Wir veröffentlichen hier eine redigierte Fassung des Vortrags, der am 25. März 2017 online gehalten wurde. Die englische Tonaufnahme und die Bilder zum Vortrag sind unten verlinkt und sind ansonsten hier zu finden.
Im Russischen Reich wurde bis 1918 der julianische Kalender verwendet, der hinter dem heute allgemein verwendeten gregorianischen Kalender 13 Tage zurückliegt. In diesem Vortrag werden die Daten nach dem gregorianischen Kalender angegeben. Bei wichtigen Daten der Revolution werden in Klammern die Daten in der damals üblichen julianischen Datierung mit den Kürzeln „a.S. (alter Stil)“ angegeben, da sie so Eingang in die Geschichtsbücher gefunden haben.
Lenin hat 1905 einmal als „Generalprobe“ für die Revolution von 1917 beschrieben. Trotzki bezeichnete sie auch als „großartiges Vorspiel“ von 1917, und das war die Revolution von 1905 in der Tat. In einem Artikel, den die World Socialist Web Site vor einigen Tagen neu veröffentlicht hat, greift Trotzki diesen Gedanken wieder auf und erklärt, dass die Arbeiter die Revolution 1905 studieren und Lehren aus ihr ziehen müssen.
Das Russische Reich wurde 1905 von einem absolutistischen Gewaltherrscher, Zar Nikolaus II., beherrscht. Er regierte auf Grundlage von Erlassen, und stützte sich bei der Verwaltung seiner gewaltigen Staatsmaschinerie auf eine Schicht von Adligen und Bürokraten. Darüber hinaus verfügte der Zar über ein großes Militär, für dessen Unterhalt ein beträchtlicher Teil des Volksvermögens aufgewandt wurde.
Es gab zu dieser Zeit in Russland keine Meinungsfreiheit. Es gab auch keine Pressefreiheit, stattdessen herrschte strenge Zensur. Es gab keine Versammlungsfreiheit, ja nicht einmal das Recht, Bittschriften an den Zaren zu richten. Es war illegal, eine Bittschrift an den Zaren auch nur einzureichen, nur eine Handvoll Adliger in seinen Ministerien hatten dazu das Recht. Es gab kein Streikrecht und kein Recht, Gewerkschaften zu bilden. Es gab kein Parlament, kein Wahlrecht, keinen Achtstundentag. Für die meisten Arbeiter dauerte der durchschnittliche Arbeitstag im ausgehenden 19. Jahrhundert rund 14 Stunden oder – wenn man Glück hatte – 12 Stunden. Im Jahr 1897 beschränkte der Zar den Arbeitstag großzügig auf elfeinhalb Stunden, doch viele Betriebe hielten sich nicht daran. Bei den kleinsten Verstößen mussten Arbeiter mit Geldstrafen rechnen. Wenn sie 15 Minuten zu spät zur Arbeit kamen, kostete sie dies den ganzen Tageslohn. Für Fehler bei der Produktion mussten sie noch mehr zahlen. Dabei gehörten ihre Löhne zu den niedrigsten in ganz Europa.
Das Russische Reich war nicht zur Gänze „russisch“. Menschen russischer Nationalität machten nur etwa 50 Prozent der Reichsbevölkerung aus. Die Nationalitätenfrage betraf rund 150 Nationalitäten. Einige der größeren sind eher bekannt und untersucht wurden. So gab es beispielsweise Polen im Russischen Reich. Polen war Ende des 18. Jahrhunderts [zwischen Russland, dem Habsburger Reich und Deutschland] aufgeteilt worden. Die Polen unter zaristischer Herrschaft wurden gezwungen, sich zu russifizieren: In den Schulen mussten sie Russisch statt Polnisch lernen. Dasselbe galt für die Finnen, da Finnland ebenfalls Teil des Reiches war, und auch für die jüdische Bevölkerung, die zu den unterdrücktesten Nationalitäten im Russischen Reich dieser Zeit gehörte. Die jüdische Bevölkerung zählte rund 5 Millionen Menschen und durfte nur im Rahmen des so genannten Ansiedlungsrayon leben. Viele Berufswege blieben ihr versperrt. Es gab Quoten für die Aufnahme an Universitäten, und natürlich hatten Juden kein Wahlrecht. Nach der Ermordung von Zar Alexander II. im Jahr 1881 kam es zu einer Welle von antijüdischen Pogromen. Bei so einem Pogrom geschah Folgendes: Bewaffnete Schlägerbanden agierte entweder unter der gezielten und direkten Leitung der Polizei oder wurde zumindest von letzterer geduldet. Sie fielen in jüdische Viertel ein, töteten und folterten Menschen, raubten ihre Häuser aus und zerstörten ihre Geschäfte. Am Ende kamen sie im Wesentlichen unbescholten davon. Zwei besonders berüchtigte Pogrome fanden vor 1905 in Kischinew statt, das im heutigen Moldawien liegt.
Russland bestand überwiegend aus Bauern. Die meisten Bauern konnten weder lesen noch schreiben und waren verarmt. Sie lebten in 500.000 Dörfern und Dörfchen über das ganze Land verstreut. Trotzki beschrieb seinerzeit die „Verbindungslosigkeit“ des Bauerntums, die enorme politische Probleme aufwarf: Wie kann man Menschen vereinen, die über ein derart großes Land verstreut waren?
Die soziale Struktur der Bauernschaft war nicht homogen. Es gab extrem reiche Bauern und sogar Großgrundbesitzer, die oft der Kapitalistenklasse nahestanden. Es gab extrem arme Bauern, die absolut nichts besaßen und stark den Landarbeitern ähnelten. Sie mussten ihre Arbeitskraft an Kapitalisten oder andere, reichere Bauern verkaufen. Rund 60.000 Großgrundbesitzer verfügten über so viel Land wie 100 Millionen Bauern, es gab also eine relativ kleine Schicht von extrem reichen Grundbesitzern. Oft stammten diese aus dem Adel. Der Adel machte Ende des 19. Jahrhunderts eine schwere Zeit durch und begann, sein Land an die Bourgeoisie zu verkaufen, was viele soziale Spannungen hervorrief. Dennoch war er viel reicher als die überwältigende Mehrheit der Bauern.
Im Jahr 1861 wurden die Leibeigenen, deren Lage in vielerlei Hinsicht derjenigen von Sklaven glich, aus der Leibeigenschaft entlassen. Doch diese Bauernbefreiung war extrem begrenzt. Sie brachte eine enorme Schuldenlast mit sich. In vielen Fällen brauchten „befreite“ Bauern 48 Jahre, um ihre Schulden abzahlen zu können. Sie mussten sehr hohe Steuern entrichten und lebten im Wesentlichen im Elend. Sie sehnten verzweifelt eine Neuverteilung des Landes und einen Erlass ihrer Schulden herbei.
Die Industrie begann im ausgehenden 19. Jahrhundert relativ rasch zu wachsen. Sie wurde größtenteils über ausländische Kredite finanziert, die in erster Linie aus Großbritannien und Frankreich und in geringerem Maße auch aus Deutschland kamen. Dies führte zum Phänomen der, wie Trotzki es nannte, „ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung“. Russland war zwar deutlich hinter den weiter fortgeschrittenen westlichen Ländern zurückgeblieben. Doch ein britischer oder französischer Kapitalist, der in Russland investieren wollte, importierte dabei Kapital und die modernste Technik, die größten Fabriken, die neuesten Maschinen usw. Auf diese Weise übersprang Russland mehrere Zwischenstufen der Entwicklung, die andere Länder durchgemacht hatten. Dies führte zu einer hohen Konzentration von Arbeitern in Fabriken mit über 1000 Arbeitern (mehr noch als in den USA, die damals das am weitesten fortgeschrittene Land waren und beim Bau derartiger Fabriken das Vorbild lieferten). So gab es also ein junges Proletariat, das gerade vom Land gekommen war und nun in der Textil-, Metall-, Bergbau – oder Tabakindustrie arbeitete. Das Proletariat lebte zusammengedrängt in Industriezentren, die sich meist am Stadtrand befanden. Diese Fabriken entstanden nicht auf organische Weise im Stadtinneren.
