Diese Woche in der Russischen Revolution

11.–17. Dezember: Die Weißen nehmen Rostow ein

Nach sechs Tagen erbitterter Kämpfe besiegt eine Freiwilligenarmee unter dem Befehl des konterrevolutionären Generals Kaledin die Kampfeinheiten der Roten Garden und nimmt Rostow, eine große Industriestadt im Süden Russlands, ein. Gleichzeitig wird in der bolschewistischen Führung ein Streit über die Frage der Konstituierenden Versammlung ausgefochten.

Wladiwostok, 11. Dezember: Japanische Armee besetzt strategisch wichtigen Hafen

Im Ausland wird an diesem Tag berichtet, japanische Kräfte hätten den Bahnhof von Wladiwostok besetzt. Er ist sowohl Tor zu einem wichtigen Frachthafen als auch östlicher Endpunkt der Transsibirischen Eisenbahn. „Die Bedeutung dieser Aktion an diesem Knotenpunkt kann nicht überschätzt werden“, triumphiert die New York Times am 11. Dezember.

„Das bedeutet, dass die großen Mengen an Nachschub, die die Provisorische Regierung in Wladiwostok aufgehäuft hat, nicht in die Hände der Bolschwewiki fallen, die ein Auge auf sie geworfen haben, um sie im Bürgerkrieg einsetzen zu können, der von der bolschewistischen Regierung in ganz Russland beschleunigt wird, um einen Separatfrieden mit den Zentralmächten zu schließen.“

Zu dem Nachschub gehören Eisenbahnwaggons, große Mengen Munition, von den USA auf russische Kredite für den Einsatz im Großen Krieg gelieferte Lokomotiven. Die New York Times begrüßt das Vorgehen der japanischen Armee unter der Maßgabe, dass die eroberten Materialien unter keinen Umständen in die Hände der Bolschewiki fallen, die sie im Kampf gegen die Weißen einsetzen könnten, die von Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten unterstützt werden.

Im russischen Bürgerkrieg wird Wladiwostok als Hauptquartier imperialistischer und konterrevolutionärer Intrigen und Feldzüge gegen die Sowjetregierung dienen, zum Beispiel für die Sibirische Expedition.

San Antonio (Texas), 11. Dezember: Dreizehn farbige Soldaten nach Kriegsgerichtsurteil hingerichtet

In den frühen Morgenstunden werden dreizehn afroamerikanische Soldaten auf einer Militärbasis in der Nähe von San Antonio gehenkt. Weitere sechs werden ihnen an den Galgen folgen. 41 werden zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie gehören zu einer Gruppe von 150 Männern, die am 23. August in Houston gegen rassistische Misshandlungen rebelliert haben.

Ein Kriegsgericht hat die Männer jetzt wegen ihrer Rolle bei dieser Meuterei verurteilt. Nach systematischen rassistischen Misshandlungen sind die Soldaten unter Waffen in die Stadt marschiert. Zuvor wurde ein Kamerad mit Pistolen verprügelt. Bei den darauf folgenden Kämpfen sterben in Houston 16 Polizisten und Zivilisten.

Während im Süden viele Hinrichtungen schwarzer Männer öffentlich sind, wird diese Massenhinrichtung im Dunkel der Nacht an einem unbekannten Ort vollzogen, ohne Öffentlichkeit und mit nur wenigen Zeugen. Die Wilson-Regierung sorgt dafür, dass die meuternden Soldaten nicht von den Behörden in Texas, sondern von einem Militärtribunal abgeurteilt werden.

Das Schweigen ist beabsichtigt. Wilsons „Krieg für die Demokratie“ trieft vor Heuchelei, besonders was die 350.000 eingezogenen Afroamerikaner betrifft. Sie werden in Einheiten gesteckt, in denen strenge Rassentrennung herrscht. In Städten im Süden wie Houston, die von Rassendiskriminierung geprägt sind, ist die Ungerechtigkeit für Schwarze besonders ausgeprägt. Im so genannten „Jim Crow Süden“ wird das Regime der Rassentrennung mit all seiner täglichen Erniedrigung durch brutale Gewalt durchgesetzt, und es kommt jedes Jahr zu Dutzenden Lynchmorden.

