Massive Angriffe auf Grundrechte während des G20-Gipfels

Während des G20-Gipfels in Hamburg ist es am vergangenen Wochenende zu massiven Angriffen auf demokratische Grundrechte gekommen. Mit dem faktischen Belagerungszustand der Stadt durch die Polizei ging auch ein drastischer Eingriff in die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit einher, der in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland ohne Beispiel ist.

Bereits Tage vor Beginn des Gipfels setzte die Polizei mit einer so genannten Allgemeinverfügung die Versammlungsfreiheit in einer 38 Quadratkilometer großen Sicherheitszone faktisch außer Kraft. In dieser Zone, die zur An- und Abreise der Staatsgäste freigehalten werden sollte, waren Demonstrationen nicht erlaubt und Straßen konnten jederzeit gesperrt werden. Eine kleinere Zone rund um die Messe, wo der Gipfel stattfand war vollständig abgeriegelt und durfte nur von Anwohnern betreten werden.

Die erste größere Auseinandersetzung ging eindeutig von der Polizei aus, als sie sich über eine Gerichtsentscheidung hinwegsetzte und das „Antikapitalistische Camp“ auf den Elbwiesen in Entenwerder räumte. Nach zahlreichen Bemühungen der Stadt, dem Camp keine Zulassung zu erteilen, hatten sich die Organisatoren schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht das Recht erstritten, ihr Zeltlager abhalten zu dürfen. Der Gerichtsentscheid schloss ausdrücklich auch den Aufbau von 150 Zelten zur Übernachtung mit ein.

Doch die Einsatzleitung der Hamburger Polizei unter Hartmut Dudde überging das Urteil des obersten Gerichts, das das Camp mit dem Hinweis auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Grundgesetz) genehmigt hatte. Nachdem erste Campteilnehmer gerade einmal elf Zelte aufgebaut hatten, stürmte die Polizei die Wiese, griff Teilnehmer mit Pfefferspray und Schlagstöcken unvermittelt an und räumte das Gelände. Dass dieses Vorgehen der Sicherheitskräfte illegal war, wurde im Nachhinein noch einmal vom Oberverwaltungsgericht Hamburg bestätigt, doch die Organisatoren des Camps verzichteten von sich aus darauf, sich nochmals der Gefahr polizeilicher Übergriffe auszusetzen und sagten das Zeltlager ab.

Das gesamte Verhalten der Polizei, die insgesamt 20.000 Beamten aus allen sechzehn Bundesländern sowie Spezialeinheiten aus Nachbarländern zusammengezogen hatte, war vollständig auf eine Eskalation der Lage ausgerichtet. Dies zeigte sich auch in den Folgetagen, als mehrfach friedliche Demonstrationen und Versammlungen aufgelöst und gestürmt wurden. Während die Polizei selbst medienwirksam beklagt, es seien während des Gipfels insgesamt 476 Beamte verletzt worden, gibt es über die Zahl der durch Polizeigewalt verletzten Demonstranten keinerlei offizielle Angaben. Der Republikanische Anwaltsverein (RAV) geht davon aus, dass es mehrere hundert Menschen gewesen sein müssen.

Ganz anders verhielt sich die Polizei zunächst bei der nächtlichen Randale im Schanzenviertel. Über Stunden hinweg griff sie nicht ein, als Randalierer und, Berichten zufolge, auch Jugendliche aus dem Stadtviertel, Barrikaden errichteten, Gebäude besetzten und Geschäfte stürmten und plünderten. Die Polizeiführung rechtfertigte diese Zurückhaltung mit dem Argument, sie habe ihre eigenen Kräfte keiner allzu großen Gefahr aussetzen wollen, die angeblich durch Randalierer gedroht habe. Doch nun werden Tag für Tag neue Einzelheiten bekannt, die das Verhalten der Polizei in anderem Licht erscheinen lassen.