Die 3 bis 5 Millionen Arbeiter in den großen Industriezentren von St. Petersburg, Moskau, Iwanowo und Kiew produzierten die Hälfte des nationalen Einkommens, also genauso viel wie der Landwirtschaftssektor insgesamt. So war das Proletariat zwar numerisch klein, doch seine Rolle in der russischen Wirtschaft war immens. Sein relatives soziales und wirtschaftliches Gewicht war gewaltig.
Die erste Eisenbahnstrecke war 1851 eröffnet worden und verlief zwischen Moskau und St. Petersburg. Abgesehen davon herrschte, wie Trotzki es ausdrückte, vollendete Wegelosigkeit. Die Straßen in Russland waren fürchterlich. Während der Regenzeit im Frühjahr oder Herbst, oder wenn der Schnee schmolz, waren sie praktisch unpassierbar. Der Schlamm reichte bisweilen bis zu den Hüften, sodass man kaum vorwärts kam. Daher waren die Eisenbahnstrecken die wichtigste Verbindung zwischen den Städten und den Industriezentren.
Im Jahr der Revolution 1905 umfasste das Eisenbahnpersonal, das eine unglaublich wichtige politische Rolle spielen sollte, etwa 667.000 Arbeiter. Das ist eine Armee von Arbeitern, und sie spielten, wie wir bald sehen werden, eine entscheidende Rolle.
Es gab einige Liberale, die oft in den so genannten Semstwos vorzufinden waren. Bei den Semstwos handelte es sich um eine Form der Lokalregierung. Sie waren vorwiegend in ländlichen Gebieten anzutreffen und für die Straßen, die Bildung und Gesundheitsversorgung, aber für kaum mehr, verantwortlich. Sie hatten wenig politische Macht und waren auch wenig zahlreich. Im Allgemeinen gab es auch in den Städten nur wenige kleinbürgerliche Liberale, und ihr politischer Einfluss war begrenzt.
Viele Menschen lebten in Erwartung einer Revolution, die den Zar stürzen und eine bürgerliche Republik etablieren sollte. Träume vom Sozialismus schienen hingegen in weiter Ferne zu liegen, besonders, wenn man Russland mit den wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Ländern in Westeuropa verglich (besonders mit den wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Ländern).
Dennoch war Das Kapital von Marx 1872 ins Russische übersetzt worden (es war eine der ersten Übersetzungen dieses Werks überhaupt). Es kam an der zaristischen Zensur vorbei, weil diese in dem Werk nur eine trockene Ansammlung von Wirtschaftsstatistiken sah.
Die Bewegung der Narodniki (Volkstümler), die bis in die 1870er Jahre dominierte, versuchte den Sozialismus auf der Grundlage der Bauerngemeinschaft und des kollektiven Eigentums auf dem Land einzuführen, in der Hoffnung, so die Entwicklung des Kapitalismus vielleicht ganz vermeiden zu können. Im Jahr 1881 schrieben die Narodniki sogar an Marx und fragten ihn, was in Russland zu erwarten sei und ob man darauf hoffen dürfe, dass hier der Sozialismus auf Grundlage der Bauerngemeinschaft (obschtschina) entstehen würde.
Die erste Gruppe russischer Marxisten wurde 1883 in Genf von einer Gruppe von sechs Revolutionären gebildet, die sich im Exil befanden und von Georgi Plechanow geführt wurden (Plechanow ist der Mann in der Mitte des Bildes). Plechanow übersetzte wichtige Werke, verfasste mehrere Schriften, um Marx breiter bekannt zu machen, und beteiligte sich an der Arbeit der Zweiten Internationale in Europa, die 1889 gegründet worden war. In diesem Jahr erklärte Plechanow in einer bekannten Rede: „Die revolutionäre Bewegung in Russland wird nur als Arbeiterbewegung siegen, oder sie wird überhaupt nicht siegen.“ Vielen seiner Kritiker erschien es geradezu absurd, dies über eine Arbeiterklasse zu sagen, die rein numerisch der Bauernschaft weit unterlegen war.
Einige kleinere Arbeitergruppen wurden in den 1870ern und 1880ern gegründet (Der Nordrussische Arbeiterbund und der Südrussische Arbeiterbund).
Der nächste wichtige Schritt erfolgte im Jahr 1895 mit der Gründung des „Kampfbunds zur Befreiung der Arbeiterklasse“ in St. Petersburg. Zu seinen führenden Mitgliedern gehörten Wladimir Uljanow (der später als Lenin, der Führer der Bolschewistischen Partei, bekannt wurde) und Juli Martow, der später ein führender Menschewik wurde. (Martow ist auf dem Bild rechts zu sehen, und Lenin sitzt in der Mitte am Tisch.)
Von großer Bedeutung für die Entwicklung des Kampfbunds war der Textilarbeiterstreik in St. Petersburg, der Hauptstadt des Russischen Reiches, im Mai-Juni 1896. Gleich nach der Gründung des Kampfbundes brach eine Welle von Streiks unter Textilarbeitern aus. Der Stadtplan zeigt St. Petersburg. Die Fabrik-Symbole markieren die Betriebe, wo der Kampfbund Kontakte hatte und politisch tätig war. Es war fast ein Generalstreik der Textilarbeiter. Es war einer der größten Streiks und gab der weiteren Entwicklung der Arbeiterbewegung in Russland einen riesigen Anstoß.
Dabei handelte es sich nicht um ein Phänomen, das auf St. Petersburg beschränkt war. Hier sind eine Reihe von Städten mit schwarzen Punkten markiert, wo der Kampfbund Mitglieder und Kontakte hatte, Literatur und Flugblätter verteilte und regelmäßig aktiv war. Eine der Fragen, die ich diskutieren möchte, ist: „Wer organisierte die Arbeiterklasse? Wie kam die Arbeiterklasse zur Revolution?“ Die Arbeit in den 1890ern, die Arbeit Plechanows seit 1883, die Arbeit der Revolutionäre in den großen Städten waren ein unverzichtbares Element der Entwicklungen, die schließlich zur Revolution führten.
Wir dürfen nicht vergessen, dass alle diese Aktivitäten illegal waren. Man konnte keine öffentliche Versammlung abhalten. Wenn man den Ersten Mai feiern wollte, und das war eine der jährlich stattfindenden Veranstaltungen, musste man sich beispielsweise im Dickicht im Wald oder am Flussufer treffen. Man konnte keinen Saal mieten, stattdessen fand man vielleicht ein leeres Warenlager. Überall war die Polizei, überall waren Spitzel. Wenn jemand begann, eine Rede zu halten, dauerte es vielleicht 10 oder 15 Minuten, bevor die Kosaken und die Polizei herangestürzt kamen. Oft wurden Leute erschossen. Man konnte verhaftet werden. Als Arbeiter in einem Betrieb konnte man seinen Job verlieren. Die Arbeit dieser frühen Revolutionäre war zur ihrer Zeit vollkommen illegal. Lenin war bereits im Dezember 1895 verhaftet worden. Wenn man verhaftet wurde, legte die Geheimpolizei (Ochrana) eine Akte an, verschaffte sich ein Foto, und bewahrte diese Akte so lange wie möglich auf.
Im Jahr 1898 fand der Gründungskongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) in Minsk statt. Dabei waren neun Delegierte anwesend, und sie alle wurden nur wenige Tage später verhaftet.
Im Dezember 1900 wurde im Ausland die sozialdemokratische Zeitung Iskra (Der Funke) gegründet. Sie wurde auf illegalem Weg nach Russland geschmuggelt, um den Aufbau einer landesweiten Partei der Arbeiterklasse voranzubringen. Das war keine geringe Leistung. Es war enorm schwierig, die Zeitung in München oder eine der großen europäischen Städte drucken zu lassen und sie dann in hoher Auflage nach Russland zu schmuggeln. Die Angelegenheit wurde dadurch erschwert, dass überall die Geheimpolizei lauerte. Sie hatte die sozialdemokratische Bewegung durchsetzt. So kam später heraus, dass der Mann, der einige Jahre lang dafür verantwortlich war, die Iskra nach Russland zu schmuggeln, selbst ein Polizeiagent war. Er kannte alle Termine, Adressen und Kontakte.
