Erneut ist ein Flüchtlingsboot auf dem Weg von Libyen nach Italien gekentert. An Bord befanden sich nach Medienberichten bis zu 700 Flüchtlinge, nur 28 konnten gerettet werden. Das Unglück ereignete sich in der Nacht zum Sonntag rund 120 Seemeilen südlich der italienischen Insel Lampedusa nahe der libyschen Küste.
„Im Moment müssen wir befürchten, dass dies eine Tragödie von gewaltigem Ausmaß ist“, sagte Carlotta Sami, Sprecherin des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) dem italienischen Sender SkyTG24. Sollten sich die Zahlen bestätigen, wäre es das „schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde“.
Nach bisherigen Erkenntnissen setzten die Flüchtlinge gegen Mitternacht einen Hilferuf ab, den die italienische Küstenwache an das portugiesische Handelsschiff „King Jacob“ weiterleitete. Als sich der Frachter dem Flüchtlingsboot näherte, seien viele Migranten auf eine Seite des Bootes geeilt, um auf sich aufmerksam zu machen. Das etwa 30 Meter lange Boot sei daraufhin gekentert.
Den zur Unglücksstelle beorderten italienischen und maltesischen Küstenwachbooten bot sich ein Bild des Grauens. Die Rettungskräfte „versuchten buchstäblich Überlebende zwischen den im Wasser treibenden Leichen aufzuspüren“, erklärte der maltesische Ministerpräsident Joseph Muscat in einer ersten Stellungnahme. Ein Sprecher der italienischen Küstenwache bestätigte, dass noch nach Überlebenden gesucht werde, aber „sehr bald wird es nur noch eine Suche nach Leichen sein“.
Diese neuerliche Flüchtlingskatastrophe ereignete sich nur eine Woche, nachdem ein Boot mit über 550 Flüchtlingen an Bord im Mittelmeer gekentert ist, von denen nur rund 150 gerettet werden konnten. Mitte der Woche sind bei zwei weiteren Schiffsunglücken mehr als 50 Flüchtlinge ertrunken.
Die Zahl der auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommenen Flüchtlingen erreicht dadurch immer erschreckendere Ausmaße. Alleine im ersten Quartal dieses Jahres sind demnach laut offizieller Zählung 1.700 Flüchtlinge ums Leben gekommen, rund 20 Mal so viele wie im vergangenen Jahr, als von Januar bis April knapp 50 Flüchtlinge ihre Flucht über das Mittelmeer mit dem Leben bezahlten.
Die Verantwortung für das Massensterben tragen in vollem Umfang die Europäische Union und die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten. Durch ihre rücksichtslose Außenpolitik in Afrika, im Nahen Osten und in der Ukraine produzieren die EU-Staaten ständig neue Massen von Flüchtlingen, denen sie den Zugang zur „Festung Europa“ verweigern.
Mit weltweit 51 Millionen Flüchtlingen erreichte deren Zahl 2014 nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) ihren höchsten Stand seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein großer Teil dieser globalen Fluchtbewegung ist eine direkte Folge der kriminellen Kriege der USA, der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten im Nahen Osten, in Nordafrika und auch in der Ukraine.
Die Militäroperationen der USA zum Sturz der Regierungen in Libyen, im Irak und in Syrien wurden von der Europäischen Union voll und ganz unterstützt, zum Teil haben sich die europäischen Mächte auch selbst an den Kriegen beteiligt. Die seit zwei Jahrzehnten andauernden Militäroperationen haben den gesamten Nahen Osten und weite Teile Nordafrikas ins Chaos gestürzt und Millionen Menschen in die Flucht getrieben.
In Syrien hat der von den westlichen Mächten angestiftete Krieg zum Sturz des Regimes von Bascher al-Assad mehr als vier Millionen in die Flucht getrieben. Sie fristen ihre Dasein zum größten Teil in elenden Flüchtlingslagern in der Türkei und im Libanon.
In Libyen kommen zu den 500.000 bis 1 Million Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak, Eritrea, Somalia noch rund 2 Millionen Flüchtlinge als direkte Folge des Krieges, den die Nato gegen das Regime von Muammar al-Gaddafi führte. Diese Flüchtlinge geraten immer stärker zwischen die Fronten sich rivalisierender Milizen.
Die nächsten Flüchtlingswellen bahnen sich in Jemen, das die USA und ihre Verbündeten Saudi-Arabien und Ägypten in ein neues Schlachthaus verwandeln, und in der Ukraine an.
In ihrer Verzweiflung wagen immer mehr Flüchtlinge die gefährliche Überfahrt auf hochseeuntauglichen Booten nach Europa. Doch die Europäische Union hat das Mittelmeer zur Todeszone erklärt und nimmt die ertrinkenden Flüchtlinge als Abschreckung billigend in Kauf, um andere von der Überfahrt abzuhalten.
