Diese Woche in der Russischen Revolution

10.–16. April: Lenin kommt am Finnländischen Bahnhof an

Lenins Ankunft am Finnländischen Bahnhof in Petrograd im April 1917 – diese Woche vor genau hundert Jahren – ist ein besonders dramatischer Moment der Weltgeschichte. Inmitten des bis dahin beispiellosen Blutbads und menschlichen Leids des Ersten Weltkriegs trifft Lenin in Petrograd ein, und er ist entschlossen, die bolschewistische Partei auf die Perspektive der internationalen sozialistischen Revolution auszurichten. Dieser Standpunkt steht im Gegensatz zur Haltung jeder anderen politischen Tendenz, und selbst zur Haltung eines Teils seiner eigenen Parteiführung.

Seit der Februarrevolution neigen einige führende Bolschewiki in Petrograd dazu, sich an die Provisorische Regierung anzupassen, die den imperialistischen Krieg fortsetzen will. Lenins Gedanken bewegen sich dagegen in eine Richtung, die mit Trotzkis Positionen von der „permanenten“ oder „ununterbrochenen“ internationalen Revolution übereinstimmt.

Ohne Übertreibung kann man sagen, dass der künftige Gang der Menschheitsgeschichte jetzt von dem Marxisten im bescheidenen Anzugund runden Hut abhängt, der gerade aus dem Zug steigt und jeden Moment mit seiner Verhaftung rechnet.

Zürich, 10. April: Lenin unterwegs im Zug nach Petrograd

Wladimir Iljitsch Lenin, seine Frau Nadeschda Krupskaja, Ines Armand, Grigori Sinowjew, Karl Radek und weitere 27 Revolutionäre und Angehörige befinden sich auf der Zugreise quer durch Deutschland, um über Schweden nach Petrograd zu gelangen. Die Reise, die am Vortag, den 9. April, in Zürich begonnen hat, führt sie über Singen, Offenburg, Mannheim, Frankfurt/Main, Berlin und Bergen nach Saßnitz. Der Bolschewik Karl Radek wird später schildern, wie es im Zug zuging:

Iljitsch arbeitete während der ganzen Fahrt. Er las, machte Eintragungen in Hefte, außerdem beschäftigte er sich auch noch organisatorisch … In Frankfurt hatte der Zug längeren Aufenthalt, der Perron war militärisch abgesperrt. Plötzlich wurde die Postenkette durchbrochen; deutsche Soldaten kamen herbeigestürmt. Sie hatten von der Durchreise russischer Revolutionäre gehört, die für den Frieden eintraten. Jeder von ihnen hielt in beiden Händen einen Krug Bier. Erregt fragten sie uns aus, ob und wann der Frieden käme. Diese Stimmung sagte uns über die Lage mehr, als für die deutsche Regierung nützlich war.

Lenin hat gar keine andere Wahl, als durch Deutschland zu reisen. Da die Alliierten (darunter Frankreich, Russland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten) alle Internationalisten auf Schwarzen Listen führen, ist ihnen der Weg durch Gebiete der Alliierten versperrt. Das Beispiel Trotzkis, der von den Briten in Halifax festgehalten wird, da er auf einem norwegischen Schiff von New York nach Russland zurückkehren wollte, dient den Revolutionären als Warnung.

Dennoch wird die Reise Lenins über Deutschland nach Russland, die mit Zustimmung der deutschen Regierung erfolgt, den Feinden des Bolschewismus in den kommenden Wochen und Monaten als Dreh- und Angelpunkt ihrer Propaganda dienen, und sie werden Lenin als „Agenten“ des deutschen Generalstabs diffamieren.

Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. In einer gemeinsamen Erklärung mit internationalen Sozialisten unterzeichnen Lenin und die andern russischen Emigranten vor der Abfahrt eine Deklaration, in der es heißt: „Die russischen Internationalisten, die … sich jetzt nach Russland begeben, um dort der Sache der Revolution zu dienen, werden uns helfen, die Proletarier der andern Länder, insbesondere die Proletarier Deutschlands und Österreich-Ungarns, zur Erhebung gegen ihre Regierungen zu bringen.“

Die deutsche Regierung spekuliert darauf, dass die Durchreise Lenins und anderer Revolutionäre ihren Kriegszielen nützen werde. Sie wollen unbedingt einen Separatfrieden mit Russland schließen, um die an der Ostfront kämpfenden Divisionen an die Westfront zu verlegen. Deshalb hoffen sie, dass in Russland das „größtmögliche Chaos“ angerichtet werde. Russland soll sich „zersetzen“, um dann „dringend um Frieden betteln“ zu müssen. Entgegen der Kalkulationen des deutschen Generalstabs wird die Oktoberrevolution jedoch nicht nur zur Schaffung des ersten Arbeiterstaats der Weltgeschichte führen, sondern auch die Arbeiter und Soldaten in Deutschland inspirieren, deren Revolution im November 1918 den deutschen Kaiser in die Flucht schlagen und die deutsche Beteiligung am Ersten Weltkrieg beenden wird.