Obwohl Russland während des gesamten 19. Jahrhunderts als Bollwerk der Reaktion angesehen wurde, stellte einer der weitsichtigsten Marxisten, Karl Kautsky, 1902 fest, dass in dem großen Reich etwas Neues im Gange war. Er schrieb damals, „Russland, das so viele revolutionäre Anregungen von dem Westen empfangen [hat], ist vielleicht jetzt daran, auch seinerseits revolutionäre Anregungen zu geben.“[1]
Der zweite Parteitag der RSDAP fand im Juli und August 1903 in Brüssel und London statt (ihn auf legale Weise in Russland abzuhalten, war nicht möglich). Bei diesem Parteitag kam es zu einer Spaltung in die zwei großen Fraktionen der Bolschewiki und der Menschewiki. Viele Parteimitglieder sahen diese Spaltung als nur vorübergehend an und verstanden ihre Ursachen nicht ganz. So meinte beispielsweise Trotzki, dass das politische Zerwürfnis schließlich überwunden und die Partei wieder vereint werden könnte.
In seiner Beschreibung der Atmosphäre in Russland am Vorabend von 1905 warf Trotzki einen Blick zurück auf den 2. Parteitag:
„Bereits während der Tagung des Parteikongresses war der ganze Süden Russlands von einer mächtigen Streikwelle erfasst. Bauernunruhen häuften sich. Die Universitäten waren in Gärung. Der russisch-japanische Krieg hatte für eine Weile die Bewegung aufgehalten; aber der militärische Zusammenbruch des Zarismus wurde bald zu einem gewaltigen Motor der Revolution. Die Presse wurde immer mutiger, terroristische Akte häuften sich, die Liberalen kamen in Bewegung, es begann die Bankettkampagne. Die grundlegenden Fragen der Revolution wurden akut.“ (Mein Leben, S. 149)
Ich werde in diesem Vortrag nicht lange auf den Terrorismus eingehen, aber angesichts von Trotzkis Bezug auf die Terroristen will ich hier nur kurz eines erwähnen: Zwischen 1893 und 1917 haben Terroristen, die größtenteils aus der alten Narodniki-Bewegung und Organisationen wie der Narodnaja Wolja (Der Volkswille) kamen und sich später oft der Sozialrevolutionären Partei anschlossen, etwa 12.000 Beamte des zaristischen Regimes getötet. Dabei handelte es sich zum einen um Attentate, die von einem Studenten oder jungen Arbeiter verübt wurden, der auf einen Gouverneur, Polizeichef, oder hohen Beamten zuging und ihn niederschoss. Zum anderen warfen sie Bomben und sprengten sowohl ihre Opfer als auch sich selbst in die Luft. Dabei brachten sie einige sehr bekannte Politiker um.
Im Jahr 1904 töteten sie Innenminister Plehwe, der die gesamten Aktivitäten der Polizei in Russland leitete. Er wurde von einem jungen Sozialrevolutionär in die Luft gesprengt. Der Onkel des Zaren wurde durch ein Attentat umgebracht. Viele andere Figuren des Regimes überlebten Attentate, darunter Trepow, doch sie lebten in permanenter Angst vor weiteren Anschlägen. Die Bolschewistische Partei und die Menschewiki lehnten den individuellen Terrorismus als Taktik ab. Ihrer Ansicht nach konnte man den Zaren so nicht stürzen. War ein zaristischer Beamter umgebracht worden, wurde er durch einen anderen ersetzt, der vielleicht noch brutaler war. Aber in der Periode, die wir hier besprechen, handelte es sich bei dem Terrorismus um ein weitverbreitetes Phänomen.
Trotzki bezieht sich auch auf den russisch-japanischen Krieg, der im Februar 1904 ausgebrochen war. Die Ära der imperialistischen Kriege hatte spätestens mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) begonnen. Sie umfasste unter anderem den brutalen Überfall der USA auf die Philippinen und den Burenkrieg in Südafrika (1899-1902), wo Großbritannien als imperialistische Macht wütete.
Das Russische Reich wollte bei diesen imperialistischen Kriegen zur Plünderung und territorialen Expansion nicht abseits stehen. Dieses Bild zeigt, wie ein junger japanischer Student das Russische Reich in der damaligen Zeit sah: als gewaltigen Oktopus, dessen Tentakeln mehrere Länder umklammern. Polen ist oben links. Die Tentakel umklammern die Türkei, Persien und Tibet. Eine ist nach China ausgestreckt, das hier grün dargestellt ist. Ein Tentakel greift nach Korea, vielleicht sogar nach Japan.
Hier ist ein Bild dessen, was Zar Nikolai geplant hatte. Da sowohl Russland als auch Japan Ansprüche auf die Mandschurei, Korea und die weitere Aufteilung Chinas erhoben (bei der bereits Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die USA im Wettstreit miteinander lagen), wollte der Zar Japan im Krieg besiegen.
Der Zar ging von problemlosen Eroberungen aus. Dieses Bild zeigt Zar Nikolaus unten rechts; er bläst einen japanischen Soldaten weg; die japanische Marine ist zerstört; und „japanische Kinder“, die offensichtlich verprügelt wurden, werden von Onkel Sam und John Bull getröstet, die für den amerikanischen und britischen Imperialismus stehen. Letztere unterstützten damals in der Tat zeitweise Japan.
Russland hatte China 1895 gezwungen, Port Arthur an das Russische Reich zu verpachten, um eine Militärbasis zur Umsetzung dieser Pläne zu erhalten. Port Arthur wurde in eine Festung und einen Marinestützpunkt verwandelt, die man für uneinnehmbar hielt. Über eine Eisenbahnlinie war Port Arthur mit Harbin im Nordosten Chinas verbunden. Die transsibirische Eisenbahn war damals noch nicht fertiggestellt, und der Korridor über die Mandschurei war alles andere als gesichert.
Doch in den ersten Tagen des Krieges brachte die japanische Marine der russischen Flotte erhebliche Verluste bei. Nach einer über 300 Tage währenden Belagerung fiel Port Arthur an die Japaner, und ein Großteil der russisch-pazifischen Flotte wurde im Hafen zerstört – und das nicht in etwa einer Seeschlacht, sondern während sie in einer von Hügeln geschützten Bucht lag.
Der Verlust von Port Arthur war ein Schock und rief beträchtliche Unruhen in Russland hervor. Immer mehr Menschen sahen den Zaren und sein Militär als korrupt und inkompetent an. Agitation gegen den Krieg breitete sich in der Arbeiterklasse und sogar in einigen liberalen Kreisen aus.
Das nächste Ereignis, das zur Revolution von 1905 führte, erscheint auf den ersten Blick eher unbedeutend. Vier Arbeiter der Putilow-Werke, den Metallbetrieben am Stadtrand von St. Petersburg, wurden entlassen. Als die Verhandlungen über ihre Wiedereinstellung scheiterten, brach am 16. Januar 1905 (3. Januar, a. S.) ein Streik aus.
Wie der führende Menschewik Fjodor Dan später schrieb: „Niemand hätte erwarten können, dass dieser Streik, der sich selbst anfangs nur das bescheidene Ziel der Wiedereinstellung von vier Arbeitern setzte, die von der Fabrikleitung entlassen worden waren, innerhalb von nur etwa einer Woche die gesamte Hauptstadt erfassen und sich zu einer gigantischen politischen Bewegung des Petersburger Proletariats entwickeln würde.“[2]
Für den kommenden Sonntag, den 22. Januar (9. Januar, a.S.), wurde eine Massendemonstration geplant, bei der der Priester Gapon (abgebildet mit einem Kreuz in der Mitte des Bildes) einen Demonstrationsmarsch von 150.000 bis 200.000 Menschen leitete, unter ihnen viele Arbeiter, Studenten, Frauen und Kinder, die „Väterchen Zar“ um Hilfe baten.
Ihre Forderungen lauteten unter anderem: Achtstundentag; Versammlungsfreiheit für Arbeiter und Land für die Bauern; Meinungs- und Pressefreiheit; Trennung von Kirche und Staat; ein Ende des Krieges und Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, um die Grundlagen für eine neue, parlamentarische Republik zu legen.