Jerusalem, 11. Dezember: Britische Truppen vertreiben Osmanen und erobern die Stadt

General Edmund Allenby führt Einheiten der britischen Ägyptischen Expeditionsgruppe (EEF) zu Fuß durch das Jaffa-Tor in die Altstadt. Nach zweiwöchigen harten Kämpfen nimmt Großbritannien die Stadt am 9. Dezember der osmanischen Armee-Gruppe Yildirim ab.

Die Einnahme der Stadt ist Teil eines größeren Vorstoßes britischer und alliierter Kräfte seit Anfang November. Ende Oktober ist die osmanische Linie Gaza–Be’er Scheva durchbrochen worden. Der eigentliche Kampf um die Stadt hat am 17. November mit dem Vorrücken der britischen Kräfte in die judäischen Berge begonnen. Am 9. Dezember hat das EEF die Stadt eingekreist.

Am Abend des 9. Dezember haben die osmanischen Kräfte die Stadt übergeben. In ihrer Kapitulationserklärung heißt es: „Angesichts der Härte der Belagerung der Stadt und des Leids, das dieses friedliche Land durch Ihre großen Kanonen erlitten hat, und aufgrund der Befürchtung, dass diese tödlichen Bomben die heiligen Stätten zerstören könnten, sehen wir uns gezwungen, Jerusalems Bürgermeister Hussein al-Husseini anzuweisen, dass er die Stadt an Sie übergibt. Wir hoffen, dass Sie Jerusalem so schützen werden, wie wir das mehr als 500 Jahre lang getan haben.“

Der britische Premierminister David Lloyd George bezeichnet die Einnahme Jerusalems als „Weihnachtsgeschenk an das britische Volk“. Zehntausende haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Die Gesamtzahl der Opfer beim Vormarsch auf Jerusalem, von der Einnahme Be’er Schevas an gerechnet, beläuft sich auf 43.000 Soldaten (18.000 auf britischer und 25.000 auf osmanischer Seite). Allein vom 25. November bis zum 10. Dezember, während der eigentlichen Kämpfe um die Stadt, verlieren die Briten 1.667 Mann.

Der Vormarsch britischer und kolonialer Truppen versetzt sie in die Lage, eine strategisch wichtige Linie vom Mittelmeer bis fast zum Toten Meer zu halten. Das Tote Meer wird im Februar 1918 erreicht. Diese Linie wird bis zum Beginn einer großen Offensive zur Eroberung von Damaskus und Beirut im September 1918 gehalten.

Petrograd, 11. Dezember (28. November): Ende des ersten Parteitags der Linken Sozialrevolutionäre

In Petrograd endet der erste nationale Parteitag der Linken Sozialrevolutionäre, die sich nach Monaten erbitterter interner Kämpfe von der Partei der Sozialrevolutionäre abgespalten haben. Ihre Gründungsversammlung hat neun Tage gedauert. Die Linken Sozialrevolutionäre führen intensive Verhandlungen mit den Bolschewiki über die Bildung einer Koalitionsregierung. Während sie die Sowjetmacht unterstützen, sind die Linken Sozialrevolutionäre nicht mit Schritten der Bolschewiki gegen die Petrograder Stadtduma einverstanden und lehnen auch andre Maßnahmen im Kampf gegen die Konterrevolution ab.

Ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung des Parteitags ist die Haltung zur Konstituierenden Versammlung. Im Verlauf einer Diskussion über die „aktuelle Lage“ erklärt Jekaterina Kaz, dass „die Konstituierende Versammlung den Willen und die Taktik der Sowjets berücksichtigen muss. Insoweit sich die Konstituierende Versammlung diesem Willen widersetzt, werden wir sie nicht unterstützen, und davon wird uns kein Fetisch abbringen.“ Ein anderer Delegierter, Prosch Proschjan, erklärt: „Wenn wir sehen und glauben, dass die sozialistische Revolution begonnen hat, dann muss die Staatsmacht den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten gehören … [E]s liegt auf der Hand, dass wir nicht unsere Waffen niederlegen und der Konstituierenden Versammlung die Staatsmacht zurückgeben können … [W]enn die Konstituierende Versammlung zu ihrem Auftakt versucht, die Staatmacht an sich zu reißen … dann werden wir das nicht zulassen.“

Ihnen gegenüber steht ein moderaterer Flügel unter Führung von Steinberg, Karelin und Kamkow. Sie argumentieren, dass die Konstituierende Versammlung in der Bevölkerung immer noch beträchtliche Unterstützung genieße. Sie solle deshalb einberufen werden, damit sich vor aller Augen ihre Untauglichkeit erweisen könne. Die meisten Führer der Linken Sozialrevolutionäre sind der Meinung, die Versammlung müsse mit den einmal gewählten Delegierten abgehalten werden. Der Parteitag verabschiedet eine Resolution, die zwischen beiden Positionen einen Kompromiss sucht.

