Auf Einladung des Instituts für Zeitgeschichte hält am 6. Juni 2011 der amerikanische Historiker Alexander Rabinowitch an der Universität Wien einen Vortrag über sein jüngstes Buch „Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“. Die Veranstaltung wird durchgeführt mit Unterstützung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und des MehringVerlags, der die deutsche Ausgabe des Buches herausgebracht hat.
In einer Podiumsdiskussion wird anschließend Univ.-Doz. Dr. Finbarr McLoughlin mit Professor Rabinowitch über sein Buch diskutieren. Er ist ein Kenner der Geschichte der Sowjetunion und hat vor allem zum stalinistischen Terror der 1930er Jahre und dessen Opfern unter den Mitgliedern der Kommunistischen und Sozialdemokratischen Partei Österreichs und anderer Länder Europas geforscht und publiziert.
„Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“ ist das Ergebnis einer sich über mehr als drei Jahrzehnte erstreckenden Forschung, die seit 1991 die Archive der ehemaligen sowjetischen Partei und Regierung und seit 1993 auch die des KGB einschloss. Es dokumentiert und analysiert detailliert die politischen Konflikte innerhalb der Bolschewistischen Partei nach der Machteroberung im Oktober 1917 und die Auseinandersetzungen mit anderen Parteien wie der der Sozialrevolutionäre um die Zusammensetzung der revolutionären Regierung, die Konstituierende Versammlung, die Verhandlungen zum Frieden von Brest-Litowsk. Sehr anschaulich zeigt es die enormen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten auf, mit denen der junge Arbeiterstaat nach vier Kriegsjahren und der Besetzung weiter Teile des Landes durch die deutschen Armeen konfrontiert war.
Gegenwärtig forscht Alexander Rabinowitch in den Archiven von St. Petersburg. Er arbeitet an seinem nächsten Buch über das zweite Regierungsjahr der Bolschewiki, in dem sich diese Schwierigkeiten, wirtschaftliche und soziale Not im Inneren, militärischer Druck von außen, noch vervielfachten.
Das World Socialist Web Site befragte Alexander Rabinowitch vor seiner Reise nach Wien über seinen Werdegang als Historiker und seine Arbeit zur Geschichte der Russischen Revolution.
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WSWS: Wie haben Sie ein so großes Interesse an russischer Geschichte, Kultur, und vor allem an der Oktoberrevolution entwickelt, dass Sie Ihr Leben damit verbracht haben, dies zu studieren?
Das hat sich von selbst ergeben. Meine Eltern waren gebürtige Russen, und ich bin in einer Gemeinde von russischen Emigranten in Neuengland aufgewachsen, wo ich von bedeutenden russischen Intellektuellen umgeben war. Darunter waren Michael Karpovich, Harvard-Historiker, ehemaliger Sozialrevolutionär und Pionier der Russistik in den Vereinigten Staaten; und Boris Nikolajewski, ein führender Menschewik, außerdem Archivar und Historiker der russischen Sozialdemokratie.
WSWS: Was haben Sie durch Ihre Forschung und schriftstellerische Tätigkeit hauptsächlich zu erreichen versucht?
Unter dem Einfluss der Mitglieder der Emigrantengemeinde, in der ich aufwuchs, und deren Leben durch die Oktoberrevolution und auch durch den Kalten Krieg auseinandergerissen wurde, war es ursprünglich mein Ziel, einen gefährlichen Feind besser zu verstehen. Aber schon ganz am Anfang meiner Nachforschungen wurde mir klar, dass die Oktoberrevolution und die revolutionäre Erfahrung Russlands im Allgemeinen ein komplexer, allerdings kaum verstandener und kaum erforschter politischer und sozialer Prozess von immenser historischer Bedeutung waren. Von da an war es mein Ziel – und ist es immer noch -, diesen Prozess zu verstehen und so objektiv wie möglich zu rekonstruieren, und zwar auf eine Art und Weise, die für Experten genauso verständlich ist, wie für den Durchschnittsleser, der nur genaue Kenntnis über eines der wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte erlangen will.
