Die Linkspartei reagiert auf die tiefe politische Krise in Berlin mit einer scharfen Wende nach rechts. Wie die Grünen tritt sie nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen als staatstragende Kraft auf. Sie beteiligt sich am politischen Geschacher hinter den Kulissen mit dem Ziel, zügig eine neue Bundesregierung zu bilden und jede soziale und politische Opposition zu ersticken.
Nach einem Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) im Schloss Bellevue, dessen Inhalt geheim blieb, machten die beiden Fraktionsvorsitzenden der Linken, Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht, am Montagabend deutlich, dass sie auch bereit sind, eine Regierung unter Führung von Kanzlerin Merkel (CDU) zu unterstützen. „Fakt ist: letztlich liegt der Ball bei Angela Merkel“, gab Bartsch in einem gemeinsamen Videostatement mit Wagenknecht zu Protokoll. „Entweder sie schafft es, eine Regierung zu bilden, oder sie sollte nicht wieder als Kanzlerkandidatin antreten“.
Seiner Ansicht nach gebe es „zwei Optionen“: eine Minderheitsregierung, die er „durchaus spannend“ fände, „weil dann zu bestimmten Fragen auch andere Mehrheiten im deutschen Bundestag gebildet werden könnten“, oder eine Neuauflage der Großen Koalition. Die letztere Variante sei „auch möglich“. Aber man möge „bitte zügig zu Entscheidungen kommen, denn der jetzige Zustand“ führe dazu, „dass die Politikverdrossenheit bei vielen Menschen größer wird“.
Wagenknecht äußerte sich ähnlich. Das Gespräch mit Steinmeier sei „sehr interessant und konstruktiv“ gewesen. Man habe sich „über die politische Situation“ ausgetauscht. Sie und Bartsch hätten ihre Sorge kundgetan, „dass eine noch längere Hängepartie noch mehr Menschen dazu bringt, dass sie sich von der Politik abwenden, dass sie sich nicht mehr vertreten fühlen“. In diesem Sinne habe sich das Treffen sicherlich gelohnt, „aber die entscheidenden Schritte müssen jetzt andere machen“.
Angesichts des wachsenden sozialen Protests – allein in der letzten Woche demonstrierten tausende Arbeiter bei Siemens, Air Berlin und ThyssenKrupp gegen Massenentlassungen und Werksschließungen – will Die Linke um jeden Preis verhindern, dass sich eine unabhängige Bewegung gegen das kapitalistische System entwickelt. Neuwahlen, wie sie die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) fordert, um für eine sozialistische Perspektive in der Arbeiterklasse zu kämpfen, fürchtet sie wie der Teufel das Weihwasser. Stattdessen signalisiert sie den Herrschenden, dass sie auch auf Bundesebene bereit steht, in einer rechten kapitalistischen Regierung Verantwortung zu übernehmen.
Vor dem Treffen mit Steinmeier betonte Bartsch in einem Interview mit dem Südwestrundfunk (SWR), dass sich Die Linke „im Gegensatz zu anderen nie verweigert“ und auch immer gesagt habe: „Ja wir sind bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen.“ Im Bundestag gebe es „Mehrheiten für bestimmte Fragen, die die bisherigen Grenzen deutlich überschreiten“. Bei der Bildung einer möglichen Minderheitsregierung sei „es vernünftig und sinnvoll, wenn man die Parteien, die gegebenenfalls auch vernünftige Entscheidungen mittragen, konsultiert“.
Ginge es nach Bartsch, würde er eher heute als morgen mit dem Regieren beginnen. Und das nicht nur im Bündnis mit der SPD und den Grünen, sondern auch mit der neoliberalen FDP.
Er sei „dafür, dass wir die jetzige Situation nutzen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso der deutsche Bundestag nicht mit dem Arbeiten beginnt“, polterte Bartsch. Zum Beispiel gebe es „eine Mehrheit im deutschen Bundestag für die Aufhebung des Kooperationsverbots [im Bildungsbereich]. Da sind die FDP, die SPD, die Grünen und wir dafür. Warum entscheiden wir das jetzt nicht?“
Es gebe „weitere Punkte“, und er sei „bereit dafür, zu beginnen“. Und er sei auch „jemand, der sagt, eine Minderheitsregierung würde in Deutschland auch Möglichkeiten eröffnen“.