Chester, Pennsylvania, 10. April: Explosion in Munitionsfabrik tötet 133 Arbeiter

Nur Tage nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg kommen bei der Explosion in einer Munitionsfabrik in Eddystone, nahe Chester (Pennsylvania), 133 Arbeiter ums Leben. Fast die Hälfte der Leichen können nicht identifiziert werden; sie werden in einem Massengrab beigesetzt. Die meisten der Todesopfer sind Frauen und Mädchen. Sie waren im „F“-Flügel der Fabrik beschäftigt, wo man achtzehn Tonnen Schwarzpulver gelagert hatte. Eine unbekannte Ursache führte zur Explosion, was eine Kettenreaktion auslöste, die noch in siebzehn Kilometern Entfernung zu spüren war. Der verzweifelte Versuch, das Feuer unter Kontrolle zu bringen, verhindert immerhin, dass weitere fünfzig Tonnen Schwarzpulver in einem Lager nebenan ebenfalls explodieren.

Der Fabrikbesitzer versucht sofort, deutsche Saboteure für die Explosion verantwortlich zu machen, um eine mögliche Fahrlässigkeit bei der Fabriksicherheit zu vertuschen. Die Katastrophe sei das Werk „Außenstehender“, erklärt der Unternehmenspräsident Samuel M. Vauclain einem Reporter. Wahrscheinlicher ist, dass sie durch schadhafte Stromkabel von Maschinen verursacht wurde, die bei der Produktion von Schrapnell-Granaten benötigt werden, wie ein Beschäftigter erklärt.

Die Fabrik wurde erst 1916 eröffnet, um vom Rüstungsverkauf an die Alliierten zu profitieren.

Frankreich, 11. April: Schwere Verluste in der ersten Schlacht von Bullecourt

Zu Unterstützung der britischen Offensive bei Arras, die zwei Tage zuvor begonnen hat, greifen australische Soldaten mit britischer Verstärkung bei Bullecourt an. Die überhastet geplante Operation erweist sich als katastrophaler Fehlschlag. Die Alliierten verlieren mehr als 3000 Soldaten und erzielen so gut wie keinen Fortschritt.

Die australische Vierte Division greift die deutschen Linien ohne Artillerieunterstützung an, und die zwölf Panzer, die ihren Vormarsch sichern sollen, fallen aus oder werden zerstört, noch ehe sie die feindlichen Linien erreichen. Anfang Mai sollen weitere australische Truppen erneut bei Bullecourt in die Schlacht geworfen werden, um die ins Stocken geratene britische und französische Offensive an der Westfront zu unterstützen. Das Ergebnis werden noch blutigere Kämpfe sein. Im Verlauf der beiden Schlachten fallen mehr als 10.000 Australier. Die Soldaten nennen die Stadt deswegen die „Blutwanne“. In der zweiten Schlacht von Bullecourt erleiden die Alliierten 18.000 und die Deutschen 11.000 Todesopfer. Keine Seite erzielt nennenswerte strategische Gewinne.

Rio de Janeiro, 11. April: Brasilien bricht diplomatische Beziehungen zu Deutschland ab

Die Regierung von Venceslau Brás gibt den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland bekannt. Wenige Tage zuvor haben die USA Deutschland den Krieg erklärt, und deutsche U-Boote haben mehrere brasilianische Handelsschiffe versenkt. Die Versenkung des Frachtschiffs Paraná am 5. April führt zu einer Welle anti-deutscher Propaganda. In ganz Brasilien werden Geschäfte und Kultureinrichtungen der großen deutschen Einwandererbevölkerung angegriffen. Es kommt zu Rücktrittsforderungen an den deutschstämmigen Außenminister Lauro Müller.

