Der Platz der Oktoberrevolution in der Weltgeschichte und der heutigen Politik

Am Silvesterabend des Jahres 1917 sprach Franz Mehring – der große sozialistische Historiker, Journalist und Theoretiker, der zusammen mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im August 1914 gegen die Zustimmung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu den Kriegskrediten aufgetreten war – über die Ereignisse in Petrograd. Nur sechs Wochen zuvor hatten die Bolschewiki den Aufstand angeführt, mit dem die bürgerliche Provisorische Regierung gestürzt worden war. Mehring würdigte die weitreichenden politischen Implikationen der Machteroberung der Bolschewiki, betonte jedoch zugleich, dass sie sich als bloßer Auftakt zu einem langen und schwierigen Kampf erweisen werde. Er sagte:

Revolutionen haben einen langen Atem, wenn es wirkliche Revolutionen sind; die englische Revolution des siebzehnten, die Französische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts haben jede etwa vierzig Jahre gebraucht, um sich auszuwirken, und wie – man möchte fast sagen ins winzige – schrumpfen die Aufgaben, die die englische und selbst noch die Französische Revolution zu lösen hatten, vor den ungeheuren Problemen zusammen, mit denen die russische Revolution ringen muss. [1]

In der Tat: Direkt nach der Eroberung der Macht, die in Petrograd fast ohne Blutvergießen vonstattengegangen war, jagte eine politische Krise die nächste. Es begann mit dem Konflikt über die Regierungsbildung. Dann kam es zur Konfrontation mit der Konstituierenden Versammlung, die die Bolschewiki auseinanderzujagen beschlossen. Als Nächstes folgten die erbitterten Kontroversen über die Verhandlungen mit den deutschen Imperialisten und die – von harten Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen Führung begleitete – Entscheidung, den von Deutschland geforderten weitreichenden Zugeständnissen zuzustimmen und den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Im Frühjahr 1918 wurde ganz Sowjetrussland von einem Bürgerkrieg erfasst. Im Juli überlebte Lenin nur knapp ein Attentat, bei dem ein Mitglied der Sozialrevolutionäre zwei Schüsse auf ihn abgab. Und trotz alledem werden die Bolschewiki in unzähligen historischen Abhandlungen als blutrünstige Fanatiker dargestellt, die keinen vernünftigen Argumenten zugänglich waren. Ihren Gegnern hingegen, vor allem den Menschewiki, wird eine vorbildliche Kompromissbereitschaft attestiert. Mit der Realität hat das alles wenig zu tun. Schauen wir uns die erste Krise nach dem Aufstand genauer an.

Der Platz der Oktoberrevolution in der Weltgeschichte und der heutigen Politik

Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre verlangten von den Bolschewiki, dass sie ihr „Abenteuer“ beenden und auf die Macht verzichten sollten. Sie lehnten jegliche Verhandlungen mit den Bolschewiki ab, solange das Militärische Revolutionskomitee, das den Aufstand organisiert hatte, nicht entwaffnet wurde. Dessen Führer (darunter Trotzki) sollten vorübergehend freies Geleit erhalten, bis die Konstituierende Versammlung auf einer zukünftigen Sitzung über ihr Schicksal befinden werde. [2] Mit ihren dreisten Forderungen erweckten die sogenannten „gemäßigten“ sozialistischen Parteien, die von der rechten Führung des Eisenbahnerverbands (dem Wikschel) unterstützt wurden, den Eindruck, dass ihnen die Machtverhältnisse in Petrograd nicht wirklich klar waren.

Ermutigt in ihrer Verbohrtheit fühlten sie sich durch eine von Lew Kamenew geführte, recht große Fraktion innerhalb des bolschewistischen Zentralkomitees, die zu weitreichenden Kompromissen bereit war, um die Regierung auf eine breitere Basis zu stellen. Auf die Forderung der „gemäßigten“ Sozialisten und der Stadtduma, dass Lenin und Trotzki in einer neuen Koalitionsregierung von allen Führungspositionen ausgeschlossen werden sollten, reagierte das bolschewistische Zentralkomitees (in Abwesenheit der beiden wichtigsten Führer der Revolution) mit einer Erklärung, wonach „ein gewisses Geben und Nehmen bei Parteinominierungen zulässig“ sei. [3]

Wie der Historiker Alexander Rabinowitch erläutert, war die Haltung des Zentralkomitees, die in einer weiteren Erklärung von Lew Kamenew ausdrücklich bekräftigt wurde, ein „Signal, dass Lenin und Trotzki nicht unantastbar waren und dass die Bolschewiki in einer Regierung aus allen sozialistischen Parteien nicht einmal unbedingt die Mehrheit beanspruchten“. [4] Die Forderung der Menschewiki, Lenin und Trotzki von der Macht auszuschließen, lief im Wesentlichen auf die politische und physische Enthauptung der Arbeiterklasse hinaus. Theodor Dan, einer der wichtigsten Führer der Menschewiki, forderte auch tatsächlich die Entwaffnung der Petrograder Arbeiter.

Der antibolschewistische Furor der „gemäßigten“ Sozialisten stieß einen Teil der weiter links stehenden Menschewiki-Internationalisten unter Martow ab. Ein Vertreter dieser Gruppierung, A. A. Blum, fragte die rechten „Gemäßigten“: „Haben Sie sich überlegt, was eine Niederlage der Bolschewiki bedeuten würde? Das Handeln der Bolschewiki ist gleichbedeutend mit dem Handeln von Arbeitern und Soldaten. Mit der Partei des Proletariats werden auch die Arbeiter und Soldaten niedergeschlagen.“ [5]

Ungeachtet der Kapitulationsstimmungen innerhalb des bolschewistischen Zentralkomitees genoss die Sowjetmacht unter den Arbeitern Petrograds weiterhin große Unterstützung. Lenin verteidigte unnachgiebig den Aufstand und die Schaffung einer wirklich revolutionären Regierung. Auf einer hitzigen Sitzung des Zentralkomitees am 1. November 1917 griff Lenin Kamenew und andere Kapitulanten in der Parteiführung scharf an. Er zitierte Berichte aus Moskau, wo bürgerliche Kräfte erbittert Widerstand gegen die Revolution leisteten. Offiziere aus dem Junkertum hatten dort Soldaten, die ihnen in die Hände gefallen waren, erschossen. Lenin erinnerte an das Schicksal von Arbeiteraufständen, die in Blut ertränkt worden waren, und ermahnte die Kapitulanten: „Wenn die Bourgeoisie gesiegt hätte, dann hätte sie ebenso gehandelt wie 1848 und 1871.“ [6] Er bezog sich auf das Massaker, das General Cavaignac im Juni 1848 an den Arbeitern von Paris verübt hatte, und auf die Erschießung von mindestens 10.000 Arbeitern durch die Armee der bürgerlichen Versailler Regierung bei der Niederschlagung der Pariser Kommune im Mai 1871.

Arbeiter- und Soldatendemonstration im Oktober 1917 [Photo: Hulton Archive/Getty Images]

Kompromisse und Koalitionen mit denselben Parteien, die die Provisorische Regierung unterstützt hatten, kamen dem Verzicht auf die Oktoberrevolution gleich. Nur ein einziges Mitglied des Zentralkomitees stellte sich eindeutig und mit Nachdruck hinter Lenins Position, eine Koalition mit den Gegnern des Aufstands abzulehnen: „Was eine Versöhnung anbelangt, so kann ich nicht ernsthaft darüber sprechen“, erklärte Lenin. „Trotzki hat sich schon vor langer Zeit von der Unmöglichkeit einer Vereinigung überzeugt, und von diesem Zeitpunkt an gab es keinen besseren Bolschewiken.“ [7]

Lenin beharrte darauf, dass die Partei als Führung der Arbeiterklasse verpflichtet war, die Interessen ihrer Klasse zu verteidigen. An die Adresse Sinowjews gerichtet, der erneut im Bündnis mit Kamenew einen Kompromiss mit der Rechten forderte, erklärte Lenin:

Sinowjew sagt, wir seien nicht die Sowjetmacht. Wir seien, bitteschön, nur die Bolschewiki, die seit dem Auszug der Sozialrevolutionäre und Menschewiki allein dastünden, und so weiter und so fort. Aber dafür sind nicht wir verantwortlich. Wir sind vom Sowjetkongress gewählt worden. Diese Organisation ist etwas Neues. Wer kämpfen will, tritt ihr bei. Sie besteht nicht aus dem Volk, sondern aus der Avantgarde, der die Massen folgen. Wir gehen mit den Massen – den aktiven, nicht den zaghaften. Jetzt auf eine Ausweitung des Aufstands zu verzichten bedeutet, vor den zaghaften Massen zu kapitulieren, wir aber sind mit der Avantgarde. Die Sowjets nehmen Gestalt an [im Kampf]. Die Sowjets sind die Avantgarde der proletarischen Massen. [8]

