Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag in einem bayrischen Bierzelt das transatlantische Bündnis in Frage gestellt hat, arbeitet die Bundesregierung systematisch an der Ausweitung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Asien.
Am Mittwochabend traf der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang in Berlin ein, wo er vor dem Kanzleramt mit militärischen Ehren empfangen wurde. Im Anschluss fand ein erstes Gespräch mit Merkel und mehreren Ministern, darunter Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) „über außen- und wirtschaftspolitische Fragen“ statt.
Am heutigen Donnerstag treffen sich Li und Merkel ein weiteres Mal „zu einem Gespräch im kleinen Kreis“, wie es auf der Homepage der Bundesregierung heißt. Anschließend sollen mehrere bilaterale Abkommen unterzeichnet werden, und es gibt eine gemeinsame Pressekonferenz. U.a. soll es auch um eine gemeinsame Abstimmung vor dem G20-Gipfel in Hamburg Anfang Juli gehen, zu dem auch Chinas Staatspräsident Xi Jinping erwartet wird.
Die politischen und wirtschaftlichen Beziehung Deutschlands zu China sind bereits jetzt so eng wie zu keinem anderen Land außerhalb der EU. Seit 2011 finden regelmäßig Regierungskonsultationen zwischen beiden Ländern statt. Im vergangenen Jahr war China der wichtigste Wirtschaftspartner Deutschlands, noch vor Frankreich und den USA, mit einem Handelsvolumen von knapp 170 Milliarden Euro.
Nun soll die Zusammenarbeit weiter ausgebaut werden. Bereits vor Li Keqiangs Ankunft in Berlin verkündete die Deutsche Bank, sie wolle gemeinsam mit der China Development Bank in den kommenden fünf Jahren mit einem Kredit über drei Milliarden Dollar Infrastruktur-Projekte auf der „Neuen Seidenstraße“ finanzieren. Die „One Belt, One Road“-Intiative der chinesischen Regierung knüpft historisch an die Seidenstraße des Mittelalters an. Sie umfasst Planungen für den Bau einer ganzen Reihe von Häfen, Eisenbahnlinien und Straßen, die die großen Wirtschaftszentren Chinas mit Europa verbinden sollen.
Bereits Anfang der Woche hatte die Bundesregierung mit dem zweiten „Riesen“ in Asien, Indien, Entwicklungsprojekte in Milliardenhöhe vereinbart. Der indische Premierminister Narendra Modi und Merkel vereinbarten im Rahmen der vierten deutsch-indischen Regierungskonsultationen einen Entwicklungsetat, der „in jedem Jahr eine Milliarde Euro“ für Indien vorsieht. Modi sprach vom großen Bedarf Indiens bei der Modernisierung seiner Infrastruktur. Unter anderem würden „Straßen, Eisenbahnen, ein ziviler Luftverkehr und eine moderne Kommunikationstechnik“ gebraucht. In all diesen Bereichen wolle Indien von der Expertise der deutschen Wirtschaft profitieren. „Wir sind wie füreinander geschaffen“, erklärte der indische Premier.
Bei einem Handelsvolumen von etwa 17 Milliarden Euro ist Deutschland bereits jetzt der wichtigste Wirtschaftspartner Indiens innerhalb der EU. Doch die exporthungrige deutsche Wirtschaft erhofft sich in den kommenden Jahren noch weit mehr. „Die Kampagne ‚Make in India‘ und die zahlreichen wirtschaftlichen Reformen der indischen Regierung haben neue Impulse für Investitionen gesetzt“, frohlockte etwa der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven.
Neben Bundeskanzlerin Merkel und Premier Modi nahmen die jeweiligen Fachminister an den Konsultationen teil. Von deutscher Seite waren das Auswärtige Amt, das Wirtschafts-, Bildungs-, Umwelt- und Entwicklungsministerium vertreten. Laut Bundesregierung war neben bilateralen Themen „die Gestaltung der globalen Ordnung“ ein Schwerpunktthema.
Die Treffen mit Modi und Li Keqiang waren seit längerem geplant. Sie sind Teil einer umfassenden Neuorientierung des deutschen Imperialismus, die in direktem Zusammenhang mit dem Riss im transatlantischen Bündnis steht. Außenminister Gabriel hatte bereits kurz nach dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump die Entwicklung einer deutschen und europäischen Asienstrategie angekündigt, um „die Räume, die Amerika frei macht, zu nutzen“.