WSWS: Aus welchen Quellen konnten Sie sich vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion für Ihre Arbeit bedienen?
Ich bediente mich hauptsächlich aus damals aktuellen Zeitungen, veröffentlichten Dokumenten und Memoiren, und unveröffentlichten Memoiren, die in so bedeutsamen westlichen Archiven für slawische Materialien, wie der New York Public Library oder besonders dem Hoover-Archiv und der Bibliothek der Stanford University verfügbar waren. Allerdings begann zu der Zeit, in der ich mit meinen Recherchetätigkeiten begann, auch der akademische Austausch zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Während des Studienjahres 1963-64, als ich in Moskau studierte, bekam ich Zugang zu Material, das im Westen nur selten veröffentlicht wurde, was mir die Arbeit deutlich erleichterte. Leider waren zu der Zeit die historischen Archive in Russland für nichtsowjetische Wissenschaftler fest verschlossen – und auch für die meisten sowjetischen Historiker
WSWS: Wie wirkte sich die Öffnung der russischen Archive nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf Ihre Recherchetätigkeit, Ihre Arbeitsbedingungen und Ihre Beziehungen zu russischen Kollegen aus?
Die langsame Öffnung der sowjetischen historischen Archive, die im Jahr 1990 begann, hatte ungeheure Auswirkungen. Von da an hatte ich plötzlich die Möglichkeit, Akten über die Regierung, die Partei und die Gewerkschaftsvereinigungen von oben bis unten zu studieren, genauso wie persönliche Akten und unveröffentlichte Memoiren. Für mich war es eine völlig unerwartete, höchst aufregende und einträgliche Wende des Schicksals.
Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, vor allem im Zeitraum von 1963-64, bevor Chruschtschow gestürzt wurde, konnte ich freundliche aber begrenzte Beziehungen mit jüngeren sowjetischen Historikern herstellen. Unter Breschnew wurden diese Beziehungen deutlich enger. Nach Erscheinen meiner ersten Veröffentlichungen wurden meine Werke sofort verboten, und ich wurde öffentlich als „bourgeoiser Geschichtsfälscher“ gebrandmarkt. Privat war ich allerdings in der Lage, mir persönliche, wenn auch heimliche, Freundschaften zu bewahren, sogar mit einigen der Historiker, die mich öffentlich angegriffen haben.
Das hat sich in den späten Achtzigern alles zum Besseren geändert, schon lange vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Danach normalisierten sich die Beziehungen. Und ich freue mich, sagen zu können, dass mein persönliches und mein Berufsleben durch die engen, warmen, kollegialen und sehr einträglichen Beziehungen zu russischen Akademikern sehr bereichert wurde.
WSWS: Wie unterscheiden sich die Ansichten zur Bolschewistischen Partei und zur Oktoberrevolution im Jahr 1917 und zur Oktoberrevolution, die Sie sich als Ergebnis Ihrer Recherchearbeit schon vor 30 oder 40 Jahren gebildet haben, von der traditionell etablierten Interpretation?
Traditionell haben sowjetische Historiker, und auch die meisten westlichen Historiker, die Bolschewiki als eine straff organisierte, im wesentlichen monolithische Partei gesehen, die vereint hinter ihrem unfehlbaren Führer, Wladimir Iljitsch Lenin, marschierten. Der Hauptunterschied war, dass sowjetische Historiker die Oktoberrevolution als einen von der breiten Masse unterstützten Volksaufstand darstellten, westliche Historiker dagegen als nicht viel mehr als einen Militärputsch ohne größeren Rückhalt in der Bevölkerung.