Zur Unterstützung von Lenins Position trug Trotzki eine klare und nüchterne Bewertung der politischen Gegebenheiten vor:

Man sagt uns, wir könnten nicht aufbauen. Daher sollten wir die Macht einfach an diejenigen abtreten, die uns zurecht bekämpft hätten. Aber wir haben bereits ein großes Werk getan. Man sagt uns, wir könnten nicht auf Bajonetten sitzen. Aber wir kommen auch nicht ohne Bajonette aus. Wir brauchen Bajonette, um überhaupt hier sitzen zu können. Man sollte meinen, dass die Erfahrungen, durch die wir gegangen sind, uns etwas gelehrt hätten. In Moskau hat eine Schlacht stattgefunden. Ja, es gab dort einen harten Kampf mit den Junkern. Aber diese Junker fühlen sich weder den Menschewiki noch dem Wikschel verpflichtet. Eine Versöhnung mit dem Wikschel wird den Konflikt mit den Junkertruppen der Bourgeoisie nicht lösen. Nein. Der Klassenkampf gegen uns wird gnadenlos weitergehen. Wenn alle diese Läuse aus der Mittelklasse, die sich nicht für eine Seite entscheiden können, merken, dass unsere Regierung stark ist, werden sie sich auf unsere Seite schlagen, zusammen mit dem Wikschel. Weil wir die Kosaken von [General] Krasnow vor Petersburg geschlagen haben, wurden wir am nächsten Tag mit Glückwunschtelegrammen überhäuft. Die kleinbürgerlichen Massen suchen nach einer Kraft, der sie sich unterwerfen müssen. Wer das nicht versteht, versteht überhaupt nichts im Universum und erst recht nicht im Staatsapparat. Schon 1871 sagte Karl Marx, dass eine neue Klasse den alten Apparat nicht einfach übernehmen kann. Dieser Apparat hat seine eigenen Interessen und Gewohnheiten, gegen die wir angehen müssen. Er muss zerschlagen und ersetzt werden; nur dann werden wir in der Lage sein zu arbeiten.

Wenn das nicht so wäre, wenn der alte zaristische Apparat für unsere neuen Zwecke geeignet wäre, dann wäre die gesamte Revolution keine leere Eierschale wert. Wir müssen einen Apparat schaffen, der tatsächlich die gemeinsamen Interessen der Volksmassen über die Interessen des Apparats selbst stellt.

Es gibt viele unter uns, die sich angewöhnt haben, die Frage der Klassen und des Klassenkampfes wie Büchergelehrte zu betrachten. In dem Moment, in dem sie einen Hauch der revolutionären Wirklichkeit zu spüren bekamen, begannen sie eine andere Sprache zu sprechen (die Sprache der Versöhnung und nicht des Kampfs).

Wir machen gerade eine tiefe gesellschaftliche Krise durch. Das Proletariat ist mit dem Abriss und der Ersetzung des Staatsapparats beschäftigt. Der Widerstand von ihrer Seite spiegelt unsere Wachstumsprozesse wider. Worte können ihren Hass auf uns nicht dämpfen. Man sagt uns, ihr Programm sei dem unseren ähnlich. Wir sollten ihnen ein paar Sitze geben, und alles werde sich einrenken ... Nein. Die Bourgeoisie tritt uns aufgrund ihrer gesamten Klasseninteressen geschlossen entgegen. Und was erreichen wir dem gegenüber, wenn wir den Weg der Versöhnung mit dem Wikschel beschreiten? ... Wir sind mit einer bewaffneten Gewalt konfrontiert, die wir nur mit eigener Gewalt überwinden können. Lunatscharski sagt, dass Blut fließt. Was soll man da tun? Offenbar hätten wir gar nicht erst anfangen sollen.

Aber warum gebt ihr dann nicht offen zu, dass der größte Fehler nicht so sehr im Oktober, sondern Ende Februar begangen wurde, als wir die Arena des künftigen Bürgerkriegs betraten? [9]

Der Kampf innerhalb der bolschewistischen Führung tobte mehr als eine Woche lang. Es kostete Lenin große Mühe, mit Trotzkis Unterstützung die Forderungen nach einer Koalitionsregierung mit den Menschewiki, Sozialrevolutionären und anderen Gegnern des von den Bolschewiki geführten Aufstands vom 24./25. Oktober zu überwinden.

Ursächlich für den Konflikt innerhalb der bolschewistischen Führung – der die Partei erneut an den Rand einer Spaltung brachte – war die fortdauernde Opposition eines wesentlichen Teils des Zentralkomitees nicht nur gegen die Machtübernahme im Oktober, sondern gegen die gesamte politische Orientierung, die Lenin nach seiner Rückkehr nach Russland im April 1917 durchgesetzt hatte. Mit seiner Forderung, dass die Bolschewistische Partei einer Koalition beitreten solle, selbst wenn Lenin und Trotzki in der neuen Regierung auf jegliche Ämter verzichten müssten, knüpfte Kamenew an die Positionen an, die er zusammen mit Stalin unmittelbar nach der Februarrevolution vertreten hatte.

Erinnern wir uns, dass sich die Bolschewistische Partei unter der Führung Kamenews und Stalins vor Lenins Rückkehr an die politischen Gegebenheiten angepasst hatte, die unmittelbar nach der Februarrevolution entstanden waren. Sie akzeptierte die Autorität der bürgerlichen Provisorischen Regierung. Der neu gebildete Sowjet sollte sich darauf beschränken, die Politik des mit einem demokratischen Anstrich versehenen bürgerlichen Staats von links zu beeinflussen. Das Akzeptieren der bürgerlichen Herrschaft bedeutete zwangsläufig auch Zustimmung zur fortgesetzten Beteiligung Russlands am imperialistischen Krieg, der nach dem Sturz des Zarismus als Krieg zur Verteidigung der Demokratie dargestellt wurde.

Die politische Perspektive, die dieser ersten Reaktion der Bolschewiki auf den Februaraufstand zugrunde lag, bestand darin, dass Russland eine bürgerlich-demokratische Revolution durchmache, mit der eine parlamentarischen Demokratie nach dem Vorbild Großbritanniens oder Frankreichs errichtet werden sollte. Der Kampf für eine Arbeiterregierung – die Diktatur des Proletariats – wurde als historisch und ökonomisch verfrüht abgelehnt. Russland sei aufgrund seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit und seiner mehrheitlich aus Bauern bestehenden Bevölkerung nicht reif für den Sozialismus. Um Kamenew und anderen bolschewistischen Führern, die diese Haltung vertraten, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Sie konnten sich durchaus zu Recht darauf berufen, dass ihre Reaktion auf die Februarrevolution auf dem langjährigen bolschewistischen Programm der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft beruhte.

Im Hinblick auf den Klassencharakter des Staats, der nach dem Sturz der zaristischen Regierung entstehen sollte, war dieses Programm bestenfalls mehrdeutig. Darüber hinaus unterschied sich das Programm der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft grundlegend von der Perspektive der permanenten Revolution, die Trotzki während und unmittelbar nach der Revolution von 1905 ausgearbeitet hatte. Bekanntlich sah Trotzki in seiner Theorie voraus, dass die demokratische Revolution gegen den Zarismus rasch in eine sozialistische Revolution übergehen werde, in der die Arbeiterklasse selbst die Macht übernehmen, sozialistische Maßnahmen ergreifen und tief in die bürgerlich-kapitalistischen Eigentumsverhältnisse eingreifen, ja sie sogar abschaffen müsse.

Trotzkis Prognose, dass die kommende russische Revolution einen sozialistischen Charakter annehmen werde, wurde von nahezu allen seinen politischen Zeitgenossen auf der Linken, einschließlich der Bolschewiki, als unrealistische und utopische Bewertung der Lage in Russland eingeschätzt. Es erschien ihnen schlicht unmöglich, in einem Land, dessen Wirtschaft für sozialistische Maßnahmen nicht hinreichend entwickelt war, die direkte Machtergreifung durch die Arbeiterklasse zu propagieren.

