Perspektive

Putsch in der Türkei: Eine Warnung für die internationale Arbeiterklasse

Der Putschversuch vom 15. Juli in der Türkei ist offenbar gescheitert. Fast 300 Menschen haben ihn mit dem Leben bezahlt. Das Land befindet sich aber noch in einem Zustand extremer politischer Instabilität und nach wie vor drohen neue Gewalttaten und Unterdrückungsmaßnahmen.

Wie ein Korrespondent der World Socialist Web Site am Sonntagabend berichtete, hatten die Bürger auch am Sonntag noch SMS-Botschaften mit der Aufforderung erhalten, auf die Straßen zu strömen und öffentliche Plätze in Besitz zu nehmen. Das ist ein offensichtliches Eingeständnis, dass die Gefahr nicht vorüber ist und die Armee jederzeit erneut eingreifen könnte.

Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan reagiert auf den Putschversuch mit einem diktatorischen Gegenschlag. Mehr als 6.000 Personen sind festgenommen worden, zusätzlich wurden Tausende Offiziere und Soldaten interniert. Der Umfang der Massenverhaftungen zeigt sich daran, dass viele Gefangene in ein Stadion gesperrt wurden – eine beunruhigende Reminiszenz an die blutigen Ereignisse von 1973 in Chile.

Gegen tausende Richter und Staatsanwälte wurden Haftbefehle erlassen. Ihnen wird die Teilnahme an einer „bewaffneten Terrorbewegung“ vorgeworfen. Die Erdogan-Regierung hat gelobt, alle oppositionellen Elemente aus dem Staatsapparat zu entfernen. Außerdem will sie möglicherweise die Todesstrafe wieder einführen.

Die Regierung hat einen islamistischen Mob auf den Straßen entfesselt, der an den Soldaten, oftmals jungen Wehrpflichtigen, gewaltsame Rache übt. Berichte über gewalttätige Übergriffe und Lynchmorde kursieren in den sozialen Medien, wo auch ein Video zirkuliert, das die Enthauptung eines Soldaten auf der Istanbuler Bosporus-Brücke zeigt.

Es ist kaum zu erkennen, wie die Türkei unter solchen Verhältnissen auch nur den Anschein demokratischer Herrschaftsformen aufrechterhalten oder zu einer vernünftigen politischen Stabilität zurückkehren kann.

Die Ereignisse haben weitreichende Folgen für die ganze kapitalistische Welt. Die Türkei ist alles andere als ein Leichtgewicht. Das Land hat 75 Millionen Einwohner, es liegt am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien und ist ein Schlüsselmitglied des imperialistischen Nato-Bündnisses. Es ist stolz darauf, in der Nato über das zweitstärkste Militär nach den USA zu verfügen. Die Türkei hat die sechstgrößte Volkswirtschaft in Europa. Sie ist zwar kein Mitglied der Europäischen Union, aber sie ist eng in die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der EU integriert.

Die türkische Geschichte kennt zahlreiche Putsche und Putschversuche, aber in den letzten zwanzig Jahren hatte es kein solches Ereignis mehr gegeben. 1960, 1971 und 1980 ergriff das Militär die Macht in der Türkei. Ähnliche Entwicklungen fanden in dieser Zeit in mehreren lateinamerikanischen Ländern, in Griechenland, Indonesien und anderswo statt, und das Pentagon und die CIA waren tief darin verwickelt.

Wenn große Teile des Militärs in einem Land wie der Türkei heute wieder versuchen, die Macht an sich zu reißen, dann bedeutet das zweifellos, dass wir uns wieder in der Ära der Militärputsche befinden – und nicht nur in der Türkei, sondern weltweit. Ein Vierteljahrhundert amerikanischer Kriege im Nahen Osten, auf dem Balkan und anderswo hat ein extremes Ausmaß an Gewalt, Instabilität und Krisen hervorgerufen. Unter Bedingungen einer beispiellosen sozialen Ungleichheit und zugespitzter geopolitischer und militärischer Spannungen greift diese Entwicklung jetzt auch auf die großen kapitalistischen Zentren in Europa und weltweit über.