Meiner Ansicht nach haben sich die Bolschewiki nach der Februarrevolution zu einer Massenpartei gewandelt, mit engen, interaktiven Beziehungen zu den Arbeitern, Soldaten und Matrosen. Ihre Führungsriege war geteilt zwischen Gemäßigte, Zentristen, und die radikale Fraktion um Lenin. Meiner Meinung nach hat jede dieser Fraktionen zum Erfolg der Oktoberrevolution beigetragen. Außerdem halte ich die Oktoberrevolution weder für einen Volksaufstand noch für einen Putsch, auch wenn sie Elemente von beidem in sich vereinigte. Sie war eher das Endergebnis eines hochkomplexen, dynamischen, politischen und sozialen Prozesses, der seine Wurzeln in der Entwicklung Russlands vor der Februarrevolution hatte, und der durch die erfolglose Beteiligung an einem Krieg verstärkt wurde.
WSWS: Sie haben jetzt schon seit fast zwei Jahrzehnten die Archive in St. Petersburg und Moskau durchforstet. Haben die Ergebnisse davon die Auffassungen beeinflusst, die Sie sich vor 1990 gebildet hatten? Mussten Sie Ihre Ansichten revidieren?
Nein. Ehrlich gesagt, hat die jahrelange Forschungsarbeit in den vorher verschlossenen russischen Archiven meine ursprünglichen Auffassungen bestätigt. Genau aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, keine revidierte Ausgabe meines Buches über die Oktoberrevolution in Petrograd, „The Bolsheviks Come to Power“, vorzubereiten, sondern mich mit den Umständen zu befassen, die den Aufbau des Sowjetstaates während des Bürgerkrieges beeinflusst haben.
WSWS: Wie beurteilen Sie den Kampf, den Lenin im April 1917 in seiner eigenen Partei führte, die Partei auf die Machtergreifung auszurichten anstatt eine bürgerliche Regierung ohne Zaren zu unterstützen. Er musste sich damals gegen die Mehrheit seines eigenen Zentralkomitees durchsetzen. Wie tief waren die Spaltungen? Bestanden sie nach der Oktoberrevolution fort, und wenn ja, wie drückte sich das aus?
Lenins erfolgreicher Kampf, die Partei auf dem Siebten Parteitag im April 1917 auf eine baldige sozialistische Revolution in Russland auszurichten, war einer der entscheidenden Momente in der Geschichte der Revolution, auch wenn es die innerparteilichen Konflikte nicht beendete. Die Spaltung zwischen den Gemäßigten, unter der Führung von Leo Kamenjew, die der Meinung waren, dass Russland noch nicht reif war für die sozialistische Revolution war, und den Leninisten, die glaubten, dass eine erfolgreiche soziale Revolution in Russland der Startschuss für entscheidende weltweite Revolutionen wäre, war tief und ein wichtiges Thema bis Ende 1917. Nach der Oktoberrevolution drückte sich die Teilung in den erbitterten Konflikten Anfang November zwischen Gemäßigten und Leninisten darüber aus, wie sich die neue Regierung zusammensetzen sollte, und im Dezember darüber, wie mit der Verfassungsgebenden Versammlung umgegangen werden sollte.
WSWS: Wie würden Sie die Beziehungen zwischen Lenin und Trotzki seit Mai 1917 beschreiben?
Trotzki hat sich erst auf dem 6. Allrussischen Parteitag Ende Juli den Bolschewiki angeschlossen. Mitglieder von Trotzkis Überregionaler Organisation (Meschrajonzy) wie Wolodarski und Uritzki haben sich erst viel später den Bolschewiki angeschlossen. Dennoch war die Beziehung zwischen Lenin und Trotzki während des Jahres 1917 geprägt von gegenseitigem Respekt. Trotzki kam ins Gefängnis weil er Lenin nach dem gescheiterten Juliaufstand verteidigte, er vertrat Lenin bei den Vorbereitungen für die Oktoberrevolution, und er war während und nach dem Kampf gegen die Gemäßigten Lenins standhaftester Unterstützer.