Aber Trotzkis Kritiker hatten seine grundlegende Argumentation nicht erfasst. Trotzkis Prognose einer sozialistischen Revolution beruhte nicht auf einer Bewertung der innerrussischen Bedingungen aus nationaler Sicht, sondern auf einer Analyse des Entwicklungsstands der kapitalistischen Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert und dessen Auswirkungen auf das politische Leben in allen Ländern. Die globale Entwicklung des Kapitalismus, so Trotzki 1907, „hat die ganze Welt in einen einzigen wirtschaftlichen und politischen Organismus verwandelt“. Das komplexe Geflecht der wirtschaftlichen Beziehungen werde unweigerlich alle Länder in eine soziale Krise von nie dagewesenen Ausmaßen hineinziehen. Der Ausbruch der unvermeidbaren Krise werde zur „radikalen, weltweiten Vernichtung“ der bürgerlichen Herrschaft führen. Trotzkis Analyse der globalen Krise bestimmte seine strategische Konzeption der russischen Revolution. Der internationale Charakter der kapitalistischen Krise werde der russischen Arbeiterklasse „majestätische Aussichten“ eröffnen. „Die politische Emanzipation, geführt von der russischen Arbeiterklasse“, schrieb Trotzki, erhebt letztere auf historisch beispiellose Höhen, gibt ihr kolossale Mittel und Ressourcen in die Hand und macht sie zum Initiator der weltweiten Abschaffung des Kapitalismus, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.“ [10]

Vor 1914 hatte Lenin die strategische Ausrichtung abgelehnt, die sich aus Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ergab. Aber der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die unmittelbare Kapitulation der Zweiten Internationale vor dem nationalen Chauvinismus hatten tief greifende Auswirkungen auf Lenins Auffassung der russischen Revolution. Wenn überhaupt ein einziges Ereignis „alles ändern“ konnte, dann der Ausbruch des Weltkriegs. Ab August 1914 wurde Lenins Analyse der Ursachen des Weltkriegs und des Verrats der Zweiten Internationale zur Grundlage seiner Einschätzung aller politischen Entwicklungen. Der Krieg war kein Ereignis, nach dem, wie Karl Kautsky hoffte, alles wieder mehr oder weniger so werden würde, wie es vor dem August 1914 gewesen war. Der Weltkrieg bedeutete für Lenin den Beginn einer neuen Epoche in der Weltpolitik.

Erst 1912, zwei Jahre vor Kriegsbeginn, hatten die Delegierten des Baseler Kongresses der Zweiten Internationale eine Resolution verabschiedet, in der sie versprachen, die durch den Ausbruch des Kriegs entstehende Krise für die weltweite Abschaffung des kapitalistischen Systems zu nutzen. Man kann getrost davon ausgehen, dass diese Resolution für die überwiegende Mehrheit der Delegierten eine rein rhetorische Angelegenheit ohne politische Bedeutung war. Lenin jedoch betrachtete sie als ernsthafte politische Aussage, die für alle Sektionen der Zweiten Internationale verbindlich war.

Außerdem war der Krieg nach Lenins Analyse kein Zufall und auch nicht das Ergebnis von Fehlern und Fehleinschätzungen der einen oder anderen nationalen Regierung. Der Krieg bedeutete nichts weniger als den katastrophalen Zusammenbruch des gesamten wirtschaftlichen und geopolitischen Gleichgewichts der kapitalistisch-imperialistischen Weltordnung. Der Krieg, der Millionen Menschen in den Strudel grauenhafter Gewalt riss, war die Reaktion der herrschenden Klassen Europas auf das Scheitern ihres Systems. Der Krieg war ihre Methode, das System „zurückzusetzen“. Es bedurfte einer Neuaufteilung des Kolonialbesitzes und der Einflusssphären, um ein neues wirtschaftliches und politische Gleichgewicht herzustellen.

Im Gegensatz zu der kapitalistischen Lösung stand, als notwendige und unvermeidliche Reaktion der Arbeiterklasse in allen imperialistischen Ländern, die sozialistische Weltrevolution. Der Zusammenbruch des Systems, der in der objektiven Praxis der imperialistischen herrschenden Klassen die Form von Krieg annahm, musste in der objektiven Praxis der internationalen Arbeiterklasse die Form eines verstärkten antikapitalistischen Klassenkampfs und der sozialistischen Revolution annehmen. Die Beendigung des Kriegs erforderte den Sturz der kapitalistischen Klassen, die Beseitigung des auf kapitalistischem Privateigentum und Profit basierenden Wirtschaftssystems und die Abschaffung des Nationalstaats. Auf diese objektive Tendenz der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung musste die Politik der sozialistischen Weltbewegung programmatisch und praktisch ausgerichtet werden.

Aus dieser Perspektive, die den imperialistischen Krieg in einem internationalen Rahmen sah, war klar, dass diejenigen, in deren Augen Russland – als isolierte „nationale“ Einheit der Weltwirtschaft – nicht „reif“ für die sozialistische Revolution war, das Problem nicht verstanden hatten. Lenins Programm war nicht das eines national basierten Sozialismus. Für Lenin (und, natürlich, Trotzki) bildete Russland eine entscheidende Front in einem weltweiten Kampf. Eine komplexe Verkettung von Umständen hatte die russische Arbeiterklasse vor die Aufgabe gestellt, die erste große Front in der sozialistischen Weltrevolution zu eröffnen.

Nach Russland zurückgekehrt, musste Lenin einen intensiven politischen Kampf gegen alle Tendenzen innerhalb der Bolschewistischen Partei führen, die die Revolution im nationalen Rahmen sahen. Am 24. April 1917 eröffnete Lenin die Siebte Allrussische Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands mit folgender Erklärung:

Genossen, unsere Konferenz tritt als erste Konferenz der proletarischen Partei zu einer Zeit zusammen, in der nicht nur die russische Revolution Tatsache ist, sondern auch die internationale Revolution heranreift. Es kommt jetzt die Zeit, wo die These der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus wie auch die einstimmige Voraussage der auf dem Baseler Kongress versammelten Sozialisten, dass der Weltkrieg unvermeidlich zur Revolution führt, sich überall bewahrheitet...

Dem russischen Proletariat wurde die große Ehre zuteil, zu beginnen, es darf aber nicht vergessen, dass seine Bewegung und seine Revolution nur ein Teil der internationalen revolutionären proletarischen Bewegung sind, die, wie zum Beispiel in Deutschland, von Tag zu Tag stärker und stärker wird. Nur unter diesem Gesichtswinkel können wir unsere Aufgaben bestimmen. [11]

Lenin fuhr fort:

Vom marxistischen Standpunkt aus ist es unsinnig, vom Imperialismus zu sprechen und dabei die Lage nur eines Landes zu sehen, während doch die kapitalistischen Länder aufs engste miteinander verknüpft sind. Und jetzt, während des Krieges, ist diese Verknüpfung noch unvergleichlich stärker. Die ganze Menschheit ist zu einem einzigen blutigen Knäuel verschlungen, und ein isoliertes Sichherauswinden ist nicht möglich. Wenn es auch mehr und weniger entwickelte Länder gibt, so hat doch der gegenwärtige Krieg sie alle derart miteinander verkettet, dass die Herauslösung eines einzelnen Landes unmöglich und unsinnig erscheint. [12]

Auch nachdem Lenin die Partei für die Perspektive des Kampfs um die Macht gewonnen hatte, hob er unermüdlich die internationalistischen Grundlagen der Parteistrategie hervor. In Artikeln, Reden auf Massenversammlungen und wissenschaftlichen Vorträgen erklärte er, dass der Krieg und die Revolution in Russland aus der Krise des Weltimperialismus hervorgegangen waren. In einem Vortrag zum Thema „Krieg und Revolution“ legte Lenin am 4. Mai 1917 dar:

Den Krieg, den die Kapitalisten aller Länder führen, kann man nicht ohne die Arbeiterrevolution gegen diese Kapitalisten beenden. Solange die Kontrolle nicht aus dem Bereich der Phrase in den Bereich der Taten übergegangen ist, solange an die Stelle der Regierung der Kapitalisten nicht eine Regierung des revolutionären Proletariats getreten ist, solange ist die Regierung dazu verurteilt, nur zu sagen: Wir gehen zugrunde, wir gehen zugrunde, wir gehen zugrunde…

Diesen Krieg kann man nur durch die Arbeiterrevolution in einigen Ländern beenden. Einstweilen aber müssen wir diese Revolution vorbereiten, sie fördern. [13]

Die Entscheidung der Bolschewiki, die Macht zu übernehmen, war Ausdruck ihres außerordentlichen Muts und nicht zuletzt ihres politischen Willens im besten Sinne des Wortes. In dieser historischen Situation war der bolschewistische „Wille zur Macht“ kein Ausdruck von subjektivem Voluntarismus, sondern die unabdingbare Anpassung der politischen Praxis an die objektive Wirklichkeit. Selbst Kritiker der Oktoberrevolution, die Sympathie mit ihren sozialistischen Bestrebungen hegen, haben argumentiert, dass die Entscheidung, die Macht zu übernehmen, mit zu hohen Risiken behaftet war. War es angesichts der Überzeugung von Lenin und Trotzki, dass das Schicksal Sowjetrusslands von der Ausweitung der sozialistischen Revolution nach Mittel- und Westeuropa und insbesondere nach Deutschland abhing, nicht gefährlich, ja geradezu abenteuerlich, die Eroberung der Macht durch die Arbeiter eines anderen Landes zur Grundlage der bolschewistischen Politik zu machen? Gingen die Bolschewiki nicht eine zu gewagte Wette auf den Sieg der Revolution in Deutschland ein? Wäre es nicht klüger gewesen, die revolutionäre Aktion in Russland hinauszuschieben, bis sich ihre Erfolgsaussichten durch die Entwicklung der revolutionären Bewegung in Deutschland weniger problematisch ausnehmen würden?