Der Erste Weltkrieg hat die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen Brasiliens zur übrigen Welt verändert. Zu Beginn des Kriegs ist Brasilien als Exportwirtschaft stark von der Kaffeeausfuhr abhängig. Doch seit der britischen Seeblockade, und seitdem London die Einfuhr von Kaffee verbietet, um die Umschlagskapazitäten in den Häfen für Kriegsmaterial zu nutzen, wird Brasilien von seinen europäischen Märkten abgeschnitten. Dadurch wächst seine Abhängigkeit von den USA. Gleichzeitig gründen Brasilien, Argentinien und Chile den „ABC-Pakt“, um die amerikanische Dominanz in der westlichen Hemisphäre so gut es geht zu bremsen und die US-Intervention in die mexikanische Revolution abzuwehren. Die Inflation, die mit dem Krieg einhergeht, bringt auch die ersten großen Arbeiterorganisationen hervor und führt zu Streiks der jungen industriellen Arbeiterklasse.

Petrograd, 11.–16. April (29. März–3. April): Allrussischer Sowjetkongress der Arbeiter- und Soldaten-Deputierten

Die Delegierten, die in Petrograd eintreffen, um am Allrussischen Sowjetkongress der Arbeiter- und Soldaten-Deputierten (dem ersten solchen Kongress seit dem Zarensturz) teilzunehmen, repräsentieren insgesamt 139 Sowjets, sechs Armeen und vierzig Armeeeinheiten. Die wichtigste Resolution ist die über den Krieg. Eingeführt vom georgischen Menschewiken Irakli Zeretelli im Namen des Exekutivkomitees der Sowjets, unterstützt sie die „Deklaration über die Kriegsziele“, die die Provisorische Regierung kurz zuvor herausgegeben hat. Zeretellis wichtigstes Argument lautet, dass jetzt, wo die Regierung die demokratischen Interessen der Massen repräsentiere und keine aggressiven Kriegsziele mehr hege, der Krieg seinen Charakter geändert habe. Er müsse deshalb fortgesetzt werden, um die Revolution zu verteidigen. Die Resolution stellt fest:

Im Interesse der energischsten Verteidigung des revolutionären Russland gegen jede Einmischung von außen und im entschiedenen Widerstand gegen jeden Versuch, weitere Erfolge der Revolution zu verhindern, ruft der Kongress der Arbeiter- und Soldaten-Deputierten die Demokratie Russlands auf, alle lebendigen Kräfte des Landes in jedem Bereich des nationalen Lebens zu mobilisieren, um die Front und die Heimat zu stärken.

Lew Kamenew bringt eine Gegenresolution im Namen der Bolschewiki ein, aber sie wird abgelehnt. Am Ende stimmt eine überwältigende Mehrheit von 325 Delegierten für Zeretellis Resolution. 57 Delegierte stimmen für Kamenews bolschewistische Revolution und zwanzig enthalten sich.

In einer weiteren Resolution erklärt der Sowjet seine bedingungslose Unterstützung für die Provisorische Regierung, die, wie es darin heißt, „im Großen und Ganzen“ die Interessen der „russischen Demokratie“ repräsentiere. Die Aktionen und Entscheidungen der Provisorischen Regierung müssten jedoch kontrolliert werden, heißt es weiter in der Resolution.

Mit dieser Linie versucht das Sowjet-Exekutivkomitee seine Allianz mit der Provisorischen Regierung fortzusetzen. Es hält dafür, dass die arbeitenden Massen durch Druck auf die Provisorische Regierung die Ziele der Revolution erreichen könnten. Eine dritte Resolution ruft dazu auf, unverzüglich eine Konstituierende Versammlung nach Petrograd einzuberufen. Andere Resolutionen befassen sich mit Arbeiterrechten wie dem Achtstundentag und der Einführung einer Arbeitslosenkasse, sowie mit den Rechten der Soldaten.

Die bolschewistischen Delegierten auf dem Kongress, darunter Kamenew, Nogin und Sewruk, neigen deutlich zur Anpassung an die defensive Stimmung, die im Sowjet vorherrscht. Sewruk, welcher bolschewistische Organisationen aus zwölf Städten repräsentiert, geht sogar so weit, Zeretellis Kriegsresolution öffentlich zu unterstützen.

12. April (30. März): Das Autonome Gouvernement Estland wird gebildet

Im ehemaligen Zarenreich lebten die ethnischen Esten in zwei administrativen Einheiten, dem Gouvernement Estland und dem Gouvernement Livland. Als Zugeständnis an die populäre Forderung nach nationaler Selbstbestimmung für ethnische Minderheiten legt die Provisorische Regierung am 12. April die beiden Gouvernements zu dem Autonomen Gouvernement Estland zusammen. Bei den Wahlen zur estnischen Provinzversammlung (Maapäew) nach dem allgemeinen Wahlrecht gewinnen die Bolschewiki fünf der 62 Sitze.