Laut Historiker Alexander Rabinowitch hält diese Resolution „die sofortige Errichtung der Arbeiter- und Bauernmacht für unabdingbar“. Es heißt darin, „dass die Konstituierende Versammlung vollauf unterstützt werden sollte, sofern sie eine solche Macht darstelle und die Grundpositionen des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter- und Bauerndeputierten sowie des Außerordentlichen Sowjetkongresses der Bauerndeputierten vertrete. Sollte die Konstituierende Versammlung hingegen versuchen, die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten als Organe der Staatsmacht zu bekämpfen, so werde dies als Angriff auf die Errungenschaften der Revolution gewertet und entschlossen zurückgeschlagen.“

(Quelle: Alexander Rabinowitch, „Die Sowjetmacht. Das erste Jahr“, Essen 2010, S. 99–100.)

Petrograd, 12. Dezember (29. November): Zentralkomitee der Bolschewiki weigert sich, Kamenew-Fraktion wieder aufzunehmen

In der Führung der Bolschewiki wütet weiterhin ein Konflikt über die Frage der Konstituierenden Versammlung. Auf der einen Seite stehen Lenin und Trotzki, die von der sozialistischen Weltrevolution ausgehen, und auf der anderen eine von Kamenew und Sinowjew geführte Fraktion. Diese strebt danach, in Russland eine „rein sozialistische Regierung“, d.h. eine Koalitionsregierung mit Menschewiki und Sozialrevolutionären, zu schaffen. Schon kurz nach der Oktoberrevolution ist die „gemäßigte“ Fraktion um Kamenew aus dem Zentralkomitee ausgetreten, nachdem sie durch Geheimgespräche mit Menschewiki und Sozialrevolutionären offen gegen die Parteidisziplin verstoßen hatte. Kamenew hatte sogar die Forderung akzeptiert, Lenin und Trotzki aus der neuen Regierung auszuschließen.

Am 12. Dezember (29. November nach altem, julianischem Kalender) befasst sich das Zentralkomitee mit einem Wiederaufnahme-Gesuch von Kamenew, Rykow, Miljutin und Nogin. Das Gesuch, in der Diskussion als „Brief der Vier“ bezeichnet, wird abgelehnt. Moisei Urizki bemerkt, dass die vier ihre Haltung nicht verändert hätten. Das Zentralkomitee habe „keine Garantie, dass sie sich, falls sie in der Minderheit bleiben, nicht wieder genauso verhalten“ wie zuvor.

Kamenews Fraktion unterstützt die Einberufung der Konstituierenden Versammlung. Diese Forderung wird auch von den konterrevolutionären Kadetten erhoben, die gleichzeitig Truppen zusammenziehen, um die Sowjetregierung anzugreifen. Lenin betont, dass die auf die Sowjetmacht gestützte Regierung, die aus der Oktoberrevolution hervorgegangen ist, höher steht und eine fortschrittlichere Regierungsform darstellt als die Konstituierende Versammlung, welche dem nationalen Parlament einer bürgerlichen Republik entspräche. Lenin und Trotzki bestehen darauf, dass das Abtreten der Macht an die Konstituierende Versammlung gleichbedeutend mit einem Rückschritt wäre und die konterrevolutionären Elemente stärken und letztlich zum Sieg der Konterrevolution führen würde.

Am 11. oder 12. Dezember schreibt Lenin seine „Thesen über die Konstituierende Versammlung“, die in der Woche darauf in der Prawda erscheinen. Die ersten drei von 19 Thesen lauten:

1. Die Forderung nach Einberufung der Konstituierenden Versammlung gehörte mit vollem Recht zum Programm der revolutionären Sozialdemokratie, da die Konstituierende Versammlung in der bürgerlichen Republik die höchste Form des Demokratismus ist, und da die imperialistische Republik mit Kerenski an der Spitze bei der Bildung des Vorparlaments die Verfälschung der Wahlen und eine Reihe von Verstößen gegen den Demokratismus vorbereitete.

