Am 7. März ging das italienische Kriegsschiff “Libra” im Hafen von Bengasi vor Anker. Seine Anwesenheit in Libyen ist Ausdruck des geostrategischen Kalküls der italienischen herrschenden Klasse. Sie möchte sicherstellen, dass Italien in Libyen an vorderster Front steht; und gleichzeitig möchte sie die Massenopposition gegen die marktwirtschaftlichen Reformen ersticken.
Die italienische Regierung von Premier Silvio Berlusconi brauchte nur wenige Tage, um eine Kehrtwende um 180 Grad zu vollziehen und ihre bisher stramme Unterstützung für Oberst Muammar Gaddafi aufzugeben. Stattdessen bereitet sie jetzt eine Militärintervention vor, um unter dem Vorwand „humanitärer Hilfe“ ihre imperialistische Kontrolle wiederherzustellen.
Im August 2008 hatte derselbe Berlusconi noch eine Allianz der Freundschaft und Zusammenarbeit mit Gaddafi geschmiedet. Davor hatten diplomatische Spannungen das Verhältnis zwischen Libyen und seiner früheren Kolonialmacht Italien bestimmt. Der Vertrag von 2008 regelte eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder und enthielt eine strikte Einwanderungskontrolle. Er besagte, dass Italien für die 32 Jahre Kolonialherrschaft in Libyen fünf Milliarden Euro Reparationszahlungen leisten werde. In jener Zeit von 1911 bis 1943 war die Bevölkerung des afrikanischen Landes durch die brutale italienische Kolonialherrschaft stark dezimiert worden.
Der Vertrag von 2008 wurde in Bengasi unterzeichnet, wo heute der libysche Nationale Übergangsrat tagt, ein bürgerliches, Gaddafi-feindliches Gremium unter Führung des früheren Justizministers Mustafa Mohamed Abud Al Jeleil. Die Berlusconi-Regierung hat am 28. Februar 2011 Kontakt mit diesem politische Gremium aufgenommen.
Den Vertrag von 2008 hatte die US-Diplomatie genau registriert. WikiLeaks hatte eine Depesche vom Juni 2009 enthüllt, in der der amerikanische Botschafter in Rom schrieb: „Berlusconi setzt Italiens Politik erweiterter Beziehungen zu Libyen fort, vor allem um den Zufluss ungeregelter Einwanderung von der libyschen Küste her zu stoppen, aber auch, um italienischen Unternehmen, vor allem der ENI, vorrangigen Zugang zu Libyens Ölvorkommen zu verschaffen.“ ENI ist ein italienischer Öl-Multi.
In der Depesche heißt es weiter: “Aufgrund des libysch-italienischen Freundschaftsvertrags von 2008 – der Libyen zu strikten Maßnahmen gegen ungeregelte Einwanderung von seinen Küsten nach Italien verpflichtete, dem Land aber auch fünf Milliarden Dollar Entwicklungshilfe verschaffte – wird der libysche Führer Gaddafi Rom vom 10.-12. Juni einen historischen ersten Besuch abstatten, kurz vor Berlusconis Visite in Washington.“
Gaddafis Besuch fand auch wirklich statt. Der libysche Führer landete im Juni 2009 auf dem Militärflugplatz Ciampino und hielt ein Bild von Omar al-Mukhtar hoch, dem Führer des libyschen Widerstands gegen die italienischen Kolonialherren, der 1931 von Mussolinis Faschisten gefangen und gehängt worden war. Dies war Gaddafis erster offizieller Besuch in Italien.
Bei der Gelegenheit sprach Berlusconi über eine “wahrhafte Partnerschaft zwischen Italien und Libyen mit einer starken Zusammenarbeit auf zahlreichen Gebieten, angefangen von der gemeinsamen Position in internationalen Fragen bis hin zu enger Kollaboration auf ökonomischem Gebiet“. Er sagte Reportern, er habe Gaddafi in den letzten fünfzehn Jahren „viele Male getroffen und eine wahre und tiefe Freundschaft entwickelt. Ich schätze an ihm seine große Weisheit.“
In einer anderen Depesche eine Woche später warnte die US-Botschaft in Tripolis: “Steigende Ölpreise erlauben es Libyen, mit ausländischen Öl- und Gasproduzenten striktere Langzeitverträge abzuschließen. Ein erweiterter Vertrag über 25 Jahre mit der italienischen Gesellschaft ENI North Africa BV enthielt eine beträchtliche Bonus-Zahlung und reduzierte den Produktionsanteil der Gesellschaft dramatisch; er wurde kürzlich nach langen Verhandlungen ratifiziert. Dieser Deal mit ENI könnte beträchtliche Auswirkungen haben.“
Für Italien ist Libyen ein wichtiger Wirtschaftspartner. Seine Wirtschaft ist stark von Libyens Öl und Gas abhängig. Italien importiert über achtzig Prozent seiner Energie aus dem Ausland und bezieht 25 Prozent davon aus Libyen. Dabei stecken libysche Ölgelder nicht nur in italienischen Banken und Energiegesellschaften, sondern auch in Textil-, Automobil- und Bauunternehmen, in der Rüstung, im Luftverkehr und in Fußballclubs.
