem als der Vorstellung, für die Bogdanow ursprünglich eingetreten war. Sie wurde zu einer Anpassung an die vorherrschenden ungünstigen Bedingungen und einer Ergänzung zur Theorie des Sozialismus in einem Land.

Im Mai 1925 erklärte Bucharin ausdrücklich, dass Trotzki bei der Zurückweisung des bloßen Gedankens an eine proletarische Kultur einen "theoretischen Fehler" begangen hätte, indem er den "Entwicklungsgrad der kommunistischen Gesellschaft... oder, anders ausgedrückt, die Geschwindigkeit des Schwindens der proletarischen Diktatur" übertrieben hätte. (zitiert bei Sochor, S. 169)

Bucharin behauptete, dass der proletarischen Kultur genügend Zeit für ihre Entfaltung zur Verfügung stehen werde, weil sich die Sowjetunion isoliert über einen langen Zeitraum hinweg zum Sozialismus hinentwickeln werde. (Bogdanow hingegen hatte mehrmals ausdrücklich betont, dass "der Sozialismus in keinem einzelnen Land für sich verwirklicht werden kann.")

Es steht außer Frage, dass die Futuristen-Konstruktivisten, wie auch die frühen Proletkultler bestimmte Parolen, Fragen und ideologische Waffen lieferten, die sich die Stalinisten zu eigen machten und gegen die künstlerische Produktion selbst richteten. Die Tiraden gegen Inspiration, Intuition, gegen "das Seelenvolle", die "Unklarheit" usw. wurden benutzt, um die Künstler in einer späteren Periode herumzukommandieren und in eine Zwangsjacke zu stecken.

Das verächtliche Abtun der bürgerlichen Kultur als reaktionärer Müll und die Zurückweisung aller formellen Betrachtungen wurde jeder künstlerischen Innovation und jedem unabhängigen Gedanken entgegengestellt.

Natürlich darf man nicht vergessen, dass die grundlegende Ursache für den Machtaufstieg der Bürokratie in den ungünstigen objektiven Umständen lag: in den internationalen Niederlagen der Arbeiterklasse und in der Isolierung der Sowjetunion. Ohne die konterrevolutionären Bedingungen der späten 20er Jahre wären die Exzesse der kleinbürgerlichen Bohème, die sich in Kommunisten verwandelt hatte, wohl einfach dies geblieben: Exzesse.

Kritisiert man die Vorstellungen der Futuristen-Konstruktivisten, so muß man auch daran denken, dass sie nicht nur für die Politik, sondern auch für die Kunst Folgen hatten. Die Konstruktivisten für den "Sozialistischen Realismus" verantwortlich zu machen, wäre genauso falsch, wie sie für die stalinistische Tyrannei verantwortlich zu machen.

Und doch muß man feststellen, dass die Beschränkung der Kunst auf Verstand und Konstruktion, auf Propaganda und das unmittelbar Verständliche, einer Rückkehr zu eben dem Naturalismus und Realismus, den die Avantgarde so verabscheute, Tür und Tor öffnete.

Direktor des Experimentellen Theaters Wsewolod Meyerhold Direktor des Experimentellen Theaters Wsewolod Meyerhold

In einem bedeutenden Brief an Meyerhold vom April 1932, den Paul Wood zitiert, trifft Malewitsch diese äußerst wichtige Feststellung: "Ich bin ganz und gar davon überzeugt, dass, wenn Du bei der Form des Konstruktivismus bleibst - in die Du Dich nun verbissen hast - eine Form, die nicht eine künstlerische Fragestellung aufkommen lässt außer der nach reinem Utilitarismus und die in theaterähnlicher einfacher Agitation gehalten ist, was ideologisch hundertprozentig konsequent sein mag, aber hinsichtlich künstlerischer Probleme völlig kastriert ist und die Hälfte ihres Wertes einbüßt - wenn Du so weiter machst... dann wird Stanislawskij als Sieger hervorgehen und die alten Formen werden überleben." (The Great Utopia, S. 24)

Was letztlich den Sieg davontrug, war natürlich etwas viel Schlimmeres, als der alte Naturalismus Stanislawskijs.

Hoffentlich beantwortet die flüchtige Untersuchung des Konstruktivismus und seines ideologischen Unterbaus, die wir oben angeführt haben, auch noch einmal den Versuch Woods, die trotzkistische Linke Opposition mechanisch mit der künstlerischen Avantgarde gleichzusetzen.