Zürich, 14. April: Soirée der Dadaisten mit Werken von Apollinaire, Marinetti, Kandinsky, Kokoschka und anderen

Künstler der erst kurz zuvor entstandenen Richtung der Dadaisten veranstalten in Zürich, wo die Bewegung 1916 ihren Ausgang nahm, ihre zweite Soirée. Die Gruppe ist vom Krieg und der Gesellschaft, die ihn hervorgebracht hat, angeekelt. Die Künstler reagieren darauf gewissermaßen mit einer Antikunst, die sich der konventionellen Logik und Rationalität entzieht.

Die Soirée besteht aus einer Einführung von Tristan Tzara, mehreren Musikstücken von Hans Heusser und Marcel Sulzberger (von den Autoren persönlich vorgetragen), Gedichten von Blaise Cendrars, Guillaume Apollinaire, Jakob Van Hoddis, Albert Ehrenstein und dem Maler Wassily Kandinsky (vorgetragen unter anderem von Hugo Ball), der Vorlesung von Stücken des Futuristen Filippo Marinetti und des Kunstkritikers Herwart Walden, sowie der Aufführung eines kurzen Schauspiels des expressionistischen Malers Oskar Kokoschka, das den Titel trägt: „Sphinx und Strohmann“ (1907).

Ein Kritiker versichert: „Die Zürcher Dada-Soirées haben die Entstehung von Dada als eines spektakulären internationalen Phänomens wesentlich bestimmt“, und sie hätten auch seither „ihre Bedeutung für die Geschichte der europäischen Kunstentwicklung nicht eingebüßt“.

Das weitere Schicksal vieler dieser Künstler spiegelt die Tragödien und Traumata des zwanzigsten Jahrhunderts wider. Der Franzose Apollinaire wird aus dem Ersten Weltkrieg geschwächt durch eine Verwundung zurückkehren und 1918 der Spanischen Grippe zum Opfer fallen. Der deutsch-jüdische Van Hoddis wird in einem Konzentrationslager der Nationalsozialisten umkommen. Der Deutsche Herwart Walden wird vor Hitler in die Sowjetunion flüchten und 1941 in einem stalinistischen Gefängnis umkommen. Der Österreicher Ehrenstein wird 1950 verarmt in New York City sterben.

Später wird der Dichter Richard Huelsenbeck rückblickend kommentieren, dass die Zürcher Polizei zwar ein großes Interesse am Treiben der Dadaisten an den Tag legte, aber gleichzeitig einen Politiker völlig unbehelligt ließ, „der sich auf eine große Revolution vorbereitete. Ich spreche von Lenin, der unser Nachbar war.“

St. Louis, Missouri, 14. April: Sozialistische Partei von Amerika nimmt internationale Resolution gegen Krieg an

Als Reaktion auf den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg führte die Socialist Party of America (SPA) vom 7. bis zum 14. April in St. Louis (Missouri) einen Sonderkongress durch. Es war der sechste Parteitag der SPA seit ihrer Gründung 1901, und 200 Delegierte aus allen Teilen des Landes, wie auch mehrere Delegierte aus Europa, nahmen daran teil.

Der Parteitag wählte bei seiner Eröffnung ein Komitee aus fünfzehn Delegierten, das eine Resolution gegen Krieg und Militarismus entwerfen sollte. Einige Tage später legt das Komitee seine Ergebnisse vor. Wie sich herausstellt, hat es sich in drei Fraktionen gespalten:

  • In eine Zentrumsmehrheit (elf Mitglieder des Komitees). Sie vertritt eine internationalistische Antikriegshaltung.
  • In eine rechte Minderheit (bestehend aus nur einem Mitglied). Sie unterstützt die Kriegserklärung der USA an Deutschland.
  • In eine linke Minderheit (drei Mitglieder des Komitees), die wichtige proletarische, internationalistische Ergänzungen zu dem Bericht der Mehrheit vorschlägt.

Nach ausführlicher Diskussion nehmen die Parteitagsdelegierten den Bericht der Mehrheit an. Das Stimmenverhältnis für die drei Vorschläge ist 140 zu 5 zu 31.

