Der Bericht der Historikerkommission über die Geschichte des Auswärtigen Amtes (AA) in der Zeit des Nationalsozialismus hat großes Aufsehen erregt. Auf knapp 900 Seiten weisen die Historiker Eckart Conze, Norbert Frei, Moshe Zimmermann (Israel) und Peter Hayes (USA) nach, wie stark das Außenministerium in die Verbrechen der Nazi-Diktatur involviert war.
Die umfangreiche und sorgfältige Dokumentation lässt keinen Zweifel daran, dass die führenden Mitarbeiter des Außenamts über die Kriegs- und Vernichtungspolitik der Nazis nicht nur informiert, sondern unmittelbar daran beteiligt waren. So befand sich zum Beispiel ein Vertreter des AA unter den 15 hochrangigen Funktionären der NS-Reichsbehörden und Parteidienststellen, die sich im Januar 1942 zur Wannseekonferenz versammelten, um unter Leitung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich die „Endlösung“ der Judenfrage, das heißt den begonnenen Holocaust an den Juden im Detail zu organisieren. In der Folge wurden Transporte in die Vernichtungslager im Außenamt abgezeichnet und organisiert.
Viele Kriegsverbrecher im diplomatischen Dienst konnten nach Kriegsende ihre Karriere im Auswärtigen Amt fortsetzen. Sie verbreiteten systematisch die Legende, die formale Anpassung an die Nazi-Diktatur sei nur der Deckmantel für aktiven Widerstand gegen die Hitler-Diktatur gewesen sei. Diese Lüge wurde 65 Jahre lang aufrecht erhalten.
Entgegen allen damals bereits bekannten Fakten wurden das Nachkriegs-Westdeutschland und die Gründung der Bundesrepublik als demokratischer Neuanfang dargestellt. Bis heute wird versucht, die Rolle der Altnazi-Seilschaften nicht nur im Außenministerium, sondern auf vielen Ebenen der Politik, Wirtschaft und Justiz zu verheimlichen und zu beschönigen.
Ein gutes Beispiel dafür ist Richard von Weizsäcker. Der heute neunzigjährige Weizsäcker war von 1984 bis 1994 sechster Präsident der Bundesrepublik. Er begann seine politische Karriere als Verteidiger seines Vaters Ernst Freiherr von Weizsäcker, der als Kriegsverbrecher in den Nürnberger Prozessen angeklagt war und verurteilt wurde. Selbst nach der Veröffentlichung des Berichts der Historikerkommission verteidigt Richard von Weizsäcker seinen Vater und rechtfertigt sein Verhalten.
Fakt ist: Vater Ernst von Weizsäcker war im April 1938 der NSDAP beigetreten und im gleichen Monat zum SS-Oberführer im persönlichen Stab von Heinrich Himmler (Reichsführer-SS) ernannt worden. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Weizsäcker die Leitung der Politischen Abteilung des Außenamts übertragen bekommen. Vermutlich auf Wunsch Hitlers wurde er 1937 Ministerialdirektor und 1938 erster Staatssekretär des AA. Damit war er nach Außenminister Ribbentrop der zweitwichtigste Mann. In dieser Funktion war er maßgeblich an der Ausarbeitung des Münchner Abkommens beteiligt, was er später damit rechtfertigen sollte, er habe auf diese Weise den Frieden erhalten wollen.
Weizsäcker spielte auch eine Rolle bei der Deportation von Juden, was der Bericht der Historikerkommission erneut bestätigt. Bei Deportationen aus besetzten oder verbündeten Staaten musste das AA seine Zustimmung geben, was es in der Regel auch tat. So äußerste Weizsäcker „keinen Einspruch“, als Adolf Eichmann 1942 6.000 Juden aus Paris nach Auschwitz transportieren wollte. Auch einen Erlass zur Deportation von 90.000 Juden aus Belgien, Holland und Frankreich zeichnete er ab.
Trotz dieser Tatsachen verteidigt der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Verhalten und Vorgehen seines Vaters und behauptet, er habe sich dem Amt nur zur Verfügung gestellt, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern.