2. Die revolutionäre Sozialdemokratie, die die Forderung nach Einberufung der Konstituierenden Versammlung erhob, hat vom ersten Tage der Revolution von 1917 an wiederholt betont, dass die Republik der Sowjets eine höhere Form des Demokratismus ist als die gewöhnliche bürgerliche Republik mit der Konstituierenden Versammlung.

3. Für den Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung, für die Diktatur des Proletariats, ist die Republik der Sowjets (der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten) nicht nur eine Form demokratischer Einrichtungen von höherem Typus (im Vergleich zur gewöhnlichen bürgerlichen Republik mit einer Konstituierenden Versammlung als ihrer Krönung), sondern sie ist auch die einzige Form, die imstande ist, den schmerzlosesten Übergang zum Sozialismus zu sichern.

Am Jahreswechsel 1922–1923, während Lenins Erkrankung, wird die „Troika“ von Kamenew, Sinowjew und Stalin versuchen, jede Erinnerung an diesen innerparteilichen Kampf aus den Archiven zu tilgen.

Rostow, 15. (2.) Dezember: „Freiwilligenarmee“ nimmt Rostow ein

Nach sechs Tagen erbitterter Kämpfe besiegt eine neu gebildete, antibolschewistische „Freiwilligenarmee“ die lokalen Roten Garden-Einheiten und marschiert in die Stadt Rostow, ein wichtiges Industriezentrum Südrusslands, ein. Die Freiwilligenarmee steht unter der Führung von Alexei Kaledin und anderen rechten Generälen des alten Regimes. Sie besteht vorrangig aus den oberen Rängen der alten Zarenarmee. Unter den ersten 3000 Rekruten sind nur zwölf gemusterte Soldaten, der Rest sind Offiziere, Kadetten, Studenten und Kosaken. Laut einer Proklamation von Kaledin, dem Anführer des Don-Kosaken-Heers, soll diese Region so lange unter Kriegsrecht bleiben, bis die Provisorische Regierung wieder hergestellt ist.

Kaledin ist ein Ultrareaktionär, der sich zuerst geweigert hat, die Februarrevolution zu akzeptieren. Jetzt erklären seine Kräfte allen „Agitatoren den Krieg, die in großer Zahl aus Deutschland gekommen sind“, womit sie die Bolschewiki meinen. In dem Gebiet, das die Freiwilligenarmee kontrolliert, werden alle Organisationen der Arbeitermacht, einschließlich der Sowjets, gewaltsam aufgelöst und ihre Büros geplündert und zerstört. In einer Ortschaft namens Jasyniwka werden zwanzig Bolschewiki ermordet und ihre Leichen in Jauchegruben geworfen. Die Freiwilligenarmee-Soldaten sind gesetzlos, korrupt und desorganisiert. In dem Gebiet, das sie kontrollieren, töten und plündern sie ungestraft.

Bremen, 15. Dezember: Die Zeitung Arbeiterpolitik ruft zum Aufbau einer revolutionären Partei in Deutschland auf

Am 15. Dezember druckt die Bremer Zeitung Arbeiterpolitik einen mit dem Pseudonym Peter Unruh gezeichneten Leitartikel von Johann Knief ab.

Knief begrüßt in dem Artikel den Sturz der Provisorischen Regierung und die Machtübernahme durch die Bolschewiki. Diese habe „die Bahn frei gemacht für das weitere Vordringen der sozialen Revolution bis zum endgültigen Siege des Sozialismus. Unerhört Großes ist in wenigen Wochen vollbracht worden; unerhört Gewaltiges, dem nichts in der Weltgeschichte an die Seite zu stellen ist.“

Knief betont, die proletarische Demokratie müsse als „Hebel zur sozialen Revolution“, dienen. Der militärische Sieg der Bolschewiki habe „die soziale Umwälzung mit sich gebracht, und mögen die ökonomischen Verhältnisse Russlands im Unterschiede zu den ökonomischen Verhältnissen des westlichen Europas und der Vereinigten Staaten Nordamerikas heute noch nicht reif sein, so wird die durch die Revolution geschaffene Neuordnung des russischen Wirtschaftslebens durch den Reifeprozess gewaltig gefördert werden.“

Er hebt die entscheidende Rolle der bolschewistischen Partei und ihrer Führung in der Revolution sowie den Mut und die Opferbereitschaft aller Mitglieder hervor. Das bringt ihn dazu, die Kritik der Arbeiterpolitik am Beitritt der Gruppe Internationale (Spartakus) zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) zu wiederholen. Nach dem Sieg der Bolschewiki sei „jeder Schein von Berechtigung für das Zusammengehen mit den Unabhängigen dahin“.