Der Stalinismus setzte der politischen Entwicklung der meisten ernsthaften russischen Künstler und Kritiker ein Ende, wie das auch bei den Schichten der Intelligenz weltweit der Fall war, die sich zur Oktoberrevolution hingezogen fühlten. Die gesellschaftliche Atmosphäre, in welcher sowohl eine marxistisch-wissenschaftliche Intelligenz als auch eine Gemeinschaft kühner künstlerischer Experimentierer leben und ihre Arbeit gegenseitig befruchten konnten, wurde von der Bürokratie völlig zunichte gemacht.

Die Verteidigung der Kunst durch einen der Hauptorganisatoren des Oktoberaufstands von 1917 und ehemaligen Führer der Roten Armee gegen einen Teil der fortgeschrittensten Künstler selbst ist eine Ironie, zu der sich weder Wood noch irgend einer seiner Kollegen äußern können.

Allerdings würde Trotzki für sein Interesse an der künstlerischen Reflektion, dem psychologischen Scharfsinn und dem Gefühlsleben nicht nur von den Konstruktivisten der 20er Jahre, sondern auch von jedem Vertreter zeitgenössischer Semiotik, Dekonstruktion, Postmoderne usw., der etwas auf sich hält, in Grund und Boden verdammt werden.

In seinem Aufsatz über die Politik der Avantgarde besitzt Wood die Frechheit, Trotzkis Auffassung verächtlich als "traditionellen Humanismus" zu bezeichnen, worunter er vermutlich Interesse jeglicher Art für das "Menschliche" versteht.

Solche Akademiker und kleinbürgerliche Theoretiker interessieren sich für die Entwicklung der Kunst eben so wenig, wie für die Entwicklung der Arbeiterklasse oder des Sozialismus. Ihre Sorgen kreisen um ihren Ruf als gewagtester "Linker" der "Linken" (solange dies nicht zum kleinsten praktischen Eingreifen in der Arbeiterklasse verpflichtet), oder als Postmodernster der Postmodernisten oder als der kritischste der Kritiker des Postmodernismus.

Hinzu kommen die weltlicheren Angelegenheiten wie ganz Lehrstühle, Regierungsstipendien für Forschung und Karrieren als Herausgeber.

Abschließend soll auf zwei Punkte hingewiesen werden.

Erstens stehen wir heute zweifellos am Rande sozialer Erhebungen, die wieder einmal Teile der Intelligenz zum Sozialismus und zur Arbeiterklasse treiben werden.

"Ohne die elastische Atmosphäre eines sie umgebenden Mitfühlens", schrieb Trotzki, "kann die Kunst weder existieren noch sich entfalten." (Literatur und Revolution, S. 133) Ohne eine Spur Übertreibung kann man sagen, dass eine solche Atmosphäre heute nirgends auf der Welt existiert. Trotz all der tragischen Schwierigkeiten in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, darunter katastrophale Niederlagen und daraus resultierende politische Verwirrung, ist es unvermeidlich, dass die weitsichtigsten Intellektuellen im Lager der sozialen Revolution Stellung beziehen werden.

Eine kritische Auswertung der "russischen Erfahrung" ist darum keine unbedeutende oder akademische Angelegenheit. Natürlich ist es nicht möglich, eine ganze soziale Schicht (besonders eine, die kaum angefangen hat, sich zu bilden) gegen eine Reihe von "Kinderkrankheiten" und andere Übel zu impfen, aber Marxisten haben zumindest die Verantwortung, sich mit einigem Wissen über vergangene Kämpfe hinsichtlich dieser komplizierten Probleme zu wappnen.

Zweitens lassen die in New York ausgestellten Werke die außerordentliche Brillanz und revolutionäre Energie durchscheinen, die sie großen historischen Ereignissen verdanken, obwohl die Organisatoren der Ausstellung und die internationale Armee der Kunstkritiker größte Anstrengungen unternommen haben, sie zu verfälschen oder zu verharmlosen.

Sie erinnern uns daran, wozu Menschen - inspiriert von großen Prinzipien, Gedanken und Gefühlen - fähig sind, und wozu wir selbst fähig sind.