Diese skeptische Ansicht verrät ein unzulängliches Verständnis sowohl des historischen Prozesses als auch der Dynamik des internationalen revolutionären Kampfs. In einer Broschüre, die er kurz vor der Oktoberrevolution unter dem Titel Können die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? verfasste, verspottet Lenin diejenigen, die nur bereit sind, „die soziale Revolution anzuerkennen, wenn die Geschichte ebenso friedlich, ruhig, glatt und akkurat an die Revolution heranführte, wie ein deutscher D-Zug in die Bahnhofshalle einfährt. Der würdevolle Schaffner öffnet die Wagentüren und ruft: „Haltestelle Soziale Revolution! Alle aussteigen!“ [14]

Lenin zitiert noch ein weiteres Argument, das häufig gegen die Machtübernahme angeführt wurde: Die Revolution wäre in hohem Maße empfehlenswert, wenn die politische Lage nur nicht so „außerordentlich kompliziert“ wäre. Mit kaum verhohlenem Sarkasmus antwortete Lenin diesen „Weisen“, die den Bolschewiki dringend nahelegten, eine „unkomplizierte“ Situation abzuwarten:

Solche Revolutionen gibt es nicht, und die Seufzer nach einer solchen Revolution sind nichts weiter als reaktionäre Lamentationen eines bürgerlichen Intellektuellen. Selbst wenn eine Revolution in einer scheinbar nicht sehr komplizierten Situation begonnen hat, so schafft die Revolution selber in ihrer Entwicklung immer eine außerordentlich komplizierte Situation. Denn eine wirkliche, eine tiefgehende, eine „Volks“revolution, um mit Marx zu sprechen, ist der unglaublich komplizierte und qualvolle Prozess des Sterbens einer alten und die Geburt einer neuen Gesellschaftsordnung, einer neuen Lebensstruktur für Millionen und Abermillionen von Menschen. Die Revolution ist der heftigste, wütendste, erbittertste Klassenkampf und Bürgerkrieg …

Gäbe es keine außerordentlich komplizierte Situation, so gäbe es auch keine Revolution. Wer Wölfe fürchtet, der meide den Wald. [15]

Die Geschichte im Allgemeinen und Revolutionen im Besonderen wären sehr einfach, wenn es dabei immer klar umrissene Alternativen mit zuverlässigen Ergebnissen gäbe, und wenn das weitsichtigste und fortschrittlichste Handeln zugleich stets das am wenigsten gefährlichste und anstrengendste wäre. In Wirklichkeit stellen sich große historische Vorhaben immer in der Form schwieriger Probleme, die schmerzhafte Entscheidungen verlangen, hohe Risiken bergen und enorme Opfer fordern.

Die Oktoberrevolution, die den ersten Arbeiterstaat schuf, war ein solches großes und, wenn man so sagen will, kompliziertes Vorhaben. Erinnern wir uns an einige wichtige Voraussetzungen, die den Verlauf der Ereignisse im Oktober 1917 und den folgenden Monaten und Jahren prägten. Die Revolution ereignete sich inmitten eines Weltbrands, der den Zerfall eines riesigen und archaischen Reichs beschleunigt hatte, das sich über ein Sechstel der Landfläche der Erde erstreckte. Das Ausmaß der geopolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise, die 1917 über Russland hereinbrach, bestimmte das erstaunliche Tempo der Ereignisse zwischen Februar und Oktober. Als Lenin im Herbst 1917 vor einer „bevorstehenden Katastrophe“ warnte, wählte er seine Worte ohne jede Spur von Übertreibung. Die bürgerliche Provisorische Regierung und ihre Verbündeten unter den Menschewiki und Sozialrevolutionären im Sowjet waren nicht in der Lage, eine kohärente Politik zu formulieren, geschweige denn umzusetzen, um eine Krise einer solch monumentalen Größenordnung zu bewältigen.

In seinem einzigen Kommentar zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution äußerte Wladimir Putin sein Bedauern darüber, dass 1917 keine friedliche Lösung für die Krise gefunden wurde:

Wir müssen die Frage stellen, ob es wirklich nicht möglich war, sich nicht auf dem Wege der Revolution, sondern der Evolution zu entwickeln, nicht die Staatlichkeit zu zerschlagen und das Schicksal von Millionen erbarmungslos zu zerstören, sondern einen allmählichen, schrittweisen Fortschritt zu erzielen. [16]

Hätte Putin im Jahre 1917 gelebt, dann müsste man ihn sich wohl als Beamten irgendeiner Polizeibehörde der Provisorischen Regierung vorstellen – empört, dass das Volk die alten Institutionen des Staates ablehnt, entsetzt über die Gewalt in den Straßen, nachdem es General Kornilow nicht gelungen war, die Ordnung wiederherzustellen, und voller Hass auf die Bolschewiki.

Eine evolutionäre und friedliche Lösung der Krise lag 1917 schlicht nicht im Bereich des Möglichen. Das Scheitern der Provisorischen Regierung und der gesamten reformistischen Perspektive der „gemäßigten“ sozialistischen Führer der Sowjets vor dem Oktober zeugt davon, dass die Krise nicht auf kapitalistischer Grundlage oder im Rahmen des russischen Nationalismus gelöst werden konnte.

Das von Lenin und Trotzki vertretene Programm der sozialistischen Weltrevolution war die einzig gangbare strategische Antwort auf den Zusammenbruch des Systems, der mit dem Ausbruch des Kriegs in Europa begonnen hatte. Ungeachtet ihrer Kritik an bestimmten Aspekten der bolschewistischen Politik schrieb Rosa Luxemburg: „Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik.“ [17]

Wenn die Geschichte den Bolschewiki gnädiger gewesen wäre, dann wäre die Machteroberung der Arbeiterklasse in Deutschland der Oktoberrevolution vorausgegangen oder zumindest gleichzeitig mit ihr eingetreten. Aber, wie Trotzki später schrieb, die Geschichte erwies sich nicht als freundlich, sondern als „böse Stiefmutter“. Das Verhalten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hatte alles andere ausgeschlossen. Durch ihren Verrat verzögerte sie nicht nur die Revolution, sondern säte auch Verwirrung und Zwietracht in der deutschen Arbeiterklasse.

Besonders nach der versuchten Konterrevolution durch General Kornilow im Spätsommer 1917 wurde klar, dass die Revolution nur durch den Sturz der Provisorischen Regierung gerettet werden konnte. So fanden sich die Bolschewiki in der Lage wieder, die Staatsmacht unter Bedingungen der politischen Isolation übernehmen zu müssen. Sie standen vor der doppelten Aufgabe, die Revolution gegen die konterrevolutionären Kräfte in Russland (die von Weltimperialismus unterstützt wurden) zu verteidigen und gleichzeitig alles ihnen Mögliche zu tun, um die Sache der sozialistischen Weltrevolution voranzubringen. Diese beiden untrennbar miteinander verbundenen Aspekte ihrer revolutionären Politik schlugen sich im Aufbau der Roten Armee und der Gründung der Kommunistischen (Dritten) Internationale nieder. Der erste Kongress der Komintern fand im März 1919 in Moskau statt. Die nächsten drei Kongresse – deren Debatten und Resolutionen bis heute wesentliche Elemente der theoretischen und politischen Ausbildung revolutionärer Marxisten sind – wurden im Jahresabstand 1920, 1921 und 1922 abgehalten.

