Nach dem Anschlag von Nizza:

Französische Regierung fordert Aufstockung der militärischen Reserve

Während weiterhin widersprüchliche Meldungen über den französisch-tunesischen Attentäter von Nizza auftauchen, bereitet die französische Regierung eine umfassende militärische Eskalation vor. Mohamed Lahouaiej Bouhlel war am Abend des 14. Juli mit einem Lkw durch eine Menschenmenge gefahren und hatte dabei 84 Menschen getötet und 100 weitere verletzt.

Zahlreiche Meldungen deuten darauf hin, dass der schreckliche Anschlag, ähnlich wie die Anschläge in Paris 2015 und in diesem Jahr in Brüssel, mit den islamistischen Terrornetzwerken in Verbindung stand, die von Washington, Paris und ihren Verbündeten im Syrienkrieg unterstützt wurden. Bislang besteht über diese Beziehungen allerdings noch keine Klarheit. Doch noch bevor Bouhlels Motive und Beziehungen aufgeklärt wurden und über politische Verantwortlichkeiten oder die Verhinderung künftiger Anschläge diskutiert wurde, wird die Öffentlichkeit bereits mit eindringlichen Forderungen nach umfangreichen Militäraktionen im In- und Ausland konfrontiert.

Präsident François Hollande forderte am Freitag eine Verschärfung der Luftangriffe im Irak und Syrien; Innenminister Bernard Cazeneuve forderte derweil eine massive personelle Verstärkung der militärischen und der paramilitärischen Polizeireserven. Dies ist nur ein Schritt eines allgemeinen Prozesses zur Rekrutierung einer großen paramilitärischen Freiwilligentruppe, die bei Operationen in Frankreich eng mit dem Militär zusammenarbeitet.

Am Samstag veröffentlichte die Miliz Islamischer Staat (IS) über ihre Nachrichtenagentur Amaq eine Erklärung, in der sie die Verantwortung für Bouhlels Anschlag übernahm. „Der Verantwortliche für die Operation [...] in Nizza ist ein Soldat des Islamischen Staates. Mit der Operation reagierte er auf die Forderung, Bürger der Länder des Bündnisses, das gegen den IS kämpft, anzugreifen“, hieß es in der Onlinemeldung. Welche Beziehungen zwischen dem IS und Bouhlel tatsächlich bestanden, konnte jedoch noch nicht eindeutig geklärt werden.

Bouhlel war dem französischen Geheimdienst unbekannt. Bei der Polizei war er nur wegen kleinerer Diebstähle und eines Straßenkampfs bekannt. Allerdings kamen in Frankreich auch Berichte auf, laut denen er Beziehungen zu islamistischen Netzwerken hatte, die im Krieg in Syrien aktiv sind. Ein Beteiligter am Ermittlungsverfahren erklärte gegenüber Metro News: „Es ist unbestreitbar, dass es in seinem Umfeld 'Bärtige' gibt.“ Metro News fügte jedoch hinzu: „Die Polizei weiß allerdings nicht, wie nahe Mohamed Lahouaiej diesen islamistischen Netzwerken stand.“

Andere Schilderungen widersprechen dieser Darstellung eher. Bouhlels Nachbarn in Frankreich und seine Familie in Tunesien stellten ihn als einen ungläubigen Mann mit psychologischen Problemen dar, der wohl kaum ein überzeugter Islamist gewesen sei. Sein Vater Mohamed Mondher Lahouaiej Bouhlel aus dem osttunesischen Msaken erklärte gegenüber AFP: „Von 2002 bis 2004 hatte er Probleme und litt an einer nervösen Depression. Er betete nicht, er fastete nicht, er trank Alkohol, er nahm sogar Drogen.“ Der Vater fügte hinzu, seine Familie sei ebenfalls erschüttert über den Anschlag von Nizza.

Anderen Meldungen zufolge hatte Bouhlel in den Tagen vor dem Anschlag eine tiefe Depression und Wut entwickelt, weil er nicht aus seinen Schulden herauskam. Er war geschieden und musste Unterhalt für drei Kinder zahlen.

Fast unmittelbar nach dem Anschlag nannte Premierminister Manuel Valls Bouhlel einen „Terroristen, der zweifellos mit dem radikalen Islamismus in Verbindung steht“. Im Laufe des Wochenendes äußerte sich der Innenminister jedoch vorsichtiger über das Ausmaß der Beziehungen zwischen Bouhlel und dem IS.