Als der Demonstrationszug den Platz vor dem Winterpalast erreichte, wo der Zar residierte, wurde er jedoch nicht von Zar Nikolaus II., sondern von einer Salve von Gewehrschüssen der zaristischen Truppen und der Polizei empfangen. Der Demonstrationszug kam aus verschiedenen Treffpunkten in der Stadt, lief jedoch auf dem Palast-Platz zusammen. Die Menschenansammlung wurde von Kosaken angegriffen, die mit ihren Säbeln mehrere Opfer niederstachen. Viele Menschen wurden erschossen. Es gibt zwar keine genauen Zahlen, doch es wurden etwa 1000 Personen getötet und 2000 verwundet (vielleicht auch mehr). Viele Leichen wurden davon gezerrt. Die Polizei warf sie in Massengräber. Die genauen Opferzahlen wurden nie festgestellt. Der 22. Januar 1905 (9. Januar, a.S.) ging so als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein.
Das Massaker erschütterte ganz Russland. In vielen Industrieregionen traten Arbeiter in den Streik. Studenten besetzten viele Universitäten. Es gab eine Welle von riesigen Demonstrationen und Streiks in Georgien, Baku, Odessa, Iwanowo, Lodz (in Polen), Nischnij-Nowgorod, Sormowo und anderen Städten. Selbst in Militäreinheiten kam es zu Demonstrationen, die bis ins Frühjahr, den Sommer und den Herbst von 1905 andauerten, allerdings waren sie nicht sehr weit verbreitet.
Vertreter der bürgerlich-liberalen Intelligenzija verurteilten den Zaren als Schlächter. Auf diesem Bild ist eine ihrer Zeitungen, Oswoboschdenije (Befreiung), zu sehen, die von Struve herausgegeben wurde. Struve war früher ein „legaler Marxist“ gewesen, ging dann jedoch stark nach rechts und wurde ein bürgerlicher Liberaler. Die Schlagzeile ist „Revolution in Russland“; und der Leitartikel verurteilt unter dem Titel „Henker des Volkes“ den Zaren als Schlächter. Dann folgt ein Artikel von Jean Jaurès, „Der Tod des Zarismus“. Die Liberalen waren gegen den Absolutismus, doch mangelte es ihnen an politischer Kraft oder am Willen, den Zar zu stürzen.
In kommenden Monaten kam es zu einer Welle von Streiks, die mal zu- und dann wieder abnahmen. Von vielen Hunderten ist einer besonders erwähnenswert.
In Iwanowo, einer kleinen Stadt mit großen Textilfabriken rund 150 Meilen von Moskau entfernt, traten die Arbeiter in einen der längsten Streiks, der über 100 Tage dauerte. Im Laufe dieses Streiks, an dem sich zehntausende Arbeiter beteiligten, entwickelte sich eine neue Organisationsform: ein Sowjet bzw. Rat. Er wurde von Arbeitern gewählt, um den Streik zu führen und alle Forderungen vorzutragen. Die meisten waren wirtschaftlicher Art, aber es gab auch Rufe nach dem Sturz des Zaren, der Einberufung einer Konstituierenden Versammlung und andere politische Forderungen. Die Arbeiter in Iwanowo konnten später die Ehre für sich beanspruchen, den ersten Sowjet Russlands gebildet zu haben, den ersten Arbeiterrat. Dies ist zwar formal gesehen richtig, doch die Bedeutung dieses Sowjets wurde weit von derjenigen des Petersburger Sowjets überschattet, der schließlich im Oktober 1905 gegründet wurde.
Auch in anderen Teilen des Reiches kam es zu Massendemonstrationen, so in Lettland im Mai 1905.
Noch während des Streiks in Iwanowo trafen weitere schlechte Nachrichten von der Front ein. Der Zar glaubte immer noch, dass seine Marine die japanische Flotte schlagen könne. Doch da der Großteil der russischen Pazifikflotte vernichtet worden war, wurde im Oktober 1904 die baltische Flotte angewiesen, nach Port Arthur zu fahren. Sie war vom Oktober 1904 bis Mai 1905 unterwegs und legte dabei eine Strecke von 33.000 Kilometern zurück. Unterwegs erreichte sie die Nachricht von der katastrophalen Schlacht bei Mukden (Februar-März 1905), bei der die russische Armee 90.000 Soldaten verlor. Trotz der niedrigen Moral an Bord segelten die Schiffe weiter. Admiral Roschdestwenski sah sich gezwungen, mehrere Matrosen zu erhängen, die mit einer Meuterei die Umkehr erzwingen wollten. Sie wussten, dass sie zur Niederlage verurteilt waren, wenn sie weitersegeln würden, doch der Admiral befahl ihnen, dennoch weiterzumachen. Mehrere Meuterer wurden hingerichtet.
Da ihr eigentliches Ziel, Port Arthur, mittlerweile gefallen war, mussten die Schiffe auf Wladiwostok im Norden Kurs nehmen. Als sie die Meerengen von Tsuschima erreichten, einer Insel in der Nähe Japans, stießen sie auf die japanische Marine, die die Flotte vernichtete. Die Russen verloren acht Kampfschiffe, viele kleinere Boote und über 5000 Matrosen. Von der gesamten Flotte blieben am Ende nur drei große Schiffe übrig. So wurde die russische Flotte binnen weniger Stunden am 27. und 28. Mai 1905 im Wesentlichen ausgelöscht. Demgegenüber verloren die Japaner nur drei Torpedo-Boote und 116 Mann. Das war ein enormer Schock für große Teile der russischen Bevölkerung. Wie hatte es zu einer solchen Katastrophe kommen können?
Trotzki verfasste anlässlich der Katastrophe von Tsuschima ein Flugblatt, das in St. Petersburg verteilt wurde. Hier einige Ausschnitte daraus:
„Schluss mit der schändlichen Schlächterei!
Nach der Schlacht bei der Insel Tsuschima existiert die russische Flotte nicht mehr. Die russischen Kampfschiffe sind schmählich zu Grunde gegangen, und haben Tausende unserer Brüder, die den Verbrechen des Zarismus zum Opfer gefallen sind, mit sich auf den Grund des pazifischen Ozeans gerissen ... Die so teuer erkaufte russische Flotte ist nicht mehr. Jeder ihrer Masten, jeder Bolzen war das Blut und der Schweiß des arbeitenden Volkes. Jedes Kampfschiff ist das Ergebnis vieler Jahre Arbeit von Bauernfamilien. All dies ist nun weg, alles ist versunken in den Tiefen des Meeres: die unglücklichen Männer und der nutzlose Reichtum, den sie mit ihren Händen geschaffen haben ...
Schluss mit der abscheulichen Schlächterei! Auf dass dieser Ruf, erhoben von politisch bewussten Arbeitern am allerersten Tage des Krieges, standhafte Unterstützung findet unter allen Arbeitern, unter allen ehrlichen Bürgern.
Nieder mit dem Schuldigen dieser schändlichen Schlächterei – der zaristischen Regierung!
Nieder mit den blutigen Schlächtern!
Wir fordern Frieden und Freiheit!“ [3]
Das nächste Ereignis, das große Wellen schlug, war im Juni 1905 die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin in Odessa, die Sergej Eisenstein in seinem Film von 1925 verewigte. Während des gesamten Jahres 1905 blieb die Armee und Marine dem Zaren gegenüber loyal. Dass es nun auf einem der besten Schiffe der Flotte im Schwarzen Meer zur Meuterei kam, provozierte in zaristischen Kreisen sicher Ängste, dass andere Teile des Militärs diesem Beispiel folgen könnten. Die meisten Matrosen auf der Potemkin überlebten jedoch, als das Schiff an einer anderen Flotte, die es eigentlich hätte aufhalten sollen, vorbeisegelte. Sie gelangten zum rumänischen Hafen Constanța. Auf diesem Bild hier sind einige Führer der Meuterei an Bord der Potemkin zu sehen, die nicht vom Zaren gefasst und gehängt wurden.