Es ist mittlerweile bekannt, dass im Umfeld auch Polizisten in Zivilkleidung aktiv waren, von denen einer sogar einen Warnschuss abgab. Er war davon ausgegangen, dass es sich bei einem anderen Zivilisten, der gerade von einigen Autonomen körperlich angegangen wurde, ebenfalls um einen Polizeibeamten in zivil handle. Schon dieser Vorfall deutet darauf hin, dass die Polizei mit zahlreichen verdeckten Ermittlern und möglicherweise aktiven Provokateuren im Einsatz war, um einen Vorwand für ein späteres, umso härteres Eingreifen zu rechtfertigen.

Ein Interview, das gestern auf Spiegel Online und n-tv.de erschien, bestärkt die Einschätzung, dass die Polizeileitung und Sicherheitskräfte die Situation für eine Art Bürgerkriegstraining und Aufstandsbekämpfungsübung nutzte. In diesem Interview erläutert Sven Mewes, Kommandoführer des sächsischen Spezialeinsatzkommandos (SEK), das Vorgehen seiner 40 Mann umfassenden Einheit in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli im Schanzenviertel. Eigentlich, so Mewes, sei man zusammen mit anderen Spezialeinheiten zur Terrorbekämpfung nach Hamburg gekommen. Doch „aufgrund der erheblichen Gefährdungslage“ im Schanzenviertel sei die Einheit – gemeinsam mit der berüchtigten Wiener Spezialeinheit Cobra – dann auch zur Erstürmung besetzter Häuser eingesetzt worden.

Mewes‘ Ausführungen lassen ahnen, wie weitgehend die Polizei für Einsätze in bürgerkriegsähnlichen Zuständen bereits vorbereitet ist. Man habe davon ausgehen müssen, auch „auf – mit Schusswaffen bewaffnete – Straftäter zu treffen. Dementsprechend war unser Vorgehen extrem robust auf Eigensicherung, aber auch auf hohe Dynamik ausgelegt. Das heißt, der Schusswaffengebrauch war für uns freigegeben, wir haben Ablenkungspyrotechnik in den Gebäuden eingesetzt und geschlossene Türen mittels Schusswaffen mit spezieller Munition geöffnet. Alle die wir angetroffen haben, haben wir sofort auf den Boden gelegt, gefesselt und anschließend abführen lassen. [...] Es hat überhaupt keine Gegenwehr gegeben.“

Mewes erklärt außerdem, seine Einheit habe etwa 13 Festnahmen insbesondere auf Hausdächern durchgeführt. Beachtlicherweise habe sich die Situation im Schanzenviertel „mit unserem Einsatz äußerst beruhigt.“ Es seien keine Steinwürfe und keine Randalierer mehr auszumachen gewesen. Diese Feststellung ist umso entlarvender, weil sie zeigt, dass es sich bei der Darstellung der Polizei, das Schanzenviertel sei über Stunden nicht unter Kontrolle zu bringen gewesen, offenbar um eine heillose Übertreibung handelt, die wohl nur als Rechtfertigung für den brutalen Einsatz von Spezialkräften dienen sollte.

Auch die offizielle Darstellung, es habe sich bei den Randalierern größtenteils um Mitglieder des Schwarzen Blocks gehandelt, ist höchst fraglich. Wie die Hamburger Morgenpost berichtete, befanden sich unter den Randalierern auch Rechtsextreme. Die Hooligan-Gruppe HoGeSa (Hooligans gegen Salafisten) hatte auf Facebook angekündigt, am Samstag von Hannover aus nach Hamburg aufzubrechen und an den Ausschreitungen teilzunehmen. Auch auf eine Beteiligung von Mitgliedern der NPD gibt es Hinweise. So hatte die NPD Hamburg auf ihrer Website angekündigt, „sich an geeigneten Demonstrationen erkennbar zu beteiligen.“ Ob und wie viele Agents Provocateurs seitens der Polizei an den gewalttätigen Auseinandersetzungen teilnahmen, ist bislang unklar. Angesichts einer langen Vorgeschichte von Polizeiprovokateuren in der autonomen Szene Hamburgs ist allerdings davon auszugehen.