Ohne Zweifel liegen diese Spannungen den blutigen Ereignissen in Istanbul und Ankara vom Wochenende zugrunde. Das ist an den Reaktionen in den USA und Europa (und auch in der Türkei selbst) auf den Putschversuch und die nachfolgenden Geschehnisse zu erkennen.

Der türkische Arbeitsminister Suleyman Soylu verstieg sich zur Behauptung: „Hinter dem Putsch stehen die Vereinigten Staaten.“ Erdogan selbst machte für die ganze Affäre die Anhänger seines früheren Verbündeten und heutigen Feindes, des pro-amerikanischen islamischen Klerikers Fethulla Gülen, verantwortlich. Gülen lebt in Pennsylvania im Exil und genießt offenbar den Schutz des amerikanischen Staates. Wenn Erdogan Gülen angreift, gehört nicht allzu viel Phantasie zu der Annahme, dass er in Wirklichkeit Obama meint.

Die erste Reaktion der Washingtoner Regierung auf die Putsch-Nachrichten war zumindest mehrdeutig. US-Außenminister John Kerry erklärte anfänglich lediglich, dass die USA hofften, in der Türkei werde „Stabilität, Frieden und Kontinuität erhalten bleiben“. Erst als erkennbar war, dass der Putsch scheitern werde, gab die Regierung im Weißen Haus eine Erklärung heraus, in der sie die „demokratisch gewählte Regierung der Türkei“ unterstützte.

Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ließ sich Zeit, den Putsch zu verurteilen. Seit ihrer offiziellen Erklärung richten die deutschen Medien und Politiker ihr Feuer vor allem auf Erdogan. Sie warnen ihn vor Maßnahmen außerhalb der Verfassung, sagen aber kaum etwas über die Bedeutung dieses Putschs in einem Nato-Land.

Der Verdacht einer amerikanischen Beteiligung ist nicht leicht von der Hand zu weisen. In Ägypten unterstützte die Obama-Regierung vor drei Jahren nahezu offen den Militärputsch unter Führung von General Abdel Fattah al Sisi gegen den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern. Die US-Regierung lehnte es damals ab, den Sturz des gewählten ägyptischen Präsidenten als Putsch zu bezeichnen. Obwohl das Sisi-Regime seine Gegner abschlachtet, einsperrt und foltert, erhält es auch heute noch Militärhilfe von den Vereinigten Staaten.

In der Ukraine zogen die USA 2014 gemeinsam mit Deutschland die Fäden, als die Regierung in Kiew in einem von Faschisten geführten Putsch gestürzt wurde.

Im Falle der Türkei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Gelingen des Putschs Obama und Merkel nicht gerade unwillkommen gewesen wäre, ob sie nun den Putschversuch ausdrücklich abgesegnet haben oder nicht.

In Syrien haben sich die Spannungen zwischen Washington und Ankara über den seit fünf Jahren andauernden Bürgerkrieg deutlich verschärft. Die Erdogan-Regierung spielte darin bisher die Rolle des wichtigsten Verbündeten der islamistischen Milizen, die als Stellvertretertruppen der USA im Kampf für einen Regimewechsel agieren. Die Regierung in Ankara ist jedoch in wachsendem Maße darüber verärgert, dass die USA sich auf die syrischen Kurden stützen. Sie befürchtet, dass die militärischen Erfolge der Kurden in Syrien auch die kurdischen Autonomiebestrebungen in der Türkei stärken könnten.

Der Krieg vor ihrer Haustür erlegt der Türkei immer größere politische und ökonomische Kosten auf. Deswegen hatte Erdogan sich letzten Monat bei der russischen Regierung wegen des Abschusses eines russischen Kampfflugzeugs im November 2015 entschuldigt. Der Versuch einer Annäherung an Russland beinhaltet Gespräche über eine politische Lösung in Syrien über den Kopf der USA hinweg.

