Wie der gesamte osteuropäische und post-sowjetische Raum ist auch Weißrussland schwer von der internationalen Wirtschaftskrise betroffen und steht am Rande einer sozialen Explosion.
Um die Milliardenkredite des IWF, Russlands und Chinas zurückzuzahlen, greift das Regime von Alexander Lukaschenko die Arbeiterklasse an und stößt dabei vermehrt auf Widerstand. Die Parlamentswahlen im Herbst dieses Jahres finden vor dem Hintergrund wachsender sozialer Spannungen statt.
Seit dem 15. Juli streiken in der Industriestadt Grodno an der weißrussisch-polnischen Grenze Arbeiter des Bauunternehmens „Grodnoschilstroi“ für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die genaue Zahl der Streikenden ist nicht bekannt, aber die Arbeit wurde offenbar in mehreren Fabrikhallen niedergelegt. Die Arbeiter fordern eine Verdoppelung ihres Hungerlohnes. Zurzeit verdienen sie rund 2 bis 2,5 Mio. Rubel (200 bis 225 Euro) im Monat, von denen ihnen aber netto nur um die 1,9 Mio. Rubel (ca. 180 Euro) bleiben.
Die Unternehmensführung hat bis jetzt jede Konzessionen zurückgewiesen und verlangt stattdessen eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Erst vor einem Monat war eine weitere Fabrikhalle des Unternehmens bestreikt worden.
Die Hungerlöhne der Arbeiter in Grodno sind nicht etwa eine Ausnahme, sondern entsprechen dem Landesdurchschnitt. Nach offiziellen Angaben sind die Löhne in der Baubranche sogar noch verhältnismäßig hoch.
Durch die Hyperinflation von über 100 Prozent im Jahr 2011 sank der Durchschnittslohn, der vor den Präsidentschaftswahlen Ende 2010 noch bei rund 530 US-Dollar lag, auf derzeit knapp über 200 US-Dollar, zeitweise betrug er sogar nur 135 US-Dollar. Noch im Januar 2012 lag die Inflation bei 109 Prozent. Im März wurde deshalb ein 200.000-Rubel-Schein eingeführt, die Einführung eines 500.000-Rubel-Scheins wird diskutiert.
Der weißrussische Rubel wertete 2011 um 65 Prozent ab. Im März dieses Jahres war der Leitzins in Weißrussland mit 38 Prozent weit höher als in allen anderen Ländern Europas, ja sogar höher als in den afrikanischen Staaten Uganda oder der Republik Kongo.
Ein Großteil der ohnehin schmalen Mittelschicht in dem verarmten Land wurde durch die Krise 2011 ins Elend gestoßen, während viele Arbeiter und Rentner ums Überleben kämpfen. Über Wasser halten können sich viele Menschen nur, weil sie Eigentumswohnungen besitzen und ihre Lebensmittel im Garten selbst anbauen.
Dem Internetportal Belarus Digest mit Sitz in Washington erklärte eine Universitätsdozentin Anfang des Jahres: „Wir leben nur von einem Gehalt zum nächsten. Die Löhne werden zweimal im Monat ausgezahlt, und gleich nachdem ich das Gehalt bekommen habe, gehe ich zum Markt, um Essen zu kaufen. Reichlich Fleisch und frisches Gemüse können wir also nur am Zahltag kaufen. Es ist wirklich frustrierend.“
Die Popularität von Lukaschenko, ehemals ein hochrangiges KP-Mitglied, der das Land seit 17 Jahren regiert, ist von 53 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen auf den historischen Tiefstand von knapp über 20 Prozent im Oktober 2011 gefallen. Für Wut und Empörung sorgte im März 2012 auch sein Kauf eines privaten Luxusjets im Wert von geschätzten 125 bis 160 Mio. Dollar.
Derweil plant die Regierung mit Unterstützung ihrer internationalen Kreditgeber aus dem Westen, Russland und China weitere Kürzungsmaßnahmen. Zu den Sparauflagen, die sowohl Russland als auch der IWF vorgegeben haben, gehört auch die Privatisierung der letzten staatlichen Betriebe, darunter auch von BelarusKali, einem der weltweit größten Kaliproduzenten.
Ende 2011 verkaufte Minsk zudem das Staatsunternehmen Beltransgaz, das das Gastransitnetz des Landes betreibt, an den russischen Staatskonzern Gazprom, um geringere Gaspreise zu bekommen. Dadurch befindet sich nun ein bedeutender Teil der Wirtschaft des Landes faktisch in russischer Hand, denn die Einnahmen aus dem Gastransit machen einen Großteil des Staatshaushalts aus.
Russland, das Minsk am meisten Kredite gewährt hat, wird wahrscheinlich auch der Hauptprofiteur der umfassenden Privatisierungen sein, obwohl die Lukaschenko-Regierung vor allem auf europäische Käufer spekuliert. Für die Arbeiterklasse werden diese Privatisierungsmaßnamen mit weiteren Lohnsenkungen und Entlassungen verbunden sein.
Gleichzeitig plant die weißrussische Regierung die Erhöhung des Rentenalters. Derzeit beträgt das Rentenalter für Frauen 55 Jahre und für Männer 60 Jahre, wobei 40 Prozent der männlichen Bevölkerung vor dem 60. Lebensjahr stirbt. Das Rentenalter soll nun für Frauen auf 60 Jahre angehoben werden. Dies wird massive Rentenkürzungen und einen rapiden Anstieg der Altersarbeitslosigkeit zur Folge haben. In Weißrussland ist es nämlich für Menschen über fünfzig schwer bis unmöglich, Arbeit in ihrem Beruf zu finden.
Eine staatliche Unterstützung für Arbeitslose ist dabei so gut wie inexistent. Im Dezember 2011 betrug das Arbeitslosengeld zwölf US-Dollar. Verlässliche Angaben über die Arbeitslosigkeit gibt es nicht, aber Experten schätzen sie auf etwa 10 bis 15 Prozent.