Das Überleben der Revolution – besonders unter den Bedingungen der Niederlagen, die die Arbeiterklasse außerhalb der Grenzen Sowjetrusslands erlitt – wäre ohne die Schaffung der Roten Armee undenkbar gewesen. An dieser Stelle muss man, wenn auch nur kurz, auf die entscheidende Rolle Trotzkis als Kriegskommissar und Hauptbefehlshaber der Roten Armee eingehen. Der Historiker Jonathan D. Smele, Autor einer aufschlussreichen Studie über die russischen Bürgerkriege (er verwendet den Plural), schreibt: „Trotzkis Verwandlung von einem Propagandisten, der über ein paar Monate Erfahrung als Kriegsberichterstatter auf dem Balkan im Jahr 1912 verfügte, in den Organisator einer mehrere Millionen Mann starken Armee war erstaunlich.“ Als wichtige Führungsqualitäten nennt Smele „Trotzkis Fähigkeit, Loyalität herzustellen“ und seine „Fähigkeit, kluge Berater zu wählen“. [18]

In einer anderen Studie betont Oberst Harold W. Nelson (der am United States War College lehrte) Trotzkis herausragende Fähigkeiten als militärischer Stratege und Führer. „Er wusste genau, dass es eher auf Geschwindigkeit als auf taktische Siege ankam, und er spürte, dass es wichtiger war, Truppen am entscheidenden Kampfplatz in Massen zusammenzuziehen, als sie um politischer Ziele willen zu zerstreuen.“ In seinen früheren Schriften zu den Balkankriegen zeigte Trotzki starkes Interesse an den Auswirkungen des Kriegs auf die, die gezwungen waren zu kämpfen. Trotzki „wollte wissen, was Männer im Kampf taten, und er hoffte herauszufinden, wie der Kampf sie veränderte. Es war nicht die eitle Neugier des Betrachters, sondern das leidenschaftliche Interesse des Schülers … Dieses leidenschaftliche Interesse an den zentralen gesellschaftlichen Problemen lag in Trotzkis Natur, und er studierte den Krieg mit dem gleichen brennenden Verlangen, das er zuvor den Wirtschaftswissenschaften, Sprachen und der revolutionären Theorie entgegengebracht hatte.“ [19]

Trotzki besaß außergewöhnliche administrative und organisatorische Fähigkeiten. Aber seine wichtigste Eigenschaft als Führer der Roten Armee war sein unvergleichliches historisches und politisches Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Kräften in Russland, den ständig wechselnden geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen und Gegensätzen, die im imperialistischen Weltsystem wirkten, und den Einflüssen aller dieser globalen Prozesse auf den Klassenkampf innerhalb der verschiedenen Länder und auf die Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution als Ganze. Innerhalb dieses Prozesses spielten überdies der Kampf der Arbeiterklasse und vor allem die politischen Initiativen der marxistischen Vorhut eine bedeutende und, unter bestimmten Bedingungen, für den Verlauf der Weltgeschichte eine entscheidende Rolle.

Als er den Kampf der Roten Armee anführte – gegen unzählige Feinde und an zahlreichen militärischen Fronten, die sich über Tausende Kilometer erstreckten – war Trotzki ständig bestrebt, die Oktoberrevolution in die globale Entwicklung der sozialistischen Revolution einzuordnen. Trotz Rückschlägen in einem Abschnitt des großen Schlachtfelds der Weltrevolution konnten sich in einem anderen Abschnitt strategische Chancen auf einen Durchbruch eröffnen.

Nach den Niederlagen der Aufstände in Deutschland und Ungarn wurde den Bolschewiki klar, dass sich der Sieg der sozialistischen Revolution in Europa länger hinziehen würde, als sie ursprünglich gehofft hatten. Aber das durch den Sieg der Bolschewiki hervorgerufene Erwachen der Massen im Osten zu politischem Leben schuf neue Möglichkeiten für die Entwicklung der Weltrevolution. Im August 1919 schickte Trotzki von seinem Militärzug aus ein ausführliches Memorandum an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands (wie sie sich mittlerweile nannte). Er schrieb:

Es gibt keinerlei Zweifel, dass unsere Rote Armee auf dem asiatischen Gelände der Weltpolitik eine unvergleichlich stärkere Kraft darstellt als auf dem europäischen Terrain. Hier eröffnet sich uns zweifellos eine Möglichkeit, nicht nur lange abzuwarten, um zu sehen, welchen Verlauf die Ereignisse in Europa nehmen, sondern auf dem Gebiet Asiens aktiv zu sein. Der Weg nach Indien kann sich für uns zum jetzigen Zeitpunkt als leichter passierbar und kürzer erweisen als der Weg nach Sowjetungarn. Eine Armee, der im Augenblick im europäischen Maßstab keine große Bedeutung zukommt, kann das labile Gleichgewicht der asiatischen kolonialen Abhängigkeitsbeziehungen zum Kippen bringen, einen unmittelbaren Anstoß zu einem Aufstand der unterdrückten Massen geben und den Sieg eines solchen Aufstands in Asien sichern ...

Unsere militärischen Erfolge im Ural und in Sibirien dürften das Ansehen der sowjetischen Revolution in ganz Asien auf außergewöhnliche Höhen heben. Es ist wichtig, diesen Faktor auszunutzen und irgendwo im Ural oder in Turkestan eine zentrale revolutionäre Hochschule zu schaffen, das politische und militärische Hauptquartier der Revolution in Asien, die sich in der unmittelbar bevorstehenden Periode als weitaus wirksamer erweisen kann als das Exekutivkomitee der Dritten Internationale. [20]

Die Rückschläge, die die Arbeiterklasse 1919 bis 1921 in Europa erlitt, machten deutlich, dass sich die Entwicklung der sozialistischen Revolution länger hinziehen würde, als die Bolschewiki ursprünglich erwartet hatten. Das hieß nicht, dass die Entscheidung, in Russland die Macht zu übernehmen, auf einer Fehleinschätzung der Lage in Europa beruhte, wie bürgerliche Historiker im Allgemeinen behaupten. In Wirklichkeit trug die Oktoberrevolution zu einer enormen Radikalisierung der Arbeiterklasse in Europa bei. Es gab Aufstände (wie in Deutschland und Ungarn) und massive Streiks (wie in Italien). Aber diese Bewegungen endeten in Niederlagen, aus denen sich die Notwendigkeit ergab, bestimmte Elemente der revolutionären Perspektive zu überarbeiten.

Mit Sicherheit galt es wichtige Lehren aus der Oktoberrevolution und ihren Folgen zu ziehen. Erstens: Der Sieg der sozialistischen Revolution hing in weitaus größerem Maße, als man es vor 1914 erkannt hatte, von der Existenz einer revolutionären marxistischen Partei ab, die fähig war, der Arbeiterklasse eine Führung zu geben. Die Tatsache, dass das Schicksal der Revolution innerhalb weniger kritischer Tage für einen längeren Zeitraum entschieden werden konnte, verlieh der Frage der Führung herausragende politische und historische Bedeutung. Zweitens: Die Erfahrung der Oktoberrevolution hatte die Furcht der Kapitalisten vor der sozialistischen Revolution gesteigert.

Als den herrschenden Eliten klar wurde, dass sie den Sieg der Bolschewiki nicht rückgängig machen konnten, und als sie erkannten, was es hieß, die Macht zu verlieren, waren sie entschlossen, eine Wiederholung dieser Erfahrung um jeden Preis zu verhindern. Aufgrund dieses geschärften Bewusstseins für die politischen Gefahren, die ihr drohten, griff sie zu zügelloser konterrevolutionärer Gewalt gegen die Arbeiterklasse und ihre politische Avantgarde. Im Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht während der blutigen Niederschlagung des Spartakusaufstands in Berlin ermordet. In ganz Europa wurden faschistische Bewegungen aufgebaut.

Die Bourgeoisie, warnte Trotzki im Juli 1921, „entfaltet die größte Konzentration der Kräfte und Ressourcen, der politischen und militärischen Mittel der Täuschung, des Zwangs und der Provokation, d. h. die Blüte ihrer Klassenstrategie gerade in dem Moment, in dem ihr unmittelbar der gesellschaftliche Untergang droht.“ In der Epoche der Krise und des Zusammenbruchs des Kapitalismus kommt die ganze konterrevolutionäre Strategie der Bourgeoisie zum Tragen als „die Kunst, mit allen Methoden zugleich gegen das Proletariat zu kämpfen, von zuckersüßen, professoral-klerikalen Predigten bis hin zum Maschinengewehrfeuer auf Streikende“. [21]

Wie sollte die Arbeiterklasse einer Bourgeoisie entgegentreten, die entschlossen war, jede Bedrohung ihrer Herrschaft mit allen ihr zu Gebote stehenden Mittel zu vernichten? Trotzki antwortete: „Die Aufgabe der Arbeiterklasse – in Europa und in der Welt – besteht darin, der völlig durchdachten konterrevolutionären Strategie der Bourgeoisie ihre eigene revolutionäre Strategie entgegenzustellen, die ebenfalls konsequent durchdacht ist.“ [22]

* * * * *

Die Jahre von 1921 bis 1924 waren in der Sowjetunion eine kritische Zeit des politischen Umbruchs. In den vorangegangenen sieben Jahren, von 1914 bis 1921, hatte Russland einen schier unfassbaren politischen und sozialen Umbruch durchgemacht. Die Niederlagen der Arbeiterklasse in Europa bedeuteten, dass die politische und wirtschaftliche Isolation der Sowjetunion andauern würde, wenn man auch immer noch hoffte, dass es sich um Jahre, nicht um Jahrzehnte handeln würde. Mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik im März 1921 wurden beträchtliche Zugeständnisse an die Marktwirtschaft gemacht, die als notwendiger Rückzug vollkommen gerechtfertigt waren. Doch die damit verbundene Stärkung kapitalistischer Kräfte, die mit der zunehmenden Bürokratisierung der Kommunistischen Partei und des Staatsapparats sowie mit der vorübergehenden Stabilisierung des Kapitalismus in Westeuropa in Wechselwirkung stand, hatte weitreichende politische Folgen. Ende 1922 mehrten sich die Anzeichen für ein Schwinden des revolutionären Geists, der die ersten Jahre des Sowjetstaats beseelt hatte. Politisch äußerte sich dies im Wiederaufleben nationalchauvinistischer Tendenzen innerhalb der Parteiführung.