Später wird die beschlossene Resolution unter dem Titel „Die Sozialistische Partei und der Krieg“ veröffentlicht. Sie beginnt folgendermaßen. „Die Sozialistische Partei der Vereinigten Staaten bekräftigt in der aktuellen schweren Krise feierlich, dass sie an dem Prinzip des Internationalismus und der Solidarität der weltweiten Arbeiterklasse festhält. Sie bekräftigt ihre unabänderliche Opposition gegen den Krieg, den die Regierung der Vereinigten Staaten gerade erklärt hat.“

Zu der besonderen Frage des amerikanischen Kriegs gegen Deutschland greift die endgültige Version der Resolution folgende Formulierungen der linken Minderheitsposition auf: „Der Krieg der Vereinigten Staaten gegen Deutschland kann auch nicht mit der Begründung gerechtfertigt werden, dass es ein Krieg zur Verteidigung amerikanischer Rechte oder der amerikanischen ‚Ehre‘ sei. So verbrecherisch der unbeschränkte U-Bootkrieg der deutschen Regierung auch war und ist, so ist er dennoch keine Verletzung der Rechte des amerikanischen Volkes an sich, sondern nur eine Beeinträchtigung der Möglichkeit bestimmter Gruppen amerikanischer Kapitalisten, Profit aus dem Blut und den Leiden unserer Mitmenschen in den kriegführenden Ländern Europas zu schlagen.“

Später werden dann sowohl der ergänzte Bericht der Mehrheit als auch die Resolution der rechten Minderheit der SPA-Mitgliedschaft zur Abstimmung vorgelegt. Die Mitgliedschaft wird mit großer Mehrheit die internationalistische Position des Sonderkongresses im Verhältnis von acht zu eins (22.345 zu 2.752) bestätigen.

Die SPA steckte vor dem Sonderkongress in St. Louis in einer tiefen internen Krise. Die Partei hatte seit über vier Jahren keinen Parteitag mehr abgehalten, und die Zahl ihrer Mitglieder war seit 1912 um mehr als dreißig Prozent gefallen. Der Bewegung mangelte es an einer leninistischen Partei, die einen internen politischen und ideologischen Kampf gegen den Opportunismus und die anti-marxistischen Positionen geführt hätte. Unter dem Druck der Kriegskrise drohte sie auseinanderzubrechen.

Mehrere Historiker haben nachgewiesen, dass der linke SPA-Flügel Anfang 1917 deutlich von Trotzki beeinflusst wurde, obwohl sein Aufenthalt nur von sehr kurzer Dauer war. In seinen Schriften, Reden und Diskussionen kämpfte Trotzki gegen die den Krieg befürwortenden, pazifistischen und nationalistischen Positionen, die in den Parteien der internationalen sozialistischen Bewegung, auch in den Vereinigten Staaten, auftauchten.

Schon einen Tag nach seiner Ankunft in New York am 13. Januar nahm Trotzki am Treffen einer Gruppe von zwanzig linken SPA-Mitgliedern und anderer revolutionärer Emigranten teil. Das Meeting war einberufen worden, um ein „Aktionsprogramm für die sozialistische Linke“ zu diskutieren. Die Versammlung beschloss, ein Unterkomitee zu bilden, um die Herausgabe einer vierzehntägigen theoretischen Zeitschrift vorzubereiten, welche das Programm der Zimmerwalder Linken in den USA verbreiten sollte. Anwesend auf diesem Treffen im Januar war auch Louis Boudin, der drei Monate später, auf dem Sonderkongress in St. Louis, die linke Fraktion des Komitees für eine Resolution gegen Krieg und Militarismus anführen sollte.

Das auf dem Treffen vom 13. Januar beschlossene Journal kam dann unter dem Namen The Class Struggle (Klassenkampf) heraus. Es erschien von Mai 1917 bis zur Gründung der Kommunistischen Partei der USA 1919. Es wurde von Ludwig Lore, Louis Boudin und Louis Fraina herausgegeben und brachte regelmäßig englische Übersetzungen von Schriften Lenins, Trotzkis, Rosa Luxemburgs, Franz Mehrings oder anderer führender Vertreter des internationalen Marxismus.

Obwohl Trotzki zum Zeitpunkt des Sonderkongresses der SPA im April New York schon wieder verlassen hat, spielen sein Programm des proletarischen Internationalismus und seine Theorie der Permanenten Revolution eine wichtige Rolle für die Orientierung des linken SPA-Flügels in Fragen des Weltkriegs und der russischen Februar- und Oktoberrevolution 1917.