Es gibt sogar schon Berichte, denen zufolge Erdogan gedroht haben soll, russischen statt amerikanischen Flugzeugen das Landerecht auf der strategischen Luftwaffenbasis Incirlik zu gewähren. In Incirlik lagern die USA ihren größten Vorrat an Atomwaffen in Europa. Der türkische Kommandeur des Stützpunkts soll ein Anführer des Putschs gewesen sein und steht jetzt unter Arrest.

Der britische Telegraph hat sich ausführlich mit den wachsenden Spannungen zwischen Washington und Ankara in den Wochen vor dem Putschversuch beschäftigt:

„Erdogan hat im letzten Monat vor dem Putsch seinen diplomatischen Kurs dramatisch geändert. In schneller Folge stellte seine Regierung die Beziehungen zu Russland, Ägypten und Israel wieder her. Über Nacht waren Putin, al-Sisi und Netanjahu für ihn keine Mörder mehr. Am Vorabend des Putsches sinnierte der neue türkische Ministerpräsident dann sogar darüber, die Beziehungen zu Syrien wieder zu verbessern.

Zu gleicher Zeit stürzten die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten steil ab. Das Pentagon war überrascht, als die türkische Regierung nach dem Putsch in der Türkei auch amerikanische Flugzeuge und Drohnen, die von Incirlik aus gegen den IS in Syrien operieren, in die verhängte Flugverbotszone einbezog. Schließlich wurde in Incirlik gar der Strom abgeschaltet. Dann wurde der türkische Kommandeur des Stützpunkts festgesetzt. Das führte zu wilden Gerüchten in der Türkei, dass er der Verbindungsmann zwischen den Putschisten und dem Pentagon sei. Im Ausland wird das vielleicht rundheraus zurückgewiesen, aber es ist ein Beleg dafür, wie fremd sich die Erdogan-Regierung und ihre amerikanischen Verbündeten geworden sind.“

Die genauen Streitpunkte und Verschwörungsinhalte hinter diesen Ereignissen sind unklar, aber die Frage stellt sich: Ist die Türkei das einzige Nato-Mitglied, in dem die Gefahr eines Militärputschs droht? Jüngste Entwicklungen weisen darauf hin, dass die Kette an ihrem schwächsten Glied gebrochen ist, aber die Kette selbst ist gebrochen, und die Gefahr ist allgegenwärtig.

Was ist zum Beispiel mit Großbritannien? Der Brexit hat beide großen Parteien in eine tiefe Krise geworfen. Die Gefahr besteht, dass das Vereinigte Königreich und darüber hinaus die ganze EU auseinanderbrechen. Erst kürzlich drohten hohe Kommandeure mit einer Meuterei für den Fall, dass Jeremy Corbyn Premierminister würde. Corbyns Rivalen, die ihn in einer Palastrevolte von der Parteiführung absetzen wollten, hatten den Generälen ihre Bereitschaft, Atomwaffen einzusetzen, zugesagt.

In Frankreich sprach Präsident François Hollande kurz vor dem Terroranschlag von Nizza offen darüber, dass eine Verlängerung des Ausnahmezustands den Status des Landes als Republik und Rechtsstaat gefährden würde. Kurz darauf verlängerte er die Sondervollmachten um weitere drei Monate und rief das Militär verstärkt auf die Straße.

In den Vereinigten Staaten befindet sich das kapitalistische Zwei-Parteien-System in einer tödlichen Krise. Die Möglichkeit besteht, dass der faschistoide Kandidat der Republikaner, Donald Trump, die Wahl gewinnt. Die immer neuen Kriege im Ausland gehen zwangsläufig mit wachsender Unterdrückung im Innern einher. Die Integration von Polizei und Militär dient offiziell dem Kampf gegen den Terror, richtet sich aber in Wirklichkeit gegen die wachsende Opposition und Radikalisierung der Arbeiterklasse.

Was in der Türkei geschah, kündigt bevorstehende Ereignisse an. Überall in der Welt brechen demokratische Herrschaftsformen ein, weil das Gewicht der globalen Wirtschaftskrise, von Militarismus und Krieg auf ihnen lastet, und vor allem weil sich der Klassenkampf verstärkt.

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