Lenin hatte im Mai 1922 einen schweren Schlaganfall erlitten und konnte erst im Oktober 1922 wieder politisch aktiv werden. Er erschrak über die Veränderung des politischen Klimas innerhalb der Parteiführung. Vehement wandte er sich gegen Stalins respektlose Behandlung von Vertretern der Kommunistischen Partei der Sowjetrepublik Georgien und bezeichnete Stalin als „großrussischen Chauvinisten“. Eine seiner letzten politischen Handlungen bestand darin, Stalin im März 1923 mit dem Abbruch aller persönlichen Beziehungen zu drohen. Doch nur einen Tag später erlitt er einen Schlaganfall, der sein politisches Leben beendete. Am 21. Januar 1924 starb Lenin.

Im Oktober 1923 ließ die Kommunistische Partei Deutschlands eine weitere große revolutionäre Gelegenheit ungenutzt verstreichen. Auch in Bulgarien wurde ein Fehler mit weitreichenden Folgen begangen. Diese Niederlagen galten weithin als das Ende der revolutionären Umwälzungen in Mittel- und Westeuropa, die in Russland sechs Jahre zuvor begonnen hatten. Innerhalb der Kommunistischen Partei Russlands und großer Teile der Arbeiterklasse schwand das Vertrauen in die Möglichkeit, dass eine siegreiche Revolution in einem großen kapitalistischen Land die Isolierung Russlands beenden und Ressourcen für den Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft bereitstellen würde.

Da Lenin nicht mehr lebte, war Leo Trotzki, der mehr als jeder andere Führer das Band zwischen dem Oktober und der sozialistischen Weltrevolution personifizierte, innerhalb der russischen Kommunistischen Partei zunehmend isoliert. Das Erscheinen der Schrift Lehren des Oktober im Herbst 1924, in der er – als Führer des Aufstands – die der Machteroberung vorangehenden Auseinandersetzungen innerhalb der Bolschewistischen Partei bilanzierte, rief einen gehässigen politischen Angriff auf Trotzki und die Theorie der permanenten Revolution hervor. Er beschränkte sich nicht darauf, dass Trotzkis zentraler Beitrag zur Organisation und zum Erfolg des Aufstands und zum nachfolgenden Sieg der Roten Armee über die konterrevolutionären Kräfte geleugnet wurde. Seine Feinde im Politbüro der Kommunistischen Partei – vor allem Kamenew, Sinowjew und Stalin – behaupteten, die Theorie der Permanenten Revolution sei eine Revision dessen, was nunmehr als „Leninismus“ bezeichnet wurde, und habe nicht das Geringste mit der Strategie zu tun, die die Bolschewistische Partei bei der Vorbereitung des Kampfs um die Macht verfolgt habe.

Lenins politischer Kampf gegen die Linie Kamenews und Stalins im April 1917 wurde als geringfügige Meinungsverschiedenheit abgetan. Die Perspektive, die Lenin mit seinen Aprilthesen einführte, habe sich logisch aus dem alten bolschewistischen Programm der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft ergeben und nichts mit den Konzeptionen von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution gemein.

Die Ära der „Großen Lüge“ hatte begonnen. Im November 1924 initiierte Kamenew in einem langen Bericht mit dem Titel Trotzkismus oder Leninismus die zügellose Verfälschung der Geschichte, mit der Trotzki diskreditiert und verteufelt wurde. Sie sollte zum Hauptmerkmal des politischen Lebens in der Sowjetunion werden. Trotzki, so Kamenew,

verstand die Grundlagen der Leninschen Theorie über die Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in der russischen Revolution nicht. Er verstand dies selbst nach dem Oktober nicht, und verstand es an jedem Wendepunkt unserer Partei nicht, wenn sie manövrierte, um die Diktatur des Proletariats ohne einen Bruch mit der Bauernschaft zu erreichen. An einem solchen Verständnis wurde er durch seine eigene Theorie gehindert, die in seinen Augen „völlig bestätigt“ wurde. Wenn sich Trotzkis Theorie als richtig erwiesen hätte, dann gäbe es in Russland schon lange keine Sowjetmacht mehr. [23]

Der politische und theoretische Kern von Kamenews Angriff auf Trotzki und seine Theorie der permanenten Revolution bestand in dem Bestreben, die national orientierte Perspektive, die im Jahr 1917 abgelehnt worden war, im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik wiederherzustellen. Kamenews Angriff richtete sich insbesondere gegen Trotzkis Festhalten daran, dass die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution gegenüber der nationalen Politik vorrangig war. Kamenews Einwand gegen die Theorie der permanenten Revolution lautete, dass sie „die Arbeiterregierung in Russland völlig von der unmittelbaren proletarischen Revolution im Westen abhängig macht“. [24] Besonders verwerflich an Trotzkis Theorie fand Kamenew, dass sie die Vorstellung kategorisch ablehnte, es könnte „im Rahmen einer nationalen Revolution“ eine Lösung für das Problem der kapitalistischen Entwicklung Russlands geben. [25]

Kamenews Tirade gegen Trotzki im November 1924 ebnete den Weg für Stalins explizit nationalistische Revision der Perspektive und des Programms der Oktoberrevolution im Dezember desselben Jahres. In einem Artikel mit dem Titel „Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten“ verwies Stalin auf Trotzkis Broschüre Unsere Revolution aus dem Jahr 1906. Darin hatte Trotzki geschrieben: „Ohne direkte staatliche Unterstützung durch das europäische Proletariat wird die Arbeiterklasse Russlands nicht imstande sein, die Macht zu behaupten und ihre zeitweilige Herrschaft in eine dauernde sozialistische Diktatur zu verwandeln. Daran darf man nicht einen Augenblick zweifeln.“ Stalin fuhr fort:

Was besagt dieses Zitat? Es besagt, dass der Sieg des Sozialismus in einem Lande, im vorliegenden Falle in Russland, unmöglich ist „ohne direkte staatliche Unterstützung durch das europäische Proletariat“, das heißt vor der Machteroberung durch das europäische Proletariat.

Was hat diese „Theorie“ mit dem Satze Lenins von der Möglichkeit des Sieges des Sozialismus „in einem einzeln genommenen kapitalistischen Lande“ gemein?

Es ist klar, dass es hier nichts Gemeinsames gibt. [26]

Stalin ersetzte den revolutionären Internationalismus durch einen nationalen Messianismus, den er in folgendem Vorwurf zusammenfasste:

Unglaube an die Kräfte und Fähigkeiten unserer Revolution, Unglaube an die Kräfte und Fähigkeiten des russischen Proletariats – das ist die Grundlage der Theorie der „permanenten Revolution“. [27]

Der Angriff auf Trotzki 1924 und die Ablehnung der Theorie der Permanenten Revolution bedeuteten ein Wiederaufleben der nationalistischen Tendenzen, die Lenin bekämpft hatte, als es ihm darum ging, die Anpassung der Partei an die Vaterlandsverteidigung zu durchbrechen und sie auf einen internationalen revolutionären Kampf gegen den imperialistischen Krieg zu orientieren. Das nun verbreitete Programm vom Sozialismus in einem Land war ein entscheidender Schritt zur Entfremdung der Sowjetunion von der sozialistischen Revolution, aus der sie hervorgegangen war. Wie Trotzki gewarnt hatte, wurde das Schicksal der Sowjetunion durch diese nationalistische Regression – die in der schnell wachsenden bürokratischen Elite Anklang fand – vom Kampf für den Weltsozialismus getrennt. Die Kommunistische Internationale, die 1919 als strategisches Hauptquartier der internationalen sozialistischen Revolution gegründet worden war, wurde zum Anhängsel der konterrevolutionären Außenpolitik der Sowjetunion degradiert. Trotzkis Ausweisung aus der Sowjetunion im Jahr 1929 symbolisiert den Bruch zwischen dem bürokratischen Regime und der sozialistischen Weltrevolution. Von seinem verbarrikadierten Büro im Kreml aus regierte Stalin den Nationalstaat mit Hilfe der Geheimpolizei. Im Exil jedoch führte und inspirierte Leo Trotzki den fortschreitenden historischen Prozess der sozialistischen Weltrevolution mit weitaus stärkeren Waffen: seinen Ideen und seiner Feder.

