Drei Tage nachdem französische, britische und amerikanische Bomber damit begonnen haben, ihre tödliche Fracht über libyschen Städten und Dörfern abzuwerfen, hat der Grüne Joschka Fischer einen flammenden Kriegsaufruf veröffentlicht. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung vom Dienstag überschüttet der ehemalige deutsche Außenminister seinen Nachfolger Guido Westerwelle und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit heftigen Vorwürfen.
Die deutsche Regierung, die dem UN-Sicherheitsrat für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied angehört, hatte sich bei der Abstimmung über die Libyen-Resolution der Stimme enthalten. Sie bildete eine Front mit Russland, China, Brasilien und Indien, die sich ebenfalls enthielten, gegen Frankreich, England und die USA. Sie lehnt eine Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg ab.
Westerwelle, so Fischer wörtlich, habe „den Schwanz eingezogen“, als es im Sicherheitsrat zum Schwur kam. „Mir bleibt da nur die Scham für das Versagen unserer Regierung und – leider! – auch jener roten und grünen Oppositionsführer, die diesem skandalösen Fehler anfänglich auch noch Beifall spendeten“, fuhr er fort. Außenpolitik heiße, „harte strategische Entscheidungen zu verantworten, selbst wenn sie in der Innenpolitik alles andere als populär sind“.
Fischer gab sich wenig Mühe, seine Kriegspropaganda mit den üblichen humanitären Phrasen zu verschleiern. Er gab freimütig zu, dass es sich um ein rücksichtsloses militärisches Abenteuer handle: „Die Mission in Libyen ist riskant, die neuen Akteure vor Ort sind so unklar wie die Strategie und die Zukunft des Landes.“ Doch solche Bedenken könnten „keine Alternativen zum Handeln sein“, denn: „Wir reden bei dieser Region über unmittelbare europäische und deutsche Sicherheitsinteressen.“ Es sei „naiv zu meinen, der bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Staat der EU könne und dürfe sich da heraushalten“.
Fischer wirft der Bundesregierung vor, sie habe mit der Stimmenthaltung im Sicherheitsrat die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik beschädigt, Deutschlands Stellung in Europa geschwächt und den „Anspruch der Bundesrepublik auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat endgültig in die Tonne getreten“. Mit anderen Worten: Fischer beharrt auf einer deutschen Kriegsbeteiligung, um die Stellung Deutschlands in Europa, in Nordafrika und auf der ganzen Welt zu stärken.
Diese unverhüllte imperialistische Propaganda kommt nicht überraschend. Sie stammt aus der Feder eines Mannes, dessen politische Karriere mit der Besetzung von Villen im Frankfurter Westend begann, und der heute selbst eine Villa im Berliner Nobelviertel Dahlem bewohnt. Fischer ist die widerlichste Verkörperung jenes Typus, der sich der Protestbewegung von 1968 anschloss, um sie für den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg zu nutzen.
Er hat der herrschenden Klasse immer wieder wichtige Dienste erwiesen. 1998 schwor er die Grünen auf den Krieg gegen Jugoslawien ein, die erste deutsche Teilnahme an einem Angriffskrieg seit 1945. 2001 organisierte er als Außenminister die deutsche Teilnahme am Afghanistankrieg. Auch die Verabschiedung der Hartz-Gesetze, die den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung um Jahrzehnte zurückgeworfen haben, wäre ohne Fischers tatkräftige Unterstützung nicht möglich gewesen.
Fischer steht mit seiner Kritik an der Bundesregierung nicht allein. Die Regierung Merkel ist wegen ihrer Haltung zum Libyen-Krieg innen- und außenpolitisch unter heftigen Druck geraten. Die Kritik zieht sich quer durch die politischen Parteien und wird von einem großen Teil der Medien unterstützt.
Da ist als erstes Fischers langjähriger Freund und politischer Mentor Daniel Cohn-Bendit zu nennen. Der Wortführer der 1968er Pariser Studentenbewegung leitet heute die Grünen-Fraktion im Europaparlament und war die treibende Kraft hinter einer Resolution, die für die Verhängung einer Flugverbotszone über Libyen eintrat. Sie wurde vom Europaparlament nahezu einstimmig angenommen und trug maßgeblich zur Vorbereitung des derzeitigen Krieges bei.
Am Sonntag meldete sich Cohn-Bendit im Berliner Tagesspiegel zu Wort und warf der Bundesregierung vor, sie beschreite einen „deutschen Sonderweg“ und habe „kein Verständnis für Menschen, die sich revolutionär befreien“. Offenbar haben der französische Präsident Sarkozy und der britische Premier Cameron ein solches revolutionäres Verständnis!