Nun greife ich etwas voraus und gehe zum nächsten großen Ereignis des revolutionären Jahres über: dem Generalstreik im Oktober. Dieser Streik brach bis zu einem bestimmten Maße spontan aus. Die Parteiführer in der Arbeiterbewegung hatten einen großen Streik für Januar 1906 zum Jahrestag des Blutsonntags geplant. Doch ein einfacher Streik in einer Druckerei in Moskau setzte die Ereignisse viel früher in Bewegung. Trotzki beschrieb diese Ereignisse in seinem Buch zu 1905 folgendermaßen:
„Am 2. Oktober streikten die Setzer in der Druckerei von Syytin in Moskau. Sie verlangten eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine Erhöhung des Arbeitslohnes für je 1000 Buchstaben, die Interpunktionszeichen nicht ausgenommen; dieses geringfügige Ereignis eröffnete nicht mehr und nicht weniger als den allrussischen politischen Streik, denselben Streik, der, wegen Interpunktionszeichen entstanden, den Absolutismus zur Strecke brachte.“ (Die Russische Revolution 1905, S. 72)
* Zum Abend des Streiks des 7. Oktober streikte man bereits in 50 Druckereien. ...Es streikten die Moskauer Bäckerarbeiter ...
* Am 15. Oktober fassten die Petersburger Setzer den Beschluss, ihre Solidarität mit den Moskauer Kollegen durch einen dreitägigen Demonstrationsstreik zum Ausdruck zu bringen.
* Eine Versammlung von Arbeiterdelegierten von Drucker-, Ingenieurs-, Kunstschreinerei-, Tabakbetrieben und einigen anderen Betrieben, entscheiden, einen allgemeinen Rat (Sowjet) der Moskauer Arbeiter zu bilden.
* Am 20. treten die Moskauer Eisenbahnarbeiter in den Streik ...
* Am 22. Oktober schließen sich die Petersburger Eisenbahnarbeiter ihnen an: sie fordern den Achtstundentag, bürgerliche Freiheiten, eine Amnestie für alle politischen Gefangenen und eine verfassungsgebende Versammlung
* Revolutionäre Klassenforderungen wurden aufgestellt und nahmen den Vorrang gegenüber wirtschaftlichen Ansprüchen bestimmter Handelszweige ein. Nun da der Streik seine lokalen und Handelsschranken überwunden hatte, fühlte er sich zunehmend wie eine Revolution an und nahm so eine nie dagewesene Kühnheit an
* Die gesamte Armee der Eisenbahnarbeiter – drei Viertel der 1 Mio. Arbeiter – waren im Streik
* Am 26. Oktober wird der Petersburg Sowjet von Arbeiterdeputierten gebildet (Die Russische Revolution 1905, S. 72 ff.)
Das Ausmaß des Streiks war atemberaubend. Praktisch jede große Stadt war lahmgelegt; die Eisenbahnen waren zum Erliegen gebracht; die Telegraphen- und Postämter befanden sich in den Händen der Arbeiter.
In anderen Teilen des Reiches fanden riesige Demonstrationen statt: Im Oktober in Warschau (Polen) und in Taschkent in Zentralasien (dem heutigen Usbekistan). Auch in Finnland gab es eine Massendemonstration. Alle drei Regionen widersetzten sich der Russifizierungspolitik des Zaren, die ich vorhin erwähnt hatte. Doch der Zar blieb wie immer den offiziellen Hauptstützen der Politik des Zarismus verpflichtet: „Autokratie, Nationalismus (d. h. großrussischer Chauvinismus), und Orthodoxie (die Russisch-Orthodoxe Kirche)“ – und wenn es nun mithilfe des Bajonetts sein musste.
Mit dem Generalstreik hatte die Arbeiterklasse ihre enorme Kraft unter Beweis gestellt. Aber wie konnte ein Streik zu einer Revolution führen? Wer konnte einen landesweiten Aufstand organisieren und leiten? Hier ist die Gründung des Petersburger Sowjets entscheidend: Er verkörperte in Keimform eine künftige Arbeiterregierung.
Trotzki weist darauf hin, dass man einen Generalstreik nicht auf unbegrenzte Dauer führen kann. Wenn die Eisenbahnen lahmliegen, bewegt sich nichts. Wenn die Telegraphenämter geschlossen sind, gibt es keine Kommunikation. Bleiben die Bäckereien geschlossen, wird kein Brot gebacken. Wie lange können die Menschen aushalten? Ohne Brot, ohne Kommunikation, ohne sich von der einen Stadt in die andere zu bewegen?
Trotzki beschrieb in seinem Buch 1905, wie der Sowjet aussah:
„Die Geschichte des Petersburger Delegiertenrates [Sowjets] – das ist die Geschichte von 50 Tagen. Am 26. Oktober fand die konstituierende Versammlung des Rates statt – und am 16. Dezember wurde die Sitzung des Rates durch Regierungstruppen gesprengt. An der ersten Sitzung nahmen nur einige Dutzend Personen teil. Gegen Ende November stieg die Mitgliederzahl der Delegierten auf 562, darunter 6 Frauen.“ (Die Russische Revolution 1905, S. 191)
Was die Delegierten betrifft – und das ist wichtig –, so gab es einen Aufruf an alle Fabriken, einen Delegierten für je 500 Arbeiter zu wählen. Diese Regel wurde nun zwar nicht ganz streng befolgt, aber in einer großen Fabrik von, sagen wir, 20.000 Arbeitern gab es einen Vertreter für je 500 Arbeiter. Wenn man in einer Fabrik arbeitete, die nur 200 oder 300 Arbeiter hatte, die Marke von 500 also nicht überschritten wurde, war das in Ordnung, man konnte man trotzdem einen Delegierten schicken. Trotzki fährt fort:
„Sie [die Delegierten] vertraten insgesamt 147 Fabriken und Industrieetablissements, 34 Werkstätten und 16 Gewerkschaften. Das Hauptkontingent der Delegierten – 351 Personen – stellten die Metallarbeiter; sie spielten im Rat eine ausschlaggebende Rolle. Die Textilarbeiter hatten 57 Delegierte entsandt, die Druckerei – und Papierarbeiter 32, die Handelsangestellten 12, die Bureauangestellten und die Pharmazeuten 7. Als Ministerium des Rates fungierte das Exekutivkomitee; es wurde am 30. Oktober im Bestande von 31 Mitgliedern gewählt, 22 davon waren Delegierte, die übrigen 9 gewählte Parteivertreter – 6 von den Sozialdemokraten, 3 von den Sozialrevolutionären ...
Der Rat organisierte die Arbeitermassen, leitete ihre politischen Streiks und Demonstrationen, bewaffnete die Arbeiter, schützte die Bevölkerung vor Pogromen.“ (Die Russische Revolution 1905, S. 191)
Der Zar begann gleichzeitig damit, seine reaktionären Kräfte zu mobilisieren, und ermutigte Pogromisten, Arbeiter anzugreifen.
„Wenn einerseits die Arbeiter selbst und andererseits die reaktionäre Presse den Rat die ‚proletarische Regierung‘ nannten, so entsprach dies der Tatsache, dass der Rat in Wirklichkeit eine revolutionäre Regierung darstellte. Der Rat realisierte die Gewalt, soweit ihm durch die revolutionäre Macht der Arbeiter die Möglichkeit dazu gegeben wurde; er kämpfte unmittelbar um die Gewalt, soweit sie sich noch in den Händen der militärisch-polizeilichen Monarchie befand.“ (Ebd.)
In diesem Machtkampf konnte es so nicht weitergehen. Die zaristischen Kräfte konnten den Sowjet unmöglich tolerieren. Am 30. Oktober (17. Oktober, a. S.) veröffentlichte der Zar sein berühmtes (oder besser gesagt berüchtigtes) Manifest, das – jedenfalls in den Augen der Adligen – einer schockierenden Kapitulation vor dem Generalstreik gleichkam. Doch es war auch in gewissem Sinne trügerisch.