* * * * *

Stalins verräterische und irregeleitete Politik führte in den 1930er Jahren zu verheerenden Niederlagen der Arbeiterklasse in Deutschland, Frankreich, Spanien und vielen anderen Ländern.

Innerhalb der Sowjetunion fiel der konterrevolutionären nationalistischen Reaktion die ganze Generation marxistischer Arbeiter, Parteiaktivisten sowie revolutionärer Intellektueller und Künstler zum Opfer, die politisch auf der Grundlage des sozialistischen Internationalismus ausgebildet worden war. Die Moskauer Prozesse und der Große Terror zwischen 1936 und 1940 waren ein politischer Völkermord, der auf die physische Vernichtung all jener abzielte, die mit dem internationalistischen Programm und der Kultur identifiziert wurden, auf denen die Gründung des sowjetischen Staates beruht hatte.

Es ist sehr wichtig, die Beziehung zwischen der Oktoberrevolution 1917 und der Sowjetunion zu verstehen. Letztere ging aus Ersterer hervor. Aber die Oktoberrevolution und der sowjetische Staat waren keine gleichrangigen Phänomene. Die Oktoberrevolution markierte den Anbruch der historischen Epoche der sozialistischen Weltrevolution. In dieser Epoche war die Geschichte des sowjetischen Staats eine wichtige Episode. Die Unterscheidung zwischen der Oktoberrevolution als Ausdruck einer Epoche und der Gründung des Sowjetstaats als spezifische politische Episode schlug sich auch in der politischen Sprache nieder. Im Zusammenhang mit dem künftigen Sturz des kapitalistischen Systems in ihren eigenen Ländern sprachen Revolutionäre nicht von ihrer „Sowjetunion“, sondern von ihrem bevorstehenden „Oktober“.

Natürlich brachte die Revolution der Sowjetunion enorme Errungenschaften. Das ehemalige Russische Reich wurde durch die Oktoberrevolution von Grund auf verwandelt. Vor der Revolution waren etwa 80 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Nach deutlich weniger als einer Generation war der Analphabetismus praktisch überwunden. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel, ein Ergebnis der Oktoberrevolution, ermöglichte wirtschaftliche Fortschritte. Die 74-jährige Geschichte der Sowjetunion hat bewiesen, dass es möglich ist, auf nichtkapitalistischer Grundlage eine moderne Gesellschaft aufzubauen.

Doch die Sowjetunion war keine sozialistische Gesellschaft. Wie Trotzki in Verratene Revolution erklärt, war der Sowjetstaat ein Übergangsregime, zwischen Kapitalismus und Sozialismus, dessen Schicksal noch nicht entschieden war. Die nationalistische Politik Stalins, die mit brutalem Terror durchgesetzt wurde, war ein Hohn auf sozialistische Planung, die eine demokratische Kontrolle der Arbeiter über Entscheidungsprozesse voraussetzt. Was Trotzki als den „unverantwortlichen Despotismus der Bürokratie über das Volk“ bezeichnete, führte zu einer schrecklichen Vergeudung von Menschenleben, die ebenso unnötig wie brutal war, und zu einer grotesken Vergeudung materieller Ressourcen.

Die stalinistische Bürokratie, die die politische Macht usurpiert hatte und ihre Kontrolle über die staatlichen Repressionsorgane nutzte, um sich eine privilegierte Stellung innerhalb der Gesellschaft zu sichern, verstieß gegen die elementarsten sozialistischen Gleichheitsgrundsätze. Stalin, der persönlich die Folter und Ermordung seiner ehemaligen Genossen und unzähliger marxistischer Revolutionäre anordnete und leitete, zählt zu den schlimmsten Verbrechern der Menschheitsgeschichte.

Die Vierte Internationale, die 1938 von Leo Trotzki gegründet wurde, verteidigte alle sozialen Errungenschaften, die auf die Oktoberrevolution zurückgingen. Aber die Verteidigung dieser Errungenschaften – das heißt, der Elemente des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts, die durch die Revolution ermöglicht worden waren – beruhte auf einer unerbittlichen Opposition gegen das stalinistische Regime und auf dem Kampf für seinen Sturz.

* * * * *

Der 100. Jahrestag, den wir feiern, gilt der sozialistischen Weltrevolution. Sie bildet den historischen Kontext, in dem wir die umwälzenden Ereignisse von Februar bis Oktober 1917 in Russland untersuchen und erklären. Unsere Vorträge sind ein wichtiges politisches und theoretisches Gegenmittel gegen die Flut an Verfälschungen und Verleumdungen, die von reaktionären Akademikern und den antisozialistischen Massenmedien verbreitet werden.

Die Auflösung der UdSSR 1991 wurde als großartiger Triumph des Weltkapitalismus gefeiert. Endlich war dem Gespenst des Kommunismus und Sozialismus der Garaus gemacht. Das Ende der Geschichte war gekommen! Die Oktoberrevolution hatte im Ruin geendet! Diese vollmundigen Prahlereien standen natürlich nicht im Einklang mit einer sorgfältigen Untersuchung der Ereignisse in den 74 Jahren seit der Revolution. Die enormen Errungenschaften der Sowjetunion wurden mit keinem Wort erwähnt. Dazu zählten nicht nur ihre entscheidenden Beiträge zum Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg, sondern auch die gewaltigen Fortschritte für die sowjetische Bevölkerung in sozialer und kultureller Hinsicht.

Abgesehen von den Versuchen, jede Erinnerung an die sowjetischen Errungenschaften aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen, besteht die wesentliche Fälschung der Geschichte des 20. Jahrhunderts darin, das Schicksal des Sozialismus auf der Grundlage eines nationalistischen Narrativs der Oktoberrevolution zu definieren. Dabei wird die bolschewistische Machtergreifung als ein abartiges, unrechtmäßiges, ja sogar verbrecherisches Ereignis der russischen Geschichte dargestellt. Die ursprüngliche bolschewistische Konzeption des Oktobers muss dabei entweder ins Lächerliche gezogen oder ignoriert werden. Unter keinen Umständen darf der Oktoberrevolution eine bleibende historische und politische Bedeutung zugestanden werden.

Dieses reaktionäre Narrativ, das der Oktoberrevolution jede Legitimität und Relevanz abspricht, steht und fällt jedoch mit einer nicht unerheblichen Kleinigkeit: dass das kapitalistische Weltsystem die Widersprüche und Krisen, die im 20. Jahrhundert zu Krieg und Revolution führten, überwunden hat.

Und genau an diesem Punkt scheitern alle Bemühungen, die Oktoberrevolution und mit ihr alle zukünftigen Bestrebungen zur Verwirklichung des Sozialismus zu diskreditieren. Die 25 Jahre, die seit der Auflösung der UdSSR vergangen sind, waren durch eine ständige Verschärfung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise gekennzeichnet. Wir leben in einem Zeitalter unaufhörlicher Kriege. Die Anzahl der Menschenleben, die seit der US-Invasion im Irak 1991 amerikanischen Bomben und Raketen zum Opfer fielen, übersteigt bei Weitem 1 Million. Die Zuspitzung der geopolitischen Konflikte lässt den Ausbruch eines dritten Weltkrieges zunehmend unvermeidlich erscheinen.

Die Wirtschaftskrise von 2008 hat gezeigt, wie brüchig das kapitalistische Weltsystem ist. Die Ungleichheit, die so stark ausgeprägt ist wie seit 100 Jahren nicht mehr, treibt die gesellschaftlichen Spannungen auf die Spitze. Die drei reichsten Menschen in den USA besitzen, wie kürzlich bekannt wurde, mehr Vermögen als die unteren 50 Prozent der Bevölkerung zusammengenommen. Die Reichen sind nicht nur „anders“. Sie leben regelrecht auf einem anderen Planeten, unendlich weit entfernt von der alltäglichen Realität der großen Masse.