Doch heute ist Gaddafis Regime von einer Opposition bedroht, und darin sind zwei unterschiedliche gesellschaftspolitische Kräfte aktiv. Auf der einen Seite steht der Widerstand der Bevölkerung, die sich gegen Gaddafis kapitalistische Politik und gegen die Unterdrückung der politischen Freiheit durch sein Regime wehrt.
Auf der andern Seite sind ehemalige Spitzenfunktionäre des Gaddafi-Regimes, die nach dem Ausbruch der Massenproteste der letzten Wochen die Seite gewechselt haben. Dazu zählt Gaddafis früherer Justizminister Mustafa Abdel Jalil und der frühere Innenminister, General Abdul Fattah Younis al Obaidi. Diese Politiker wollen um die Macht kämpfen und haben die imperialistischen Regierungen der USA, Englands, Frankreichs, Deutschlands und Italiens um Hilfe und auch um militärische Unterstützung gebeten.
In der Hoffnung, der Oberst werde wieder die Kontrolle über das Land gewinnen, hatte die italienische Regierung anfangs eine vorsichtige Haltung eingenommen. Als jedoch immer klarer wurde, dass die Arbeiterklasse auf dem Vormarsch war, und das Risiko bestand, dass die Ölfelder unter die Kontrolle der Aufständischen fallen könnten, versuchte die Berlusconi-Regierung, neue Beziehungen mit Schichten der Bourgeoisie anzuknüpfen, die die Fortsetzung der für Italien günstigen Wirtschaftsbeziehungen sicherstellen könnten.
Dies war der Grund, warum der italienische Außenminister Franco Frattini am 28. Februar den Freundschaftsvertrag aufkündigte. Die italienische Nachrichtenagentur ANSA berichtete, Frattini habe sich besonders darauf bezogen, dass Gaddafi die Ölfelder nicht mehr unter Kontrolle habe, und habe betont: „Italien hat Kontakte mit dem neuen Libyschen Nationalrat“.
Diese Entscheidung hat unmittelbare militärische Implikationen. Der Vertrag von 2008 beinhaltete einen Nichtangriffspakt zwischen den zwei Ländern. Jetzt zieht sich Italien einseitig daraus zurück. In Anbetracht von Italiens strategischer Lage im Herzen des Mittelmeeres und unmittelbar nördlich von Libyen, ist klar, dass eine internationale Aktion gegen Libyen eine Teilnahme Italiens erforderlich machen würde.
Italien bereitet sich darauf vor, in Libyen und in der ganzen Region eine wichtige Rolle zu spielen. Damit will es seiner tiefen Wirtschaftskrise gegensteuern und der Gefahr zuvorkommen, dass die Volksaufstände aus Nordafrika nach Italien überspringen.
Am Samstag gab die Berlusconi-Regierung bekannt, sie schließe sich der EU-Entscheidung an, libysche Geldanlagen in Italien einzufrieren. In Anbetracht der Rolle, die diese Anlagen jedoch für die italienischen Finanzen spielen, geht die italienische Regierung eher vorsichtig vor. Laut dem Wall Street Journal wird die Entscheidung „sich nicht auf Anlagen der libyschen Zentralbank und des staatlichen Vermögensfonds Libyan Investment Authority [LIA] beziehen, die beide Anteile an mehreren italienischen Schlüsselkonzernen halten“.
Die LIA kontrolliert 7,5 Prozent der italienischen Bank UniCredit und zwei Prozent des großen Rüstungs- und Luftfahrtkonzerns Finmeccanica, beträchtliche Anteile an Fiat, ENI, wie auch dem Fußballclub Juventus Turin. Die Kapitalspritze des Fonds in das italienische Bankensystem trug nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers im September 2008 dazu bei, eine Finanzkatastrophe zu vermeiden.