Nur zwei Tage vor dem Manifest hatte der stellvertretende Innenminister des Zaren, Trepow, der dafür zuständig war, die Massen zu unterdrücken, empfohlen, die Streikenden niederzuschießen. Er sagte, man könne keine Zugeständnisse machen, sondern die Streikenden einfach niederschießen. Am nächsten Tagen, überdachte er die Frage noch einmal. Doch am 28. Oktober (15. Oktober, a. S.) veröffentlichte er eine berüchtigte Erklärung, die allen unvergesslich bleiben sollte: „Keine Platzpatronen. Scheut keine Kugeln!“
Es war üblich, dass die Polizei, die Armee oder die Kosaken bei Konfrontationen mit Streikenden oder Massendemonstrationen diese gelegentlich mit Peitschen angriffen. Manchmal griffen sie auch mit Säbeln an und stachen einige nieder. Danach feuerten sie für gewöhnlich eine Runde Platzpatronen ab, um die Menge zu erschrecken. Wenn diese sich nicht bewegte, luden sie auch scharfe Munition und eröffneten das Feuer. Trepows Empfehlung war nun: Vergesst die Platzpatronen und nehmt gleich scharfe Munition.
Während der Zar sein Manifest drucken ließ, gab der Petersburger Sowjet seine eigene Zeitung, die Iswestija (Nachrichten), heraus. Einige Worte darüber, wie sie gedruckt wurde. Es war illegal, also was taten sie? Sie hatten keine eigene Druckerei, da dieses sofort von der zaristischen Polizei übernommen worden wäre. Also organisierte der Sowjet eine Gruppe bewaffneter Arbeiter, die in eine Druckerei eindrangen, die drei oder vier Zeitungen –bürgerliche oder zaristische –druckte. Bewaffnete Arbeiter übernahmen den Betrieb, sagen wir gegen 10 Uhr abends: „In den nächsten paar Stunden gehörte die Druckerpresse uns. Ihr werdet unsere Zeitung drucken“. Viele der Schriftsetzer standen ihnen wohl mit Sympathie gegenüber, sagten jedoch: „Richtet wenigstens eure Waffen auf uns und sagt, dass wir hierzu gezwungen wurden.“ Anschließend wurde die Iswestija produziert, und einige Tage später kaperten sie die nächste Druckerei.
Auch der Zar hatte Probleme beim Drucken. Alle Druckereien waren im Streik, und streikende Setzer weigerten sich, das Manifest des großen Zaren und Herrschers zu veröffentlichen. Doch am Ende wurde es gedruckt. Man wandte sich an die Armee, um das Dokument rasch zu drucken. Hier das Manifest:
Der Zar versprach begrenzte Reformen, die vielleicht zu gewissen Wahlrechten und einer Duma führen würden, einem legislativen Organ mit extrem beschränkten Befugnissen. Die Reaktionen auf das Manifest waren gemischt. Einige Arbeiter verurteilten es bald und druckten ein Poster des Manifests mit den blutigen Händen von Trepow. Studenten an der Petersburger Universität traten am nächsten Tag in den Streik.
Doch die liberale Bourgeoisie jubelte. Sie dachte, dass ein bürgerlich-demokratisches Parlament nun zum Greifen nahe sei.
Ganz anders reagierte der Petersburger Sowjet:
„Die Konstitution ist also gewährt. Versammlungsfreiheit ist gewährt, aber die Versammlungen werden von Militär umstellt. Freiheit des Wortes ist gewährt, aber die Zensur besteht nach wie vor. Freiheit der Wissenschaft ist gewährt, die Universitäten sind aber mit Truppen besetzt. Unantastbarkeit der Person ist gewährt, die Gefängnisse sind jedoch mit Eingekerkerten überfüllt. Witte ist uns gegeben, aber Trepow ist uns geblieben. Die Konstitution ist gegeben, die Selbstherrschaft geblieben. Alles ist gegeben – und nichts ist gegeben.“ (Die Russische Revolution 1905, S. 101)
So konnte es nicht weitergehen. Das zaristische Regime sammelte seine Kräfte für eine massive Niederschlagung der revolutionären Bewegung.
Etwa einen Tag nach der Veröffentlichung des Manifests des Zaren begannen Pogrome, der schlimmste in Odessa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer. Drei Tage lang, vom 31. Oktober bis zum 2. November (18.- 20. Oktober, a. S.), wüteten Banden der Schwarzen Hundertschaft in den jüdischen Vierteln, mordeten, schlugen und folterten Menschen und raubten Häuser und Geschäfte aus. Vierhundert Menschen wurden umgebracht, und 50.000 mussten aus ihren Häusern fliehen. Arbeiter organisierten jüdische Selbstverteidigungseinheiten, die das Morden zwar begrenzen, aber nicht beenden konnten. Dieses Bild zeigt eine dieser Selbstverteidigungseinheiten mit einigen ihrer ermordeten Genossen, die getötet worden waren, während sie ihre Wohnviertel verteidigt hatten.
Die Ereignisse gerieten außer Kontrolle. Der Moskauer Streik endete am 19. Oktober. Der Petersburger Sowjet beschloss, den Streik am 3. November (21. Oktober, a. S.) zu beenden.
Dennoch setzte der Petersburger Sowjet seine Arbeit fort. Zusätzlich zu der weit verbreiteten Zeitung Iswestija kam ab dem 26. November (13. November, a. S.) eine neue Zeitung heraus: Natschalo (Der Anfang). Auf dem Titelblatt hieß es stolz, dass es sich um eine Zeitung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei handle. Leo Trotzki war einer der Hauptautoren und de facto auch ihr Redakteur. Er war am 27. Oktober (14. Oktober, a. S.), dem zweiten Tag im Leben des Sowjets, aus Finnland nach Petersburg zurückgekehrt. Andere Autoren waren Parvus, Martow, Dan und andere, vorwiegend menschewistische Schreiber. Nur 14 Ausgaben wurden gedruckt, da Natschalo nach der Verhaftung des Sowjets am 16. Dezember (3. Dezember, a. S.) eingestellt wurde.
Trotzki war im Februar aus dem Ausland nach Kiew zurückgekehrt, als die revolutionären Ereignisse ihren Lauf nahmen. Anschließend ging er nach Petersburg. Am 1. Mai gab es in Petersburg eine Demonstration, bei der seine Frau, Natalja, verhaftet wurde. Trotzki musste fliehen. Er suchte Unterschlupf in einem entlegenen Dorf in Finnland. Während seines dortigen Aufenthalts arbeitete er viele Grundelemente seiner Theorie der permanenten Revolution aus. Der Petersburger Sowjet wurde am 26. Oktober (13. Oktober a. S.) gegründet. Am nächsten Tag war Trotzki zur Stelle.
Der Sowjet traf eine Entscheidung von enormer Bedeutung: Er rief alle Fabriken und Betriebe dazu auf, den Achtstundentag eigenständig einzuführen. Niemand hatte ihnen das Recht dazu gegeben. Nach acht Stunden legten die Arbeiter einfach ihre Werkzeuge nieder und verließen die Fabrik. Die Arbeitgeber, die Bosse, die kapitalistischen Fabrikbesitzer drohten mit Massenaussperrungen. Die Arbeiter mussten zumindest vorübergehend den Rückzug antreten. Trotzki schreibt dazu: „Als die Arbeitermassen auf den organisierten Widerstand des Kapitals stießen, hinter dessen Rücken schützend die Staatsgewalt stand, kehrten sie wieder zu der Frage der revolutionären Umwälzung, zu der Frage des Aufstandes und der Bewaffnung zurück.“ (Die Russische Revolution 1905, S. 145f) Was tun wir jetzt? Diese Frage musste beantwortet werden.
Die letzte Entwicklungsstufe von 1905, die ich hier besprechen möchte, ist der bewaffnete Dezember-Aufstand in Moskau.