Die Reichen wissen selbst, dass dieser Zustand nicht ewig andauern kann. Zu tief sind die Ideen und Ideale der sozialen Gleichheit und demokratischen Rechte im Bewusstsein der Massen verankert. Da die traditionellen Institutionen der bürgerlichen Demokratie dem Druck der eskalierenden gesellschaftlichen Konflikte nicht standhalten, schalten die herrschenden Eliten immer offener auf autoritäre Herrschaftsformen um. Die Trump-Regierung ist nur ein besonders abstoßendes Beispiel für den allgemeinen Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie. Immer deutlicher tritt die Rolle des Militärs, der Polizei und der Geheimdienste als maßgebliche Kräfte im kapitalistischen Staat zutage.

In diesem Jubiläumsjahr sind unzählige Artikel und Bücher erschienen, die darauf abzielen, die Oktoberrevolution in Verruf zu bringen. Aber die lauthals verkündete „Irrelevanz“ des Oktobers wird durch den hysterischen Tonfall ihrer Herolde widerlegt. Für sie ist die Oktoberrevolution unverkennbar kein Ereignis der Vergangenheit, sondern eine fortdauernde und bedrohliche aktuelle Gefahr.

Welche Furcht sich hinter dem Wettern gegen die Oktoberrevolution verbirgt, zeigte sich auch in einem kürzlich veröffentlichten Buch eines führenden akademischen Spezialisten für Geschichtsfälschung, Professor Sean McMeekin. Er schreibt:

Mit dem Leninismus verhält es sich leider wie mit den Atombomben, einem weiteren Ergebnis des ideologischen Zeitalters, das 1917 begann: Einmal erfunden, ist er nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die soziale Ungleichheit wird uns immer begleiten und damit auch die wohlmeinenden Bestrebungen von Sozialisten, sie abzuschaffen … Wenn uns die letzten hundert Jahre eins gelehrt haben, dann dies: dass wir uns besser wappnen und bewaffneten Propheten, die eine perfekte Gesellschaft versprechen, Widerstand entgegensetzen sollten. [28]

In einem Essay, der im Oktober in der New York Times erschien, warnt der Kolumnist Bret Stephens:

Man kann absehen, wohin es führt, wenn der Kapitalismus und die Finanzindustrie kriminalisiert werden … Auch ein Jahrhundert später ist der Bazillus [des Sozialismus] noch nicht besiegt, und wir sind noch immer nicht immun dagegen.

Zum 100. Jubiläum der Oktoberrevolution nimmt die antimarxistische Hysterie der herrschenden Eliten einen dezidiert mörderischen Charakter an. Die New York Times ließ schließlich die Mär von der Bedeutungslosigkeit des Sozialismus fallen und veröffentlichte eine Kolumne von Simon Sebag Montefiore, Autor einer ehrfürchtigen Stalin-Biographie. Er schrieb:

Die Oktoberrevolution, die Wladimir Lenin vor genau einem Jahrhundert organisierte, ist heute noch in einer Art und Weise relevant, die unvorstellbar schien, als die Sowjetunion zusammenbrach …

Noch nach einhundert Jahren hallen diese Ereignisse nach, ziehen Menschen in ihren Bann, und der Oktober 1917 erhebt sich vor uns in seiner epischen, mythischen, betörenden Gestalt. Seine Auswirkungen waren so gewaltig, dass man sich kaum vorstellen kann, dass es ihn so nicht gegeben hätte ...

Die [Provisorische] Regierung hätte ihn [Lenin] aufspüren und töten sollen, hat dies aber versäumt. Er setzte sich durch. [29]

In dieser Aussage, veröffentlicht in der einflussreichsten amerikanischen Zeitung, ist der Unterschied zwischen liberalem Antikommunismus und Faschismus praktisch aufgehoben. Lenin, der populäre Führer einer Massenbewegung der Arbeiterklasse, hätte ermordet werden sollen. Man hätte mit ihm, schreibt Montefiore mit dem Segen der liberalen Herausgeber der New York Times, ebenso verfahren müssen wie die Faschisten mit Luxemburg und Liebknecht. Was bedeutet das? In dem Maße, in dem der Sozialismus den Kapitalismus bedroht, sollen die Führer sozialistischer Bewegungen gejagt und getötet werden. Das war‘s dann wohl mit dem „Ende der Geschichte“ und dem Triumph der liberalen Demokratie!

Aussagen wie jene Montefiores zeigen nicht nur, wie tief die Verteidiger der bürgerlichen Gesellschaft moralisch gesunken sind, sondern werfen auch ein bezeichnendes Licht auf ihre Demoralisierung und Verzweiflung.

So sehr sie sich auch abgemüht haben, den Marxismus, Sozialismus und Kommunismus schlecht zu machen, die arbeitende Bevölkerung sehnt sich weiterhin nach einer Alternative zum Kapitalismus. Aus einer kürzlich veröffentlichten Umfrage geht hervor, dass die Mehrheit der seit 1990 in Amerika geborenen jungen Menschen lieber in einer sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft als in einem kapitalistischen Staat leben würde.

Franz Mehring hatte Recht. Revolutionen haben einen langen Atem. Die Oktoberrevolution lebt nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart fort.

* * * * *

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale begeht den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution, indem es das ganze Jahr über intensiv ihre Ursprünge studiert und über ihre Bedeutung aufgeklärt hat. Diese wichtige historische Arbeit leistet es als die einzige politische Tendenz auf der Welt, die das Programm des internationalen Sozialismus verkörpert, auf das sich die Oktoberrevolution stützte.

Das Programm der sozialistischen Weltrevolution wird heute von der Vierten Internationale verkörpert. In der gegenwärtigen Periode der unlösbaren kapitalistischen Krise gewinnt dieses Programm erneut größte Bedeutung.

Wir rufen Arbeiter und Jugendliche auf der ganzen Welt auf, sich dem Kampf für den Weltsozialismus anzuschließen.

Es lebe das Vorbild der Oktoberrevolution!

Es lebe das Internationale Komitee der Vierten Internationale!

Vorwärts zum Sieg der sozialistischen Weltrevolution!

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Anmerkungen:

[1] „Neujahr 1918“, in Franz Mehring Gesammelte Schriften, Band 15 (Berlin: Dietz Verlag, 1977), S. 759.

[2] Zitiert von Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht. Das erste Jahr, Mehring Verlag, Essen 2007, S. 35.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 37ff

[6] Tagung des Petersburger Komitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki), 1. (14.) November 1917, zitiert von Leo Trotzki in „Die Stalinsche Schule der Fälschung“ in englischer Sprache abrufbar unter: https://www.marxists.org/archive/trotsky/1937/ssf/sf08.htm

[7] Ebd.

[8] Ebd. Die eingeklammerten Teile sind der veröffentlichten Transkription entnommen.

[9] Ebd.

[10] Leo Trotzki, „Introduction to Ferdinand Lassalle’s Speech to the Jury“ (“Einleitung zu Ferdinand Lassalles Rede vor den Geschworenen”) in: Richard B. Day und Daniel Gaido (Hrsg.), Witnesses to Permanent Revolution, Leiden und Boston: Brill, 2009, S. 444-445 [aus dem Englischen].

[11] Lenin, Werke, Dietz Verlag, Berlin 1959, Bd. 24, S. 215.

[12] Ebd., S. 238.

[13] Lenin, Krieg und Revolution, in: Werke, Dietz Verlag, Berlin 1959, Bd. 24, S. 418f.

[14] Lenin, Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?, in: Werke, Dietz Verlag, Berlin 1959, Bd. 26, S. 103.

[15] Ebd. S. 102f.

[16] https://www.theguardian.com/world/2017/nov/06/revolution-what-revolution-russians-show-little-interest-in-1917-centenary

[17] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil1.htm

[18] The “Russian” Civil Wars 1916-1926: Ten Years That Shook the World (Oxford: University Press, 2017), S. 131 [aus dem Englischen].

[19] Leon Trotsky and the Art of Insurrection 1905-1917 (London: Frank Cass, 1988), S. 63-64 [aus dem Englischen].

[20] The Trotsky Papers 1917-1922, Volume I, bearbeitet und annotiert von Jan M. Meijer (Den Haag: Mouton & Co., 1964), S. 623-625 [aus dem Englischen].

[21] The First Five Years of the Communist International, Bd. 2 (London: New Park, 1974), S. 2-4 [aus dem Englischen. Das Dokument fehlt in der deutschen Ausgabe].

[22] Ebd., S. 7.

[23] Trotsky’s Challenge: The “Literary Discussion” of 1924 and the Fight for the Bolshevik Revolution, herausgegeben, annotiert und eingeleitet von Frederick C. Corney (Chicago: Haymarket, 2017), S. 244 [aus dem Englischen].

[24] Ebd.

[25] Ebd.

[26] Ebd., S. 442.

[27] Ebd., S. 447.

[28] The Russian Revolution: A New History (New York: Basic Books, 2017 [aus dem Englischen].

[29] https://www.nytimes.com/2017/11/06/opinion/russian-revolution-october.html

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