Doch die Finanzturbulenzen sind bei weitem nicht ausgestanden. Die Financial Times berichtet, dass Mario Draghi, Chef der italienischen Notenbank, fordert: „Italienische Banken müssen ihre Bilanzen in Ordnung bringen, bevor im Sommer die europäischen Stresstests stattfinden.“ Banken wie UniCredit, Intesa und MPS gehören zu den am schwächsten kapitalisierten Banken Europas und werden zusätzliche Gelder benötigen, um den Regeln von Basel III zu genügen.
Außerdem wurde Berlusconi vor kurzem auf der Tagung der Europäischen Volkspartei (EPP) in Helsinki sehr deutlich, als er von einem Wechsel „zur Demokratie wie in Tunesien und Ägypten sprach, der bevorzugte Wirtschaftsbeziehungen möglich machen wird“. Er brachte „für alle Länder, die diesen Wechsel durchführen“ ausdrücklich einen neuen Marshallplan über zehn Milliarden Euro ins Gespräch.
Wie in Amerika und den europäischen Ländern gibt es auch in Italien einen Flügel der herrschenden Klasse, der eine Militäroption mit Vorsicht betrachtet. Im Prinzip sind sie alle nicht dagegen, jedoch fürchten sie Erschütterungen der internationalen Beziehungen, da sich in einer krisengeschüttelten Weltwirtschaft immer stärkere Rivalitäten abzeichnen. Darüber hinaus könnte eine Militärintervention eine umfassende Revolte der arabischen Arbeiterklasse gegen die seit Jahrhunderten währende imperialistische Unterjochung entfesseln.
Begriffe wie “humanitäre” Hilfe feiern ihr Comeback, mit denen imperialistische Politiker versuchen, den Klassencharakter ihrer geplanten Intervention zu maskieren.
Die italienische bürgerliche “Linke” unterstützt die Interventionspläne. Ihr kommen diese Theorien flüssig über die Lippen. Der ehemalige Ministerpräsident Massimo D’Alema, eine führende Figur der Demokratischen Partei und früher der stalinistischen Kommunistischen Partei Italiens, erklärte seine ungeteilte Unterstützung für die imperialistischen Ambitionen der Berlusconi-Regierung. „In Zeiten wie dieser muss eine Oppositionskraft die Ziele benennen und die Regierung zum Handeln drängen.“
Als Ministerpräsident erlaubte D’Alema der Nato 1999 im Kosovo-Krieg, den italienischen Luftraum gegen Serbien zu nutzen. Dies war das zweite Mal seit dem zweiten Weltkrieg (das erste war im Golfkrieg von 1991), dass Italien an einer Militäroffensive teilnahm. Das wurde damals ebenfalls als „humanitäre“ Mission bezeichnet.
Laut Nichi Vendola, dem Führer von Sinistra Ecologia Libertà, besteht das Ziel darin, Gaddafi zu stürzen. Vendola ist bereit, den Nationalen Übergangsrat anzuerkennen, eine heterogene Gruppe von gewendeten Gaddafi-Ministern und Funktionären, wenn nur Gaddafi selbst gestürzt wird.
Am Tag nach der Landung des italienischen Kriegsschiffs im Hafen von Bengasi, erhob Liberazione, die Zeitung von Rifondazione Comunista, die Forderung: „Diplomatie statt Bomben“. Die „offizielle“ Opposition schreibt: „Jetzt ist eine von der ganzen internationalen Gemeinschaft unterstützte starke UN-Initiative für eine Verhandlungslösung nötig, die den Bürgerkrieg austritt und die Demokratisierung des Landes einleitet.“
Hinter dem leeren Antikriegsgerede und der “antikapitalistischen” Rhetorik gibt Rifondazione einer Diplomatie ihre ungeteilte Unterstützung, die auch nur ein Instrument des Imperialismus ist. Die UNO ist in Lenins Worten nichts weiter als eine „Diebesküche“. Man muss nur die imperialistische Bilanz der letzten zehn Jahre im Irak und in Afghanistan mit ihren hunderttausenden Toten betrachten, um die Rolle der UNO als internationalem Vermittler imperialistischer Interessen zu verstehen. Ganz zu Schweigen von der Bilanz der 1990er Jahre mit Ruanda, dem Irak, Serbien, dem Kosovo und dem Sudan, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Alle “linken” Gruppen haben eins gemeinsam: sie lehnen es ab, die Arbeiterklasse unabhängig im Kampf um die Arbeitermacht in Libyen zu mobilisieren, um den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens und des Maghrebs aufzunehmen.