WSWS: Ihre Forschungsarbeit und Veröffentlichungen über die Russische Revolution behandeln den Sturz der Zarenherrschaft im Februar 1917, die darauffolgende Provisorische Regierung, die den Krieg weiterführte, den Juliaufstand, und schließlich die Oktoberrevolution – das wäre bereits genug Leistung gewesen, um Ihre Arbeit als Historiker zu beenden und zufrieden darauf zurückzublicken. Aber stattdessen haben Sie sich daran gemacht, die frühen Jahre der Bildung des Sowjetstaates zu erforschen. Können Sie erklären, was Sie dazu motiviert hat?
Ich hätte meine intensive Forschungsarbeit auf gar keinen Fall 1976 nach der Erstveröffentlichung der amerikanischen Ausgabe von „The Bolsheviks Come to Power“, eingestellt, Ich liebe historische Forschung und das Schreiben darüber. Aber ich habe mir ernsthaft überlegt, mir ein anderes Thema zu suchen. Ich habe es aus zweierlei Gründen nicht getan. Zum einen war ich immer noch von der Revolutionszeit fasziniert, und erschrocken darüber, wie viel daran missverstanden und fehlinterpretiert wird. Zum anderen, und das ist der wichtigere Grund, hat das, was ich über den Charakter der Bolschewiki im Jahr 1917 und die Gründe für den Erfolg der Oktoberrevolution herausgefunden habe, bei mir tiefgreifende und fesselnde Fragen darüber aufgeworfen, welche Umstände den Charakter der Bolschewiki und des Sowjetsystems beeinflusst haben; Fragen, auf die ich unbedingt Antworten finden wollte. Kurz gesagt, ich war für diese Probleme Feuer und Flamme, und bin es immer noch.
WSWS: Sie haben Ihre drei Bücher über die Russische Revolution von 1917 und das erste Jahr der Sowjetmacht in einem sehr leicht verständlichen, lebhaften Stil geschrieben. Es scheint, dass Sie für eine breite Leserschaft schreiben, weil Sie der Überzeugung sind, dass die Beschäftigung mit, und ein fundiertes Wissen über die Oktoberrevolution auch fast 100 Jahre später immer noch wichtig sind, nicht nur für ein paar akademische Historiker. Können Sie erklären warum?
So wie ich es sehe, ist einer der Gründe, warum die Revolutionszeit mich nicht loslässt, weil sie von so großer historischer Bedeutung ist. Meiner Meinung nach war die Oktoberrevolution eines der, wenn nicht das wichtigste Ereignis im zwanzigsten Jahrhundert.
Die Revolution fand im größten Land der Welt statt, mit einer Bevölkerung von mehr als 165 Millionen Menschen, dreimal so groß wie die Vereinigten Staaten, und größer als Indien und China zusammen. Sie brachte Lenin und die Bolschewiki an die Macht, und machte damit die Möglichkeit zunichte, dass Russland eine liberale Demokratie nach westlichem Modell werden konnte. Man muss im Kopf behalten, dass die Revolution ursprünglich ein Experiment in egalitärem Sozialismus war. Von 1918 bis in die 1920er Jahre sorgte sie für revolutionäre Unruhen in ganz Europa, nicht nur in Europa.
Unter Stalin wandelte sich das politische System, das der „Rote Oktober“ geschaffen hatte, zu einer allmächtigen, ultra-repressiven, autoritären Diktatur. Aber die Gefahr eines neuen „Roten Oktobers“ in Europa war immer noch da. Im Jahr 1933 trug das zur Machtergreifung Hitlers bei, der versprochen hatte, die Sowjetunion und den Bolschewismus ein für allemal zu zerstören. Dadurch wurde der Weg für den Zweiten Weltkrieg geebnet. Nach dem Sieg der Alliierten breitete sich Stalins Sowjetsystem über Mittel- und Osteuropa aus.
Die Angst vor der Ausbreitung des Kommunismus führte zum Kalten Krieg zwischen Ost und West, der mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 endete. Zweifellos demonstriert die zentrale Rolle, die die Oktoberrevolution in der Geschichte des modernen Europa gespielt hat, dass es für denkende Menschen auf der ganzen Welt wichtig ist, darüber Bescheid zu wissen – nicht nur für akademische Experten wie mich.