Die „Möglichkeiten“, die Bartsch in der Bildung einer Minderheitsregierung sieht, werden auch von einflussreichen Kreisen der herrschenden Klasse intensiv diskutiert. So preist etwa die Wochenendausgabe des Handelsblatts in ihrer Titelstory zur „Krise in Berlin“ die „lange Tradition“ von Minderheitsregierungen in Skandinavien. In Schweden, Dänemark und Norwegen zählten „Kabinette ohne parlamentarische Mehrheiten sogar zum Regelfall“. Gegenwärtig seien „die schwedischen Sozialdemokraten, die maßgeblich für den Aufbau des schwedischen Wohlfahrtsstaates verantwortlich waren […] zusammen mit ihrem grünen Koalitionspartner auch auf die Unterstützung der sozialistischen Linkspartei angewiesen“.
Auch in Dänemark und Norwegen hätten „in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls Minderheitsregierungen den politischen Alltag“ bestimmt und dennoch „erfolgreich agiert“, berichtet das Sprachrohr der deutschen Wirtschaft weiter. In Norwegen etwa „führte der damalige Ministerpräsident Kjell Magne Bondevik eine umfassende Rentenreform durch“, und „auch in Dänemark gelang dem Sozialdemokraten Poul Nyrup Rasmussen ohne eigene Mehrheit die Sanierung der Staatsfinanzen“. Sein Nachfolger und spätere Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, habe ebenfalls ohne parlamentarische Mehrheit regiert und „trotzdem so umstrittene Beschlüsse wie die Teilnahme Dänemarks am Irak-Krieg im Parlament durchgebracht“.
Wie in Skandinavien wäre die Bildung einer Minderheitsregierung auch für die herrschende Klasse in Deutschland ein Mechanismus, um die extreme Rechte in die Regierungspolitik zu integrieren. So stützt sich etwa die Mitte-Rechts-Koalition in Dänemark auf die rechtspopulistische Dansk Folkeparti (DF), die dänische Schwesterpartei der AfD. Führende Vertreter der AfD bieten sich für eine ähnliche Rolle an. Die stellvertretende Vorsitzende der AfD, Beatrix von Storch, erklärte gestern in einem Interview mit der Osnabrücker Zeitung, dass ihre Partei im Bundestag „natürlich keine Obstruktion“ betreiben und Vorlagen der Bundesregierung zustimmen werde, „wenn sie im Interesse Deutschlands sind“.
Die Linkspartei weiß, dass die von ihr unterstützte Verschwörung zur Vorbereitung einer extrem rechten, militaristischen und arbeiterfeindlichen Regierung heftige Klassenkämpfe auf die Tagesordnung setzt. Überall wo sie in den Bundesländern zusammen mit der SPD und den Grünen regiert, arbeitet sie deshalb fieberhaft daran, mehr Polizeikräfte einzustellen und diese möglichst schwer zu bewaffnen.
Am Wochenende beschloss die Thüringer Linkspartei auf ihrem Landesparteitag in Ilmenau, „die Sicherheit im ländlichen Raum“ unter anderem mit der Einrichtung einer Online-Wache und mehr Polizisten zu stärken. Einem mit großer Mehrheit angenommenen Antrag zufolge sollen mehr als 200 neue Polizeianwärter pro Jahr eingestellt werden.
Zudem berichtete das Internetmagazin Vice am Montag, dass der deutsche Waffenhersteller SIG Sauer im Dezember 415 vollautomatische Sturmgewehre vom Typ MCX an die Berliner Polizei ausliefern werde. Das rot-rot-grün regierte Berlin gehöre damit „jetzt auch zum wachsenden Klub der Länderpolizeien, die sich mit modernen Kriegswaffen ausstatten“.