Berlin, 15. April: Arbeiter beschließen zu streiken

Vorne sitzend: Oskar Hippeund seine Frau Gertrud. Hinter ihnen stehend: die amerikanischen Trotzkisten Bill und Jean Brust. Der revolutionäre Arbeiter Hippe trat später der trotzkistischen Bewegung in Deutschland beiund kämpfte gegen die Nazis.

Angesichts der an diesem Tag wirksam gewordenen erneuten Lebensmittelkürzungen – statt 1350 g Brot gibt es nur noch 450 g in der Woche – finden vor allem in Rüstungsbetrieben Betriebsversammlungen statt. Es wird beschlossen, am nächsten Tag zu streiken.

Oskar Hippe, der in der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik arbeitet (und später der trotzkistischen Linken Opposition in Deutschland beitreten wird) schreibt in seinen Erinnerungen:

In Berlin nahm der Einfluss des Spartakusbundes unter den Betriebs-Vertrauensleuten als auch unter den Kollegen selbst zu. Trotzdem konnte die Führung nicht davon ausgehen, die Mehrheit der Gewerkschaftsfunktionäre oder der Arbeiter im Betrieb zu gewinnen.

Immer noch war es die Sozialdemokratie und besonders ihr linker Flügel, der den größeren Einfluss ausübte … [I]n den Betrieben wuchs die Unzufriedenheit. Die Arbeiter ließen sich nicht mehr beschwichtigen. An der Front nahmen die Desertionen zu. In Berlin soll es mehr als 30.000 Deserteure gegeben haben.

Die Antikriegsbewegung, die der Spartakusbund durch mündliche Propaganda wie auch durch Flugschriften in die Betriebe trug und an der sich auch die USPD beteiligte, wurde von den Arbeitern positiv aufgenommen. In den Betrieben wurden Kampfkomitees gebildet. Ihre ersten Aufrufe an die Regierung lauteten: Schluss mit dem Krieg, bessere Ernährung und Verkürzung der Arbeitszeit (Es wurde elf Stunden gearbeitet). Die Regierung reagierte nicht, die Gewerkschaftsführung versuchte zu beschwichtigen, war aber nicht in der Lage, die Arbeiter zu beruhigen.“

(Oskar Hippe: … und unsere Fahn ist rot, Hamburg 1979, S. 17)

Kurz vor der geplanten Streikaktion in Berlin wird Richard Müller, der Führer der revolutionären Obleute (Oppositionsbewegung in den Gewerkschaften) verhaftet und zum Militär eingezogen. Viele seiner Genossen vermuten, die Gewerkschaftsführung habe ihn denunziert, was die Wut der Arbeiter noch steigert.

Petrograd, 16. April (3. April): Lenins Ankunft am Finnländischen Bahnhof

Am 16. April rollt die Lokomotive 293 endlich in den Finnländischen Bahnhof ein, und Lenin erscheint auf dem Trittbrett, in seinem schlichten Anzug und runden Hut. Der bolschewistische Führer und seine Genossen sind auf alles gefasst, und Lenin hat sich sogar überlegt, was zu sagen wäre, falls er auf der Stelle verhaftet würde.

Der Petrograder Sowjet pflegt die Tradition, aus dem Exil heimkehrende Revolutionäre festlich willkommen zu heißen. Zähneknirschend schicken die Führer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre eine Empfangsdelegation, die Lenin beim Aussteigen einen Strauß roter Rosen überreicht. Lenin geht zum Wartesaal und trifft dort auf den Führer der Menschewiki, Nikolai Tschcheїdse. Dieser heißt Lenin mit einer eher zweischneidigen Begrüßungsrede willkommen: Er mahnt die Verteidigung der Revolution an und ruft zur „Vereinigung aller Kräfte“ auf, was implizit auf die Unterstützung der Provisorischen Regierung und des Kriegs hinausläuft. Aber Lenin ignoriert Tschcheїdse und wartet unbeteiligt das Ende der Rede ab.