Man kann sich vorstellen, dass die Künstler selbst über Trotzkis Beschreibung ihrer Arbeit als "bedeutende Episode" in der Schaffung einer neuen Kunst vielleicht etwas unzufrieden und ungehalten waren. Er gedachte damit jedoch höchste Anerkennung zu zollen. Er nahm Bezug auf die Zukunft, wenn die Menschen ohne Ausbeutung und ohne das soziale Elend der heutigen Zeit in einer klassenlosen Gesellschaft leben würden.

Er gab zu verstehen, dass Majakowskij, Tatlin, Rodtschenko, Stepanowa, Rosanowa, Popowa und all jene Künstler, die die Sache der Arbeiterklasse und des Sozialismus unter den größten Entbehrungen unterstützten, einen Beitrag zu diesem zukünftigen Leben und seiner Kultur geleistet hätten.

Er schrieb: "Die noch gar nicht so nahe gerückte Zeit, in der die kulturelle und ästhetische Erziehung der werktätigen Massen die tiefe Kluft zwischen den schöpferischen Intelligenzlern und dem Volk überwunden haben wird, wird die Kunst ganz anders sehen als die heutige. Bei ihrer Vorbereitung wird sich der Futurismus als eines der unumgänglichen Glieder erweisen. Ist das etwa zu wenig?" (ebd. S. 133)

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Anmerkungen:

1. Futurismus: Eine Tendenz in der Kunst, die in Italien und Russland ihre volle Entfaltung fand. Der Schriftsteller und Verleger Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944) veröffentlichte 1909 das "Manifest der futuristischen Maler". Die Futuristen entwarfen eine utopische Vision einer vom technischen Fortschritt beflügelten Menschheit. Besonders inspirierten sie die neuen Möglichkeiten der Geschwindigkeit und Energienutzung. Eines ihrer Hauptthemen war die Bewegung. Konstruktivismus: Eine künstlerische Richtung, die 1920-21 in der Sowjetunion aufkam. Sie betonte die "Konstruktion" (Technologie, maximale Zweckdienlichkeit, wissenschaftliche Prinzipien) im Gegensatz zur "Komposition" (Ausdruck der Persönlichkeit, Intuition, Individualismus).

2. Suprematismus: Eine Strömung der rein abstrakten Malerei, die mit dem Namen Kasimir Malewitsch verbunden ist. Die ersten Werke des Suprematismus wurden 1915 ausgestellt. Malewitsch leitete seine aus reinen Farbflächen bestehenden suprematischen "Formen" vom Quadrat ab, aus dem er den Kreis und das Kreuz entwickelte. Er schuf eine neue künstlerischen Ausdrucksweise, die einen weiten Widerhall fand.

3. Wladimir Tatlin (1885-1953): Hervorragender Maler, Bildhauer, Designer und zusammen mit Kasimir Malewitsch führende Persönlichkeit der russischen und sowjetischen Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegs-Avantgarde. Anarchist zum Zeitpunkt der Revolution, wurde er ein großer Anhänger des Bolschewismus. Das Monument, das er für die Dritte Internationale entwarf - bekannt als "Tatlins Turm" - brachte ihm kritische Bemerkungen von Trotzki in Literatur und Revolution ein.

4. Wladimir Majakowskij (1883-1930): Hervorragender russischer und sowjetischer Dichter, bereits während der Revolution 1905 Sympathisant der Bolschewiki. Einer der stärksten russischen Anhänger des Futurismus. Früher und glühender Unterstützer der Oktoberrevolution. Nach seinem Selbstmord wurde er von der stalinistischen Bürokratie zum offiziellen Dichter der Sowjetgesellschaft gemacht. In Literatur und Revolution widmete Trotzki seinem Werk beträchtliche Aufmerksamkeit.

5. Bogdanow, Alexander Alexandrowitsch (1873-1928) - russischer Sozialdemokrat, Philosoph, Soziologe und Ökonom. Er versuchte sein eigenes System des Empiriomonismus zu schaffen, eine Abart des Idealismus, die Lenin angriff. Ein Ultralinker nach der Revolution von 1905, verließ Bogdanow die Bolschewiki und gründete wenige Wochen vor der Oktoberrevolution 1917 den PROLETKULT.

Siehe auch:
Die große Lüge: "Traumfabrik Kommunismus - die visuelle Kultur der Stalinzeit" (13. Dezember 2003)

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