Was davon zu halten ist, zeigt der Werdegang von Sohn Richard, der nach Kriegsbeginn trotz seiner Jugend in der Wehrmacht eine Blitzkarriere absolvierte und im Alter von nur 22 Jahren zum Ordonnanzoffizier beim Oberkommando des Heeres aufstieg.
Auch die Behauptung, sein Vater habe dem Naziregime abweisend gegenübergestanden, ist unwahr. Die Historikerkommission zitiert persönliche Aufzeichnungen, die Ernst von Weizsäcker unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme im Februar 1933 verfasste. Darin heißt es: „Unsereiner muss die neue Ära stützen. Denn was käme denn nach ihr, wenn sie versagte! Natürlich muss man auch mit Erfahrung, Auslandskenntnis und allgemeiner Lebensweisheit beiseite stehen. Hierzu bin ich entschlossen...“
Die Kommission kommentiert dies mit den Worten: „Weizsäckers Ausführungen spiegeln die Gedanken und Wünsche der Spitzendiplomaten nachgerade exemplarisch wider: Das liberaldemokratische System, das sie geschlossen ablehnten, sollte durch eine autoritäre Staatsform ersetzt werden, ein Ziel, das der Reichspräsident ‚Projekt der nationalen Erneuerung und Einigung‘ nannte.“
Das ist sehr aufschlussreich. Es macht deutlich, warum Richard von Weizsäcker als ehemaliger Bundespräsident entgegen aller Aussagen des Kommissionsberichts an den alten Lügen über das Außenamt als Hort des Widerstands gegen die Naziherrschaft fest hält. Es geht dabei nicht in erster Linie um die Verteidigung der Familienehre. Die Lüge, die gesellschaftlichen Eliten hätten das Nazi-Regime und seinen Terror abgelehnt, erfüllt eine politische Funktion. Mit ihr wurde gerechtfertigt, dass dieselben Leute nach der angeblichen „Stunde Null“ den geläuterten demokratischen Rechtsstaat aufbauten.
Die Familie Weizsäcker ist geradezu exemplarisch für die Kontinuität der politischen Eliten über die unterschiedlichsten politischen Systeme hinweg. Die aus dem Bildungsbürgertum stammende, 1916 geadelte Familie hat in drei aufeinanderfolgenden Generationen dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, der Nazi-Diktatur und der Bundesrepublik in höchsten Staatsämtern gedient. Karl von Weizsäcker, der Vater Ernsts und Großvater Richards, war von 1906 bis 1918 Ministerpräsident des Königs von Württemberg.
Hinzu kommt noch ein zweiter Gesichtspunkt. Der Bericht der Historikerkommission macht deutlich, dass die führenden Beamten des Außenministeriums trotz ihres Standesdünkels eng mit dem Naziregime zusammenarbeiteten, weil sie mit seinen politischen Zielen übereinstimmten. Die Motive der Angehörigen des Auswärtigen Amts reichten „über Hoffnungen auf einen autoritär gestützten machtpolitischen Wiederaufstieg Deutschlands bis hin zur Übereinstimmung mit den Prämissen der nationalsozialistischen Politik: von der Demokratiefeindschaft bis zum Antisemitismus“, heißt es in der Einleitung des Historikerberichts.
Das aber bedeutet, dass die Politik der NSDAP-Führung nicht von einem Wahnsinnigen namens Adolf Hitler bestimmt wurde, sondern von den politischen Zielen und Interessen des deutschen Imperialismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Die aggressiven Ziele der faschistischen Politik waren die Fortsetzung der Eroberungspolitik des deutschen Kapitalismus, wie Leo Trotzki schon 1932 erklärte.
Die Historikerkommission hat die Mythen über Widerstand im deutschen Außenamt widerlegt und damit dem Lügengebäude über einen angeblich grundlegenden demokratischen Neubeginn nach 1945 einen wichtigen Eckpfeiler entzogen. Nun ist es notwendig, der herrschenden Elite und ihren von Weizsäckers, von und zu Guttenbergs (samt Gemahlin Stephanie, geborene Gräfin von Bismarck-Schönhausen) usw. entgegenzutreten, die bereits wieder über die Vorzüge autoritärer Herrschaftsformen nachdenken.