Später wird Trotzki kommentieren: „So empfing die Februarrevolution, zerfahren, wortreich und einfältig noch den Mann, der in der festen Absicht gekommen war, ihr Sinn und Willen einzuflößen.“

Sobald die Reihe zu reden an Lenin kommt, wendet er sich von Tschcheїdse ab und spricht direkt zu der Menge, die zu seinem Empfang gekommen ist:

Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin glücklich, in eurer Person die siegreiche russische Revolution zu begrüßen, euch als die Avantgarde der proletarischen Weltarmee zu begrüßen …Die Stunde ist nicht fern, wo auf den Ruf unseres Genossen Karl Liebknecht die Völker die Waffen gegen ihre Ausbeuter, die Kapitalisten, richten werden … Die weltweite sozialistische Revolution ist angebrochen … in Deutschland brodelt es … In ganz Europa kann der Kapitalismus jederzeit zusammenbrechen. Die russische Revolution, von euch vollbracht, hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution!

Draußen skandiert eine Menge von Arbeitern, Matrosen und Soldaten Lenins Namen. Sobald Lenin auftaucht, präsentiert eine Abordnung Soldaten die Gewehre mit aufgesetztem Bajonett, und eine Kapelle intoniert die Arbeiter-Marseillaise.

Lenin ruft der Menge zu: „Ich grüße euch, auch wenn ich noch nicht weiß, ob ihr all den Versprechen der Provisorischen Regierung glaubt oder nicht. Ich bin jedoch überzeugt, auch wenn sie euch schöne Worte machen und euch viel versprechen – dass sie euch täuschen und mit euch das ganze russische Volk. Die Menschen brauchen Frieden, die Menschen brauchen Brot, die Menschen brauchen Land. Stattdessen gibt man euch Krieg, Hunger statt Brot, und lässt die Landbesitzer unbehelligt … Wir müssen für die soziale Revolution kämpfen, bis zum Ende kämpfen, bis zum vollständigen Sieg des Proletariats. Es lebe die sozialistische Weltrevolution!“

Die Menge trägt Lenin auf den Schultern und hebt ihn auf einen wartenden Panzerwagen. Die versammelten Soldaten fordern eine weitere Rede. Es ist dunkel, und man richtet Scheinwerfer auf Lenin, der auf dem Wagen steht. Die Provisorische Regierung hat zwar versucht, den Einsatz von Panzerwagen bei Demonstrationen zu verbieten, aber die Bolschewiki ignorieren solche Vorschriften. Während eine bewaffnete Arbeitergarde die Straße säumt, fährt Lenins Panzerwagen im Triumphzug nach Petrograd hinein. Die Lichter aller Wagen sind gelöscht, mit Ausnahme jenes, auf dem Lenin steht. „Wer keine Revolution erlebt hat, kann sich keinen Begriff machen von ihrer majestätischen feierlichen Schönheit“, wird sich Krupskaja später erinnern.

Die bolschewistische Zeitung Prawda berichtet: „Auf der Straße grüßte Lenin, der auf einem Panzerwagen stand, das revolutionäre russische Proletariat und die revolutionäre russische Armee, die es nicht nur geschafft hatte, Russland von dem zaristischen Despotismus zu befreien, sondern die soziale Revolution im internationalen Maßstab zu beginnen. Er fügte hinzu, dass das Proletariat der ganzen Welt jetzt voller Hoffnung auf die mutigen Schritte des russischen Proletariats blicke. Die Menge marschierte wie ein Leib hinter dem Wagen her zum Kschesinskaja-Palais, wo die Versammlung weiterging.“

Nachdem sich die Tore des Kschesinskaja-Palais hinter ihm geschlossen hatte, musste Lenin geduldig weitere Begrüßungsreden über sich ergehen lassen. Doch dann führte er eine leidenschaftliche, zweistündige Attacke auf die bolschewistischen Führer, die sich wie Kamenew, Stalin und Muranow in seiner Abwesenheit stark der Verteidigung der Provisorischen Regierung und der Fortsetzung des Kriegs angepasst hatten. „Unsere Partei würde sich für ewig mit Schande bedecken, politisch umbringen, wenn sie auf einen solchen Betrug einginge“, hatte Lenin auf dem Weg nach Russland geschrieben. „Ich werde sogar einen sofortigen Bruch, mit wem auch immer aus unsrer Partei, vorziehen, als dem Sozialpatriotismus nachgeben.“

Noch waren die letzten Begrüßungsworte nicht verklungen, als der ungewöhnliche Gast über dieses Auditorium mit einem reißenden Strom leidenschaftlicher Gedanken herfiel, die sehr häufig wie Geißelhieb klangen“, schrieb Trotzki in der „Geschichte der Russischen Revolution“. „In Wirklichkeit war der Eindruck der Rede, selbst bei den Allernächsten, vorwiegend gerade der der Angst. Alle gewohnten Formeln, die während des Monats, wie es schien, durch endlose Wiederholungen unerschütterliche Festigkeit gewonnen hatten, explodierten eine nach der andern vor den Augen des Auditoriums. Die kurze leninsche Replik auf dem Bahnhof, hingeworfen über den Kopf des fassungslosen Tschcheїdse, wurde hier zu einer zweistündigen Rede entwickelt, unmittelbar an die Petrograder Kader des Bolschewismus gerichtet.