Innenminister Cazeneuve erklärte, Bouhlel scheine sich „sehr schnell radikalisiert zu haben“. Er sagte auch, dies sei „eine neue Art von Anschlag von Einzelpersonen, die auf die Botschaft des IS reagieren und extrem brutale Taten verüben, ohne notwendigerweise an Kämpfen teilgenommen haben oder trainiert worden zu sein.“

Unter diesen Bedingungen ist es so gut wie unmöglich, den Charakter des Anschlags von Nizza zu bestimmen. War Bouhlels Anschlag ein vom IS kalkulierter Massenmord als Reaktion auf die Angriffe Frankreichs und seiner früheren Unterstützer auf den IS im Nahen Osten? Oder war es die Tat eines zutiefst gestörten Menschen, der an seinen persönlichen und finanziellen Verpflichtungen zerbrochen ist und sich von IS-Propaganda zu einem schrecklichen Verbrechen treiben ließ? Angesichts der tiefen sozialen Krise in Europa wäre letzteres nicht unwahrscheinlich.

Klar ist jedoch, dass die Tragödie in Nizza von der amtierenden Sozialistischen Partei (PS) ausgenutzt wird, um eine Eskalation des Kriegs im Nahen Osten und ihrer Polizeistaats- und Sparmaßnahmen in Frankreich zu rechtfertigen, obwohl gerade diese offensichtlich eine Rolle bei dem Anschlag gespielt haben.

Cazeneuve rief in einer nationalistischen Ansprache „alle bereitwilligen patriotischen Franzosen“ auf, sich bei der Polizeireserve und den paramilitärischen Reservetruppen zu bewerben und forderte die Schaffung von 12.000 Reservistenstellen.

Er machte deutlich, dass dies nur der erste Schritt zum Aufbau neuer irregulärer Reserveeinheiten und einer allgemeineren Militarisierung der französischen Gesellschaft sein wird: „Konkret diskutieren wir über eine schnelle Eingreiftruppe unter dem Befehl der Präfekten [der regionalen Polizeichefs], die dazu ausgebildet ist, Sicherheits- und Unterstützungsaufgaben für die Polizei und paramilitärische Polizei auszuführen,“ erklärte er. Die Presse erklärte dazu, diese Einheiten würden eng mit dem Verteidigungsministerium und der paramilitärischen Polizei zusammenarbeiten.

Durch ihre Forcierung dieser Vorschläge verwirklicht die PS Pläne, die zuvor schon vom französischen Militär ausformuliert wurden. In ihrem aktuellen Weißbuch fordert sie eine Vergrößerung der Reserve: „Ohne größere Reserven sind die Verteidigungs- und Sicherheitskräfte nicht in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen, vor allem im Falle einer Krise auf dem eigenen Staatsgebiet,“ heißt es in dem Weißbuch.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Amtskollege Jean-Marc Ayrault hatten nach der Entscheidung Großbritanniens für den EU-Austritt eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie ebenfalls eine Ausweitung der Militäreinsätze im Ausland und der Sicherheitsoperationen im Inland forderten.

Der Notstand, der weiterhin in Kraft ist, konnte den Terroranschlag von Nizza nicht verhindern. Stattdessen hat er den rechtlichen Rahmen für das brutale Vorgehen der Polizei gegen Jugendliche und Arbeiter geschaffen, die seit dem Frühjahr gegen das arbeiterfeindliche Arbeitsmarktgesetz der PS protestieren.

Arbeiter müssen verstehen, dass in ganz Europa ein koordiniertes Militarisierungsprogramm stattfindet. Der deutsche Imperialismus legt die militärische Zurückhaltung ab, zu der er seit der Niederlage und dem Zusammenbruch des Naziregimes gezwungen war. Frankreich folgt derweil dem Beispiel der rechten Regimes in der Ukraine und Polen und baut neben dem Militär und der Polizei nationalistische Milizen auf.

Wie der Kampf gegen das Arbeitsmarktgesetz der PS deutlich gemacht hat, werden sich diese Maßnahmen – unabhängig von ihren anfänglichen Zielen – letzten Endes gegen den Widerstand der Arbeiterklasse richten.

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