Mehr noch muss der Exodus der Flüchtlinge jetzt als Begründung dafür herhalten, Libyen erneut zum Zielgebiet militärischen Eingreifens zu machen. In der italienischen Regierung wird mittlerweile offen über eine Militärintervention im ölreichen Staat gesprochen. Die rechtsextreme Partei Lega Nord treibt dabei die Regierung von Matteo Renzi mit ihren Forderungen, keine weiteren Flüchtlinge aufzunehmen und die Errichtung weiterer Aufnahmelager zu verhindern, vor sich her. Der italienische Innenminister Angelino Alfano hat darauf mit den Worten reagiert: „Libyen ist eine absolute Priorität. Man muss die Lage in diesem Land stabilisieren, will man die Flüchtlingswelle stoppen.“
Unterstützung erfährt er auch von der EU-Kommission, die in Person der EU-Außenbeauftragten Frederica Mogherini die fehlenden staatlichen Strukturen in Libyen für die jüngste Fluchtwelle verantwortlich machte. Sie fügte hinzu: „Der größte Teil des Flüchtlingsstromes führt über Libyen, was bedeutet, dass unsere Aufgabe darin besteht, die Krise in Libyen zu lösen.“
Nach der jüngsten Katastrophe bekräftigte sie dieses Vorhaben mit der Ankündigung, die Flüchtlingsfrage auf die Agenda des EU-Außenministerrates an diesem Montag in Luxemburg zu setzen. Der französische Präsident François Hollande und der italienische Premier Matteo Renzi haben am Sonntag telefonisch darüber verhandelt, „wie wir rasch handeln können“. Ein militärisches Eingreifen könnte daher unmittelbar bevorstehen.
Doch das würde die Zahl der Flüchtlinge keineswegs verringern, sondern nur noch mehr Menschen zur Flucht treiben. Um zu verhindern, dass mehr Menschen das europäische Festland erreichen, baut die EU immer neue Hürden auf.
Als im Oktober 2013 unmittelbar vor der italienischen Insel Lampedusa ein Flüchtlingsboot kenterte und 366 Flüchtlinge ertranken, versammelten sich auch die Spitzen der Europäischen Union vor den Hunderten aufgebahrten Särgen. „Wir akzeptieren nicht, dass Tausende an Europas Grenzen sterben“, erklärte der damalige Kommissionspräsident Manuel Barroso und versprach, dass sich eine solche Tragödie nicht wiederholen dürfe. Mittlerweile hat sie sich wiederholt, mehrfach sogar. Denn verstärkt und massiv ausgebaut wurde seither nur der Schutz Europas vor Flüchtlingen, nicht der Schutz von Flüchtlingen.
Die zunächst im Alleingang von der italienischen Regierung gestartete Mission Mare Nostrum sollte vor allem dazu dienen, Flüchtlingsboote aufzugreifen und wieder an die nordafrikanischen Küsten zurückzudrängen. In der Praxis ließ sich das aber kaum durchsetzen, und die eingesetzten Marineverbände fischten zwischen November 2013 und November 2014 rund 150.000 in Seenot geratene Flüchtlinge aus dem Meer und brachten sie auf das italienische Festland.
Insbesondere die deutsche und die britische Regierung kritisierten die italienische Mission massiv, da sie ihrer Ansicht nach zu viele Flüchtlinge nach Europa brachte und zunehmend „als Brücke nach Europa“ fungierte, wie der deutsche Innenminister Thomas de Maizière erklärte.
Ersetzt wurde Mare Nostrum durch das Grenzüberwachungsprogramm Triton unter der Federführung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Triton ist finanziell und hinsichtlich der eingesetzten Schiffe, Hubschrauber und Flugzeuge viel schmaler ausgelegt als Mare Nostrum und hat ein viel kleineres Operationsgebiet. Ganz im Sinne des Grenzschutzes überwachen die angeschlossenen Verbände nur einen schmalen Streife entlang der italienischen Küste, um dort Flüchtlinge aufzugreifen.
„Derzeit hat die Kommission weder das Geld noch die politische Rückendeckung, um ein europäisches Grenzschutzsystem auf den Weg zu bringen, das Such- und Rettungsoperationen durchführen könnte“, sagte eine Sprecherin der EU-Kommission am Donnerstag.
Dabei liegen die technischen Voraussetzungen längst vor. Seit Anfang 2014 das Überwachungsprogramm Eurosur gestartet wurde, laufen in der Frontexzentrale in Warschau Daten von Überwachungssatelliten, Drohnen und Flugzeugen zusammen, die jede Bewegung auf dem Mittelmeer erfassen.