Wer in Hamburg dann – aus welchen Gründen auch immer – von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde, war faktisch rechtlos. Wie der Republikanische Anwaltsverein mitteilte, wurde Menschen, die in der Gefangenensammelstelle (GESA) in Hamburg-Harburg festgehalten wurden, regelmäßig nicht der Grund für diese Freiheitsberaubung genannt. Oft erfuhren Festgehaltene erst bei einer Anhörung vor einem Haftrichter – wenn es diese überhaupt gab – davon, weshalb sie festgehalten wurden. Festgehaltenen sei außerdem verwehrt worden, den Anwaltlichen Notdienst anzurufen, sofern sie selbst nicht zufällig dessen Telefonnummer auswendig kannten, auch wenn sie ausdrücklich nach dem juristischen Notdienst verlangten. Stattdessen habe die Polizei den Festgehaltenen ein Hamburger Telefonbuch vorgelegt, aus dessen tausenden Einträgen sie sich einen Anwalt heraussuchen sollten. Wie der RAV erfuhr, war dieses Vorgehen vom Stabsbereich der polizeilichen Einsatzleitung angeordnet worden.

In Zeitungen berichteten junge Demonstranten, wie sie in in der GESA behandelt wurden. Die Erniedrigungen durch die Polizei umfassten Leibesvisitation bei vollständigem Entkleiden, Einsperren über 30 Stunden in einen fensterlosen Container und zum Toilettengang sei man im Polizeigriff abgeführt worden. Um Gefangene am Schlaf zu hindern, habe auch nachts grelles Neonlicht gebrannt, alle 20 Minuten habe ein Polizist an die Tür geschlagen.

Anwälten, die ihre Mandanten in der GESA aufsuchen wollten, wurde nach Angaben des RAV regelmäßig der Zugang verwehrt. Dieser Rechtsbruch wurde mit der absurden Begründung gerechtfertigt, die Anwälte könnten ihren Mandanten heimlich gefährliche Gegenstände zustecken. In einzelnen Fällen wurde Anwälten sogar Hausverbot in der GESA erteilt, was es ihnen unmöglich machte, mit ihren Mandanten persönlich in Kontakt zu treten.

Auch gegen Journalisten gingen Polizei und Sicherheitsbehörden in bisher ungekannter Aggressivität vor. Neun Journalisten unterschiedlicher Medien wurde beim Zugang zum Pressezentrum des G20-Gipfels die bereits erteilte Akkreditierung wieder entzogen – zunächst ohne Begründung. Insgesamt waren von einem Entzug der Akkreditierung 32 Journalisten betroffen.

Selbst vor physischer Gewalt gegen Journalisten schreckte die Polizei nicht zurück. Typisch ist etwa der Fall des Reporters Flo Smith, der für die Huffington Post vom Gipfel berichtete. Am Nachmittag des 7. Juli, des ersten Gipfeltages, war er mit einem Kamerateam in der Hafengegend unterwegs, wo gerade Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Autonomen stattfanden. Als sich das Reporterteam in eine ruhigere Gegend zurückziehen wollte, sei es an der Davidstraße Ecke Erichstraße unvermittelt von Polizisten angegriffen und in übelster Weise beschimpft worden: „Eine Polizistin kam zu mir und meinem Kameramann“, berichtet Smith. „Wir schauten beide in ihre Richtung, sie schrie ,Fuck the press!‘ – und drückte mit ihrem Pfefferspray ab.“ Er sei zusammengebrochen, nachdem ihn das Spray mitten ins Gesicht getroffen habe.

Drei Jahre habe er im Irak gearbeitet, sei bei den Gezi-Protesten in Istanbul gewesen und habe aus Athen berichtet, als die Polizei dort einen Jugendlichen erschossen hatte „und die Stadt brannte“, erklärt Smith. „Aber all das war ein Ponyhof im Vergleich zu dem, was gerade in Hamburg los ist: Hier gerät etwas außer Kontrolle.“

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