Berlin–Leipzig, 16. April: Große Streikwelle beginnt in Deutschland

In Berlin legen in 319 Betrieben über 200.000 Arbeiter die Arbeit nieder. Sie streiken gegen die mangelhafte Lebensmittelversorgung und auch gegen die Verhaftung von Richard Müller, dem Vertreter der revolutionären Obleute. In großen Protestdemonstrationen ziehen sie durch die Straßen. In einem Flugblatt der Spartakusgruppe heißt es: „Leuchtend ist die russische Arbeiterschaft euch vorangegangen! Gehet hin und tuet desgleichen … Nehmt euer Schicksal in die Hand!“

Organisiert wird der Streik von den revolutionären Obleuten, deren Kern die Metallarbeiter bilden. Karl Retzlaw, der als Werkzeugschleifer bei Cassirer in Berlin arbeitet, wird später in seinen Erinnerungen schreiben, dass die Gewerkschaftsbürokratie alles getan hatte, um den Arbeitskampf zu verhindern, den sie als „statutenwidrig“ verurteilte. Da der Streik aber nun ausgebrochen ist, setzen sich die Gewerkschaftsbürokraten an seine Spitze mit dem Ziel, ihn so rasch wie möglich zu beenden.

An den Streiks sind überproportional Frauen beteiligt, die sich nicht nur um Kinder und Haushaltsarbeit kümmern, sondern zunehmend auch die Industriearbeitsplätze kriegsdienstleistender Männer ausfüllen müssen und Schwerarbeit verrichten.

In Leipzig streiken über 30.000 Arbeiter. Sie erheben zahlreiche politische Forderungen, darunter die nach der Bildung eines Arbeiterrates. Außerdem verlangen sieFrieden ohne Annexionen, ein Ende der Zensur, die Aufhebung des Belagerungszustands, Schluss mit der Arbeitspflicht, die Freilassung politischer Gefangener und das allgemeine Wahlrecht. Auf einer Versammlung ruft ein Arbeiter dazu auf, dem Beispiel der russischen Arbeiter zu folgen.

Soissons und Reims, Frankreich, 16. April: Die Nivelle-Offensive

In der Nivelle-Offensive an der Westfront greifen neunzehn französische Divisionen deutsche Positionen auf einem achtzig Kilometer langen Gebietsstreifen an. General Robert Nivelle, seit Dezember 1916 Kommandeur der französischen Armee und Oberbefehlshaber, behauptet, der Angriff werde den Krieg innerhalb von 48 Stunden beenden, weil er die deutschen Verteidigungslinien durchbrechen werde.

35.000 senegalesische Kolonialsoldaten und zwei Divisionen russischer Soldaten unterstützen die französischen Truppen in ihrem Vormarsch, aber sie erklären sich nur zögernd bereit, in die Kämpfe einzugreifen. Viele sind von der russischen Revolution inspiriert und fordern einen Friedensschluss.

Der erste Tag der Schlacht wird für die französische Armee zur Katastrophe. Sie verliert mindestens 40.000 Mann, erzielt aber praktisch keine Geländegewinne. Der Versuch, in großem Umfang Panzer einzusetzen, ist vergeblich. 150 Panzer gehen schon am ersten Tag der Kämpfe verloren. Nivelle ist überzeugt, trotz allem noch einen Durchbruch erzielen zu können, und wird immer neue Vorstöße befehlen, bis der Angriff am 20. April erstmals zum Stillstand kommt.

Nivelle wird am 15. Mai abgesetzt werden. Die Offensive selbst geht bis zum 9. Mai weiter. Bis dahin hat die französische Armee 187.000 Mann und die deutsche Armee 168.000 Mann verloren.

Dem Scheitern dieser Offensive sind fast drei Jahre erbitterter Kämpfe vorangegangen, und fast anderthalb Millionen französische Soldaten sind entweder getötet, verwundet oder gefangen genommen worden. Die Unzufriedenheit unter den französischen Truppen wächst, und Ende April kommt es zu ersten Meutereien.

Loading