Aufsehen erregte auch Klaus Naumann, CSU-Mitglied und in den 1990er Jahren Generalinspekteur der Bundeswehr. Er äußerte sich am Montag in der Süddeutschen Zeitung nahezu wortgleich wie Fischer. Auch er erklärte, er schäme sich für die Entscheidung der Bundesregierung, und warf ihr vor, sie habe deutsche Interessen geschädigt. Naumann hatte 1992 den ersten Entwurf der bis heute geltenden Verteidigungspolitischen Richtlinien verfasst. Sie betrauen die Bundeswehr unter anderem mit der Aufgabe, für die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen“ zu sorgen.
Auch andere führende Vertreter der Regierungsparteien haben die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende öffentlich gerügt. Gedämpft wurde ihre Kritik lediglich durch die Angst, für eine Niederlage bei den bevorstehenden Landtagswahlen verantwortlich gemacht zu werden.
Die SPD ist in der Libyen-Frage gespalten. In einer Bundestagsdebatte am Freitag stellten sich der Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier und der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel hinter die Regierung, während einige SPD-Abgeordneten die Regierung heftig angriffen. Darauf änderte Gabriel seine Haltung. Am Sonntag warf er der Regierung im Tagesspiegel vor, sie habe „keine innere Haltung zu der Bekämpfung dieses mörderischen libyschen Diktators“ und kusche „vor der Macht dieses Öl-Mafioso“. Sie habe „Deutschland durch ihr Abstimmungsverhalten international isoliert und Europa gespalten“.
Auch Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin unterstützte anfangs die Regierung, während andere Vertreter der Grünen für eine Kriegsbeteiligung warben.
Die Regierung Merkel hat ihre eigenen Gründe für die Zurückhaltung im Libyenkrieg. Mit politischen Grundsätzen oder gar mit Pazifismus haben diese nichts zu tun. Sie hatte sich frühzeitig für wirtschaftliche Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime eingesetzt und betont auch heute, dass sie das unmittelbare Ziel des Kriegs – den Sturz Gaddafis – unterstütze. Sie erlaubt es den USA, deutsche Basen für die Angriffe auf Libyen zu nutzen. Die amerikanische Kommandozentrale befindet sich in der Nähe von Stuttgart. Merkel hat auch deutsche AWACS-Luftüberwachungseinheiten nach Afghanistan geschickt, um die USA im Libyenkrieg zu entlasten.
Die Bundesregierung befürchtet jedoch, in Libyen in ein militärisches Abenteuer verwickelt zu werden, in dem nicht sie, sondern Frankreich, Großbritannien und die USA Herr des Geschehens sind. Sie verfolgt in Libyen, Nordafrika und dem Nahen Osten weitreichende wirtschaftliche und politische Interessen und hat Angst, ins Hintertreffen zu geraten, wenn sie sich dem unbesonnen militärischen Vorpreschen ihrer wirtschaftlichen Rivalen unterordnet. Ihre gemeinsame Front mit den sogenannten BRIC-Staaten im Sicherheitsrat ist kein Zufall. Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa orientieren sich die deutsche Exportindustrie und mit ihr die Außenpolitik zunehmend an diesen Ländern.
Die Zurückhaltung der Bundesregierung im Libyenkrieg ist also von imperialistischen Interessen diktiert, und nicht von der Rücksichtnahme auf ein ehemaliges Kolonialland, das zur Zielscheibe eines imperialistischen Angriffs geworden ist. Die heftige Kritik, der sie deshalb ausgesetzt ist, richtet sich aber nicht gegen ihre halbherzige Ablehnung des Kriegs. Sie richtet sich dagegen, dass sie nicht vorbehaltlos an der Bombardierung eines wehrlosen Landes teilnimmt.
Ein imperialistischer Krieg, wie er gegenwärtig gegen Libyen geführt wird, ruft unweigerlich heftige Spannungen zwischen den Großmächten hervor, die zur Ursache weiterer und größerer Kriege werden. Die damit verbundene strategische Neuorientierung führt zu heftigen innenpolitischen Konflikten. Das ist der Hintergrund der gegenwärtigen Auseinandersetzung über die deutsche Haltung im Libyen-Krieg. Die Arbeiterklasse kann dabei keines der kämpfenden Lager unterstützen. Sie muss ihre eigene, unabhängige Politik entwickeln und den Kriegstreibern auf beiden Seiten in den Arm fallen.