Am 17. Dezember (4. Dezember, a. S.) verabschiedete der Moskauer Sowjet ein „Finanzmanifest“, das von Parvus verfasst worden war und das zaristische Steuer- und Bankensystem in Frage stellte. Am 19. Dezember (6. Dezember, a. S.) entschied der Sowjet, der inzwischen 100,000 Moskauer Arbeiter vertrat, unter dem direkten Einfluss von umfassenden Unruhen in der Moskauer Garrison, gemeinsam mit den revolutionären Parteien für den nächsten Tag, den 20. Dezember (7. Dezember, a. S.), einen politischen Generalstreik in Moskau auszurufen, und sein Bestes zu tun, um diesen Streik in einen bewaffneten Aufstand zu verwandeln. Die Moskauer Iswestija verlauteten in einer Erklärung:
„Der Moskauer Arbeiterdelegiertenrat, das Komitee und die Gruppe der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, und das Komitee der Partei der Sozialrevolutionäre HABEN BESCHLOSSEN: in Moskau, am 7. Dezember ab 12 Uhr Mittag, einen politischen Generalstreik auszurufen und zu versuchen, ihn in einen bewaffneten Aufstand zu verwandeln.“
Am 20. Dezember (7. Dezember a. S.) trat Moskau als erste Stadt in den Streik. Am nächsten Tag schlossen sich Petersburg, Minsk und Taganrog an; am 23. kamen Tiflis, am 24. Vilnius; am 25. Charkow, Kiew und Nischni Nowgorod; am 26. Odessa und Riga; am 27. Lodz und am 28. Warschau hinzu, um nur die wichtigsten Zentren zu nennen. Insgesamt beteiligten sich 33 Städte an dem Streik. Im Oktober waren es 39 gewesen.
Doch Moskau stand im Zentrum der Dezember-Bewegung. Rund 100.000 Männer legten am ersten Tag die Arbeit nieder. Am zweiten Tag stieg die Anzahl der Streikenden auf 150,000. Der Streik nahm in Moskau den Charakter eines Generalstreiks an und breitete sich auf Fabriken in der ländlichen Umgebung aus. Überall wurden riesige Versammlungen abgehalten. Bald wurden Barrikaden errichtet, und es folgten gewaltsame Auseinandersetzungen. Der Aufstand hatte begonnen.
Die Barrikaden, die hier abgebildet sind, dienten weniger als Deckung für bewaffnete Arbeiter, als vielmehr dazu, die zaristischen Truppen daran zu hindern, die Stadt zu durchkämmen. Einige, aber nur ganz wenige Barrikaden waren mit Aufständischen und Arbeitern bemannt.
Wie sahen diese Kämpfe aus? Auf Seiten der Arbeiter erinnerten sie eher an Guerilla-Kriegsführung, als an einen Austausch von Gewehrfeuer hinter Barrikaden. Trotzki beschrieb, wie viele dieser Kämpfe abliefen:
„Noch eins aus einer großen Zahl der Beispiele. Eine Kampfgruppe aus 13 Personen, die sich in einem Hause festsetzte, widerstand 4 Stunden lang der Beschießung durch 500 bis 600 Soldaten, die über 3 Geschütze und 2 Maschinengewehre verfügten. Nachdem sie alle Patronen verschossen und den Truppen große Verluste beigebracht hatten, entfernten sich die Druschinniki, ohne dass ein einziger von ihnen verwundet worden wäre. Die Soldaten aber zerstörten durch das Geschützfeuer die halbe Straße, steckten einige hölzerne Häuser in Brand, brachten nicht wenig vor Schrecken wahnsinnig gewordene Einwohner um – und das alles, um ein Dutzend Revolutionäre zum Rückzug zu zwingen.“ (Die Russische Revolution 1905, S. 184)
So kämpften die Arbeiter im Wesentlichen. Sie wurden angewiesen, aus zwei, drei, vielleicht vier Mann kleine Gruppen zu bilden und aus den Hinterhöfen und oben von den Gebäuden zu schießen, sich schnell zu bewegen, nicht lange an einer Stelle zu bleiben.
Dubassow, der mit der Niederschlagung des Aufstands beauftragt worden war, berichtete nach Petersburg, dass nur 5000 der 15.000 Mann aus der Moskauer Garnison einsatzbereit waren. Der Rest sei unzuverlässig. Er rief den Zaren direkt an und erklärte, dass er nicht garantieren könne, dass „die Autokratie unversehrt“ bleiben würde, es sei denn, der Zar würde mehr Soldaten schicken. Sofort wurde der Befehl erteilt, die Elite-Garden des Semjonow-Regiments nach Moskau zu entsenden. Tatsächlich wurden diese beinahe aufgehalten. Die Eisenbahnarbeiter versuchten, in einigen Gebieten die Gleise aufzureißen, doch die Armee hinderte sie daran und die Truppen kamen durch.
Am 29. Dezember (16. Dezember, a. S.) beschlossen der Sowjet und die Partei, den Streik am 31. Dezember (19. Dezember, a. S.) zu beenden.
Etwa 1000 Menschen kamen beim Moskauer Aufstand ums Leben, und ungefähr ebenso viele wurden verwundet. Mehrere hundert Soldaten wurden getötet.
Bei einer Auseinandersetzung im Presnja-Viertel waren die Arbeiter von 6 Uhr früh bis 4 Uhr nachmittags einem Dauerbeschuss durch Artillerie ausgesetzt. Dabei feuerten die zaristischen Truppen sieben Granaten pro Minute ab. Man kann sich vorstellen, welchen Schaden dies in einem städtischen Raum anrichtete, in dem sich zahlreiche Zivilisten und, ja, auch einige bewaffnete Arbeiter befanden. Der Artillerie-Beschuss verwandelte das Gebiet und einige der dortigen Fabriken in Schutt und Asche.
Der Moskauer Aufstand war zwar der größte, doch auch in anderen Regionen kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen. In vielen weiteren Städten, darunter Odessa, Noworossijsk, und Kostroma, entstanden Arbeiterräte.
Dieses Bild zeigt das riesige Ausmaß der Revolution von 1905. Alle schwarzen Punkte markieren Städte, in denen es entweder zu Aufständen oder Generalstreiks kam. Die Eisenbahnen waren größtenteils ebenfalls betroffen.
Es folgte eine Periode von massenhaften Repressionen, den blutigen Repressionen des Zaren von 1905 bis 1907. Der Zar schickte Strafexpeditionen ins Reich, insbesondere entlang der Eisenbahnstrecken, wo die Eisenbahnarbeiter eine große Rolle gespielt hatten. Die Truppen gingen in Eisenbahnstationen und schossen auf alle, die sich gerade in der Nähe befanden – auf Frauen, Kinder, Eisenbahnarbeiter, es wurden einfach alle niedergeschossen, die gerade da waren. Einige wurden zur Abschreckung entlang der Strecke aufgehängt.
Trotzki schrieb über die Vergeltungsmaßnahmen:
„In den Ostseeprovinzen [dem Baltikum], wo der Aufstand zwei Wochen vor dem Moskauer aufflammte, teilten sich die Strafexpeditionen in kleinere Detachements zur Ausführung der blutigen Aufträge der schurkischen Baronenkaste, die von jeher die rohesten Vertreter der russischen Bureaukratie geliefert hat. Die Letten, Arbeiter wie Bauern, wurden füsiliert, gehängt, mit Ruten zu Tode gepeitscht, mit Stöcken erschlagen; man ließ sie Spießruten laufen zu und vollzog Hinrichtungen unter den Klängen der Zarenhymne. Im Laufe von zwei Monaten wurden in den Ostseeprovinzen – nach sehr unvollkommenen Schätzungen – 749 Personen hingerichtet, über 100 Höfe bis auf den Grund niedergebrannt, zahlreiche Menschen mit Knutenhieben zu Tode gemartert. ... Vom 22. Januar 1905 bis zur Einberufung der ersten Reichsduma (am 10. Mai 1906) wurden – nach ungefähren, jedenfalls aber nicht übertriebenen Schätzungen – von der zaristischen Regierung über 14.000 Personen getötet, über 1000 hingerichtet, etwa 20.000 Personen verwundet (viele darunter starben an ihren Verletzungen), etwa 70.000 verhaftet, verbannt, im Gefängnis interniert.“ (Die Russische Revolution 1905, S. 190)
Nicht alle wurden hingerichtet. Hier sind die führenden Mitglieder des Petersburger Sowjets; Trotzki ist in der Mitte in der zweiten Reihe. Sie wurden verhaftet und 1906 vor Gericht gestellt. Sie wurden „nur“ zum Exil in entlegenen Teilen Sibiriens verurteilt. Doch sie wurden damals nicht gehängt.