„Wir haben schon lange kein Problem mehr, die Schiffe zu entdecken, auch Boote in Seenot“, sagte Stephan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst, der auch im Menschenrechtsrat von Frontex sitzt, Zeit Online. „Die Behörden in Europa wissen oft sehr genau, wo sich die Schiffe befinden.“
Frontex ist aber nur dafür zuständig, die Außengrenzen der EU abzusichern und nicht Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Das ist die Aufgabe der Nationalstaaten, die sich oft gegenseitig die Verantwortung zuschieben, da sie nach der Dublin-Verordnung auch für die Aufnahme und Unterbringung der von ihnen geretteten Flüchtlinge verantwortlich sind.
In völliger Verdrehung der Tatsachen versucht die Europäische Union, die Schlepper, die die Überfahrten der Flüchtlinge organisieren, für das Massensterben verantwortlich zu machen. Sie behauptet, jede Seenotrettung sei Wasser auf die Mühlen der Schlepper. „Würden wir jetzt jeden, der im Mittelmeer ankommt, einfach aufnehmen nach Europa, dann wäre das das beste Geschäft für die Schlepper, was man sich denken könnte. Das wäre Beihilfe für das Schlepper-Unwesen“, sagte der deutsche Innenminister de Maizière dem ZDF.
Heribert Prantl bezeichnete diese Haltung in der Süddeutschen Zeitung als zutiefst zynisch. Menschen müssten „sterben, um eine Kriminalität zu bekämpfen, die durch eine falsche EU-Politik produziert wird“. Prantl wirft der Union indirekt die bewusste Tötung der Flüchtlinge vor: „Eine Union, die das Meer als ihren Verbündeten begreift und einsetzt, ist eine mörderische Union.“
Doch in der EU wird bereits über den nächsten Schritt zur Flüchtlingsabwehr nachgedacht. Auf dem letzten Treffen der EU-Innenminister wurde über die Einrichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika diskutiert, um Flüchtlinge von der Überfahrt abzuhalten. Zudem wurde über ein so genanntes Non-paper der italienischen Regierung debattiert, in dem die Auslagerung der Seenotrettung an Ägypten und Tunesien vorgeschlagen wird. Non-paper sind inoffizielle Dokumente, die als Diskussionsgrundlage dienen und nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind.
„Marineeinheiten aus Drittländern […] in der Nähe Libyens, könnten eingreifen und Migranten in Seenot retten und danach zu ihren eigenen Häfen bringen“, heißt es in dem Papier. Da Libyen zurzeit nicht dazu in der Lage sei, sollen vor allem Tunesien und Ägypten in die Pflicht genommen und finanziell durch die EU unterstützt werden.
Das Dokument endet mit der Feststellung, dass diese Maßnahme „einen wahren Abschreckungseffekt erzielen wird, so dass immer weniger Menschen ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen“.
Mit anderen Worten will die Europäische Union über kurz oder lang die gesamte Flüchtlingsabwehr nach Nordafrika auslagern. Zuerst, indem dort Flüchtlingslager errichtet werden, in denen ein Screening stattfindet, wer Zugang nach Europa erhalten soll. Wer durchs Raster fällt und die Einreise auf eigene Faust versucht, soll durch ägyptische und tunesische Küstenwachtverbände aufgegriffen und umgehend nach Afrika zurückgebracht werden.
Der menschenverachtende Charakter dieser Pläne wird offenbar angesichts der unmenschlichen Zustände in den beiden Ländern. In Ägypten unterdrückt die Regierung unter Präsident Sisi die eigene Bevölkerung und hat tausende Todesurteile gegen Regimegegner verhängt. Wie dieses Land in der Lage sein soll, Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen, bleibt ein Geheimnis der EU.
Diese Pläne werden auch vom zuständigen EU-Kommissar für Migration Dimitris Avramopoulos unterstützt, der im Mai ein neues Strategiepapier zur Migrationspolitik vorlegen will, in dem neben der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes auch eine verstärkte Abschiebepolitik und eine massive finanzielle und institutionelle Aufstockung der Grenzschutzagentur Frontex vorgesehen sind.
Die jüngsten Flüchtlingskatastrophen mit mehr als 1.200 Toten haben eine Verschärfung des Krieges gegen Flüchtlinge zur Folge. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière brachte die ganze moralische Verkommenheit und Heuchelei der europäischen Migrationspolitik in einem Interview mit dem der „Evangelischen Allianz“ nahe stehenden Magazin idea spektrum auf den Punkt: „Wir sollten nicht zur Geldvermehrung krimineller Menschenhändler beitragen. Wir müssen unsere Grenzen schützen. Es gibt kein Recht der freien Wohnsitzwahl in der ganzen Welt.“
Mit ihrer bewussten Entscheidung, die Seenotrettungsmaßnahmen im Mittelmeer einzustellen und Flüchtlinge zur Abschreckung ertrinken zu lassen, zeigt die EU ihr wahres Gesicht. Sie lässt die Menschen, die sie mit ihrer Kriegspolitik selbst zu Flüchtlingen macht, eher sterben, als dass sie sie aufnehmen würde.