Am 24. März verkündete Gabriel dann offiziell „eine Neuausrichtung“ der deutschen „Asienpolitik“ und die „Einrichtung einer neuen Asien- und Pazifikabteilung“ im Auswärtigen Amt. In einer Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes erklärte er: „Wir erleben zurzeit in vielen Bereichen der internationalen Politik Krisen, Umbrüche und neue Dynamiken. Man hat den Eindruck, diese Welt wird neu vermessen – und dabei benutzt jeder sein eigenes Maßband. Eines ist dabei klar: Die aufstrebenden Staaten Asiens werden bei dieser Neuvermessung der Welt eine Schlüsselstellung einnehmen.“
Es gehe darum, die deutschen „Beziehungen zu Asien zu intensivieren und strategischer zu gestalten, um der weiter steigenden Bedeutung dieser Region mit seinen mehr als vier Milliarden Menschen und schnell wachsenden Märkten noch besser gerecht zu werden,“ so Gabriel. Er habe „deshalb entschieden, im Auswärtigen Amt erstmals eine eigene Asienabteilung aufzubauen, die unsere regionalen Kompetenzen besser bündeln und weiter ausbauen soll“. Es sei „höchste Zeit, dass wir auch in unserer Mannschaftsaufstellung im Auswärtigen Amt dem weiter wachsenden Gewicht Asiens gerecht werden.“
Am gleichen Tag erklärte er in einer programmatischen Festrede beim 97. „Liebesmahl“ des Ostasiatischen Vereins in Hamburg: „Asien ist eine Schlüsselregion für unsere Zukunft hier zu Hause. Denn die Wege zur Lösung unserer globalen Herausforderungen werden eben nicht mehr nur von den alten Strukturen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt werden können. Sondern die Wege zur Lösung internationaler Herausforderungen verlaufen durch Asien.“
Nicht nur Gabriels Wortwahl erinnert an das alte Mantra des deutschen Imperialismus vom „Platz an der Sonne“. Das jährliche „Liebesmahl“ des Ostasiatischen Vereins fand erstmals 1901 statt mit dem erklärten Ziel der „Besprechung der deutschen Interessen in möglichst regelmäßigen Zusammenkünften“. Ehrengast war damals Prinz Heinrich von Preußen, der Bruder des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II.
Heute verfolgt der deutsche Imperialismus seine geopolitischen Ambitionen in Asien noch systematischer und aggressiver als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am 5. und 6. April rief das Auswärtige Amt im Rahmen einer außerordentlichen Regionalkonferenz in der srilankischen Hauptstadt Colombo seine 40 Botschafter in der Region „Indischer Ozean“ zusammen, um sie auf die neue weltpolitische Ausrichtung einzuschwören.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Zu Beginn seiner Eröffnungsansprache erklärte Staatssekretär Markus Ederer in bester deutscher Großmachtmanier: „Was für eine wunderschöne Lage an den Ufern des Indischen Ozeans! Ich könnte mir keinen schöneren Hintergrund für die heutige Premiere vorstellen… Zum ersten Mal treffen sich deutsche Botschafter aus fünf Kontinenten, um über eine Region zu diskutieren, die sich traditionell nicht auf dem Radarschirm der deutschen Außenpolitik befand: den Indischen Ozean.“
Neben Handels- und Wirtschaftsinteressen verfolgen Deutschland und die EU nun auch offen sicherheitspolitische und militärische Interessen in einer Region, die bereits jetzt zu den meist umkämpften in der Welt gehört. Die USA hatten bereits unter Trumps Vorgänger Barack Obama ihre Hinwendung nach Asien (Pivot to Asia) verkündet, um China wirtschaftlich zu isolieren und militärisch einzukreisen. Die neue US-Regierung bereitet immer offener eine direkte militärische Konfrontation mit dem Iran, Nordkorea und China vor.
Nun verfolgt auch die deutsche Regierung das erklärte Ziel, in dieser explosiven Region mitzumischen und seine geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen auch militärisch durchzusetzen.
Ederer erklärte in Colombo: „Europa ist sicherheitspolitisch nicht länger ein ‚Zwerg‘: Wir haben eine kritische Rolle beim Nuklearabkommen mit dem Iran gespielt; wir helfen Somalia zu stabilisieren (die EU trägt am meisten zu AMISOM bei); wir leisten in Jemen beachtliche humanitäre und Entwicklungshilfe…. Um die Sicherheit der Meere zu garantieren, schreckt die EU mit der Operation ‚Atlanta‘ erfolgreich Piraten vor der Küste Somalias ab… Dennoch gibt es Raum für mehr. Wir sollten unsere Sicherheitspartner in der Region weiter stärken. Können wir zum Beispiel mehr in gemeinsame Manöver investieren?“
Trotz des offensichtlichen Größenwahns – momentan ist die deutsche oder europäische Marine nicht ansatzweise in der Lage, den Indischen Ozean zu kontrollieren oder es mit der hochgerüsteten US Navy aufzunehmen – sind das nicht nur leere Worte. Ebenfalls am gestrigen Mittwoch traf Außenminister Sigmar Gabriel den indonesischen Koordinationsminister für maritime Angelegenheiten, Luhut Binsar Pandjaitan, zu einem Gespräch im Auswärtigen Amt, um eine Absichtserklärung zur maritimen Agenda zu unterzeichnen.
Die deutsche Hinwendung nach Asien wird nicht in allen Teilen der herrschenden Klasse wohlwollend kommentiert. Ein Kommentar in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung bezeichnet den Glauben, „Europa könne angesichts enttäuschter Liebe zu Washington nun Asien umarmen“, als „Selbstüberschätzung“. Europa gelte „in der asiatischen Wahrnehmung gegenwärtig allenfalls als Krisengebilde“. Zudem sei „von Delhi über Peking oder auch Jakarta mit den potenziellen Partnern in Asien nicht gut Kirschen essen“. So glaube etwa China, es könne „dank seiner Wirtschaftsmacht […] jeden abstrafen, der sich seinen Vorstellungen widersetzt.“