Das zaristische Regime war zwar erschüttert worden, sammelte jedoch seine Kräfte wieder, um sich weiter zu konsolidieren. Die Adligen meinten, dass der Aufstand niedergeschlagen sei und es nun wirklich an der Zeit wäre, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
In der Periode sowohl vor als auch nach der Revolution von 1905 gab es in der sozialdemokratischen Bewegung weitreichende Debatten über die Revolution. Plechanow, Lenin und Trotzki entwickelten drei verschiedene, wichtige Konzeptionen über die Entwicklung der Revolution.
Plechanow war für eine bürgerliche Revolution eingetreten, in der die Hegemonie (d. h. die führende Rolle) dem Proletariat in einem Bündnis mit der liberalen Bourgeoisie zukam. Das Ziel werde in der Errichtung einer parlamentarischen Demokratie bestehen, mit allgemeinem, direktem, gleichem und geheimem Wahlrecht. Die sozialistische Revolution in Westeuropa werde der Revolution in Russland vorangehen. Im Dezember 1905 reagierte Plechanow auf die jüngsten Entwicklungen, insbesondere auf den bewaffneten Aufstand in Moskau mit den Worten: „Die Arbeiter hätten nicht zu den Waffen greifen sollen.“ Mit dieser Aussage verlor er in den Augen vieler Arbeiter und Sozialdemokraten stark an Glaubwürdigkeit.
Lenin vertrat eine andere Position. Er erklärte, die bürgerliche Revolution müsse durchaus vollendet werden. Er rief zu einer „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ auf und sagte, dass es kein Bündnis mit den bürgerlichen Liberalen geben dürfe. Er forderte eine radikale Lösung der Agrarfrage und ein Bündnis besonders mit den ärmsten Bauernschichten. Er meinte, dass die sozialistische Revolution in Westeuropa der Revolution in Russland helfen werde. Die Revolutionäre in Westeuropa würden zeigen, wie man es macht.
Trotzki rief zu einer Diktatur des Proletariats mit Unterstützung der Bauernschaft auf. Er stimmte mit Lenin darin überein, dass es kein Bündnis mit den bürgerlichen Liberalen geben dürfe und die Revolution nicht im bürgerlichen Rahmen bleiben könne. Stattdessen werde es eine ununterbrochene bzw. permanente Revolution geben, die ein sozialistisches Programm verfolgen werde. Die sozialistische Revolution in Russland werde der sozialistischen Revolution in Westeuropa den Anstoß geben. Das war nicht die allgemein akzeptierte Einschätzung.
Trotzki erklärte seine Ansichten zur permanenten Revolution später im Januar 1922:
„Gerade in der Zeitspanne zwischen dem 22. Januar und dem Oktoberstreik 1905 haben sich beim Verfasser die Ansichten über den Charakter der revolutionären Entwicklung Russlands gebildet, die die Bezeichnung der Theorie der ‚permanenten Revolution’ erhielten. Diese gelehrte Bezeichnung drückte den Gedanken aus, dass die russische Revolution, vor der unmittelbar bürgerliche Ziele stehen, in keinem Falle bei ihnen stehen bleiben kann. Die Revolution kann ihre nächsten, bürgerlichen Aufgaben nicht anders lösen, als durch die Besitzergreifung der Macht durch das Proletariat. Hat es aber die Macht in seine Hand genommen, so kann es sich nicht auf den bürgerlichen Rahmen der Revolution beschränken. Im Gegenteil, gerade zur Sicherung ihres Sieges muss die proletarische Avantgarde schon in der ersten Zeit ihrer Herrschaft die tiefsten Eingriffe nicht nur in das feudale, sondern auch in das bürgerliche Eigentum machen. Hierbei wird das Proletariat zusammenstoßen nicht nur mit allen Gruppierungen der Bourgeoisie, die es am Anfang seines revolutionären Kampfes unterstützt hatte, sondern auch mit den breiten Massen des Bauerntums, mit dessen Hilfe es zur Macht gekommen war.“
Wie können diese Widersprüche gelöst werden?
„Die Widersprüche in der Stellung der Arbeiterregierung in einem rückständigen Lande mit einer erdrückenden Mehrheit bäuerlicher Bevölkerung können nur im internationalen Maßstabe gelöst werden, in der Arena der proletarischen Weltrevolution.“ (Die Russische Revolution 1905, S. 6)
Diese Widersprüche konnten also nicht allein in den Grenzen Russlands gelöst werden.
Rosa Luxemburg, die sich kurz an der Revolution von 1905 beteiligt hatte, bevor sie in Warschau verhaftet wurde, verfasste 1906 eine wichtige Arbeit, in der sie die Ereignisse in Russland analysierte und eine Debatte über die Rolle des Massenstreiks in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) forderte. Die Gewerkschaftsführer widersetzten sich dem, und jede weitere Diskussion über die Frage wurde untersagt. Beim Londoner Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahr 1907 unterstützte Luxemburg Trotzkis Analyse von 1905.
Die Ereignisse von 1905 hatten ein gigantisches Ausmaß. Viele beschrieben diese Revolution als Teil-Sieg oder Teil-Niederlage. Der Zarismus blieb zwar an der Macht, war jedoch tödlich verwundet. Die Arbeiterklasse war als stärkste revolutionäre Kraft aufgetreten, die das frühe 20. Jahrhundert bislang gesehen hatte. Neue Parteien, neue Programme und neue Formen der Organisation waren entstanden. Die russische Sozialdemokratie bewies in der Praxis, dass sie die Arbeiterklasse organisieren und führen konnte. Der Massenstreik und seine Beziehung zum bewaffneten Aufstand und zur Machtergreifung mussten nun studiert und die Lehren daraus gezogen werden.
International gesehen hatten die Ereignisse besonders großen Einfluss auf revolutionäre Bewegungen in drei Ländern: China, der Türkei und Persien (dem heutigen Iran). In Amerika wurden die IWW (Industrial Workers of the World) 1905 gegründet; in Frankreich nahm der Syndikalismus einen gewaltigen Aufschwung.
Die Lehren, die die Arbeiterklasse in Russland aus dem Jahr 1905 zog, waren ein wesentlicher Bestandteil der Vorbereitung auf den Oktober 1917.
Trotzki fasste 25 Jahre später die Ereignisse von 1905 in seiner Autobiographie zusammen:
„Der halbe Sieg des Oktoberstreiks hatte für mich neben der politischen eine immens theoretische Bedeutung. Nicht die oppositionelle Bewegung der liberalen Bourgeoisie, nicht der elementare Aufstand der Bauern, nicht terroristische Akte der Intellektuellen, sondern der Arbeiterstreik hatte den Zarismus zum ersten Mal auf die Knie gezwungen. Die revolutionäre Hegemonie des Proletariats war zur unbestreitbaren Tatsache geworden. Ich erkannte; die Theorie der permanenten Revolution hatte die erste große Prüfung bestanden. Die Revolution hatte dem Proletariat deutlich die Perspektive der Machteroberung eröffnet. Von dieser Position konnten mich die bald heranbrechenden Jahre der Reaktion nicht verdrängen. Aber daraus zog ich auch Schlüsse für den Westen. Wenn dies die Macht des jungen Proletariats in Russland ist, wie mag dann seine revolutionäre Macht in den vorgeschrittenen Ländern aussehen?“ (Mein Leben, S. 161)
Zitate
Zitate aus Trotzkis „1905“ aus: Leo Trotzki: Die Russische Revolution 1905, Berlin: Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten 1922.
Zitate aus Trotzkis Autobiographie aus: Leo Trotzki: Mein Leben, übersetzt von Alexandra Ramm, Frankfurt a. M: S. Fischer Verlag 1981.
[1] Karl Kautsky, “The Slavs and Revolution,” in: Witnesses to Permanent Revolution, ed. by Richard B. Day and Daniel Gaido, Brill, 2009, S. 64. Deutsche Übersetzung zitiert aus Lenin, Werke, Bd. 31, Berlin: Dietz Verlag 1966, S. 7.
[2] Theodore Dan, The Origins of Bolshevism, edited and translated by Joel Carmichael, Schocken Books, 1970, S. 299-300. Hier aus dem Englischen übersetzt.
[3] “An Anti-War Leaflet,” in: The Russian Revolution of 1905: Change Through Struggle, Revolutionary History, Volume 9, No. 1, S. 85-87. Hier aus dem Englischen übersetzt.