„Die internationale Lage“ so Knief, gebiete „die Gründung einer eigenen linksradikalen Partei als dringendste Notwendigkeit“. Knief endet mit der Aufforderung an die Freunde aus der Gruppe Internationale „sich unverzüglich von den Pseudosozialisten der Unabhängigen öffentlich loszusagen und eine eigene linksradikale Partei zu gründen“.

Johann Knief gehört mit Karl Radek, Paul Frölich und Anton Pannekoek zu den Führern der sogenanntenBremer Linksradikalen, die seit etwa 1905 den linken Flügel der SPD bilden und seit 1914 Lenin in der Frage des imperialistischen Krieges nahestehen. Ihr Aufruf zum Aufbau einer unabhängigen linksradikalen Partei gründet auf ihrem Konzept von der „Selbständigkeit der Massen“, dem die Tat und der Willen von Revolutionären zur Entfaltung verhelfen müssen.

Lenins Parteikonzept stellt dagegen die politische Führung und Erziehung der Massen im Klassenkampf ins Zentrum. Die „Selbständigkeit“ im Sinne eines revolutionären Kampfs der Massen unabhängig von und gegen die ihr feindlichen Klassen kann nur durch eine marxistische Führung mit einem internationalen, sozialistischen Programm hergestellt werden. Pannekoek und Knief hingegen sind in dieser Frage mehr von Nietzsches Voluntarismus als von Marx geprägt.

Petrograd, 16. (3.) Dezember: Sowjetregierung publiziert das Manifest an das ukrainische Volk

Nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch das Zarenreich eine Unabhängigkeit der Ukraine breite Unterstützung. Unter diesen Bedingungen publiziert der Sownarkom ein Manifest an das ukrainische Volk, in dem es heißt:

Ausgehend von den Interessen der Einheit und des brüderlichen Bündnisses der Arbeiter und der werktätigen, ausgebeuteten Massen im Kampfe für den Sozialismus, ausgehend von der Anerkennung dieser Grundsätze in zahlreichen Beschlüssen der Organe der revolutionären Demokratie, der Sowjets, und insbesondere des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses, bestätigt die sozialistische Regierung Russlands, der Rat der Volkskommissare, erneut das Recht aller früher vom Zarismus und der großrussischen Bourgeoisie unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, bis zum Recht dieser Nationen, sich von Russland loszutrennen … Alles, was die nationalen Rechte und die nationale Unabhängigkeit des ukrainischen Volkes betrifft, erkennen wir, der Rat der Volkskommissare, sofort, ohne jede Einschränkung und bedingungslos an. Gegen die bürgerliche finnische Republik, die einstweilen eine bürgerliche Republik geblieben ist, haben wir keinen einzigen Schritt im Sinne einer Beschränkung der nationalen Rechte und der nationalen Unabhängigkeit des finnischen Volkes unternommen, und wir werden auch keinerlei Schritte unternehmen, die die nationale Unabhängigkeit irgendeiner der Nationen beschränken könnten, die der Russischen Republik angehören oder ihr angehören wollen.

Gleichzeitig beinhaltet das Manifest ein Ultimatum an die Zentralrada der Ukraine, welche seit der Proklamation ihres Dritten Universals konkrete Schritte unternimmt, um die sowjetfreundlichen Tendenzen und Einrichtungen in der Ukraine zu untergraben und die konterrevolutionären Schläge gegen Sowjetrussland zu unterstützen. In dem Manifest heißt es:

„Wir beschuldigen die Rada,dass sie unter dem Deckmantel nationaler Phrasen eine doppelzünglerische bürgerliche Politik treibt, was bereits seit langem darin zum Ausdruck kommt, dass die Rada die Sowjets und die Sowjetmacht in der Ukraine nicht anerkennt (übrigens hat die Rada die Forderung der Sowjets der Ukraine abgelehnt, unverzüglich einen Landeskongress der ukrainischen Sowjets einzuberufen). Diese doppelzünglerische Politik, die es uns unmöglich macht, die Rada als bevollmächtigte Vertretung der werktätigen und ausgebeuteten Massen der Ukrainischen Republik anzuerkennen, hat die Rada in der allerletzten Zeit Schritte tun lassen, die jede Möglichkeit einer Verständigung zunichtemachen. Ein solcher Schritt war erstens die Desorganisierung der Front. Die Rada gruppiert vermittels einseitiger Befehle die ukrainischen Truppenteile um, zieht sie von der Front ab und zerstört damit die gemeinsame einheitliche Front vor der Abgrenzung, die nur auf Grund einer organisierten Vereinbarung der Regierungen beider Republiken erfolgen kann.

Zweitens hat die Rada mit der Entwaffnung der Sowjettruppen begonnen, die sich in der Ukraine befinden.

Drittens unterstützt die Rada die kadettisch–kaledinsche Verschwörung und Erhebung gegen die Sowjetmacht. Wissentlich zu Unrecht beruft sich die Rada auf die angeblichen autonomen Rechte des ‚Don- und Kubangebiets‘ und deckt damit die konterrevolutionären Aktionen Kaledins, die den Interessen und Forderungen der gewaltigen Mehrheit der werktätigen Kosaken zutiefst zuwiderlaufen, sie lässt die Truppen, die zu Kaledin stoßen, ihr Territorium passieren, lehnt es aber ab, Truppen gegen Kaledin durchzulassen.

Heute, in Anbetracht aller oben dargelegten Umstände, stellt der Rat der Volkskommissare vor dem Angesicht der Völker der Ukrainischen und der Russischen Republik der Rada folgende Fragen:

1. Verpflichtet sich die Rada, von den Versuchen der Desorganisierung der gemeinsamen Front abzulassen?

2. Verpflichtet sich die Rada, in Zukunft ohne Zustimmung des Oberkommandierenden keinerlei Truppenteile in Richtung des Don, des Ural oder anderer Orte passieren zu lassen?

3. Verpflichtet sich die Rada, die revolutionären Truppen in ihrem Kampf gegen den konterrevolutionären kadettisch–kaledinschen Aufstand zu unterstützen?

4. Verpflichtet sich die Rada, alle ihre Versuche, Sowjetregimenter und die Rote Arbeitergarde in der Ukraine zu entwaffnen, einzustellen und sofort die Waffen denen zurückzugeben, denen sie abgenommen wurden?

In den kommenden Monaten und Jahren wird die Kollaboration zwischen den nationalistischen Tendenzen in der Ukraine und den imperialistischen Mächten zum wichtigen Faktor im Bürgerkrieg und im Kampf der Weißen gegen das unerfahrene Sowjetregime.

Washington, 17. Dezember: US-Kongress verabschiedet Zusatzartikel zum Alkohol-Verbot

Mit 282 zu 128 Stimmen verabschiedet das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz zur Einführung eines Verfassungszusatzes, der den Verkauf und die Verbreitung alkoholischer Getränke verbietet. Der Senat hat schon im Sommer ein ähnliches Gesetz verabschiedet. Der leicht veränderte Entwurf des Repräsentantenhauses wird an den Senat zurückverwiesen, um einen abgestimmten Entwurf zu erarbeiten. Der wird dann an die Parlamente der Bundesstaaten überwiesen. Wenn Dreiviertel der Parlamente zustimmen, wird der Entwurf zum 18. Verfassungszusatz. Das ist praktisch bloß noch eine Formsache, denn schon 28 Bundesstaaten haben in den letzten Jahren solche Prohibitionsgesetze beschlossen.

In den letzten Jahren spaltet die Prohibition das Land. Schon in den 1830er Jahren, seit dem Aufkommen der Abstinenzbewegung, sind Teile der amerikanischen Bourgeoisie unter Führung ihrer protestantischen Fußtruppen, der Evangelikalen, dagegen, dass Arbeiter, besonders Einwanderer, Alkohol trinken, weil sie darin eine Bedrohung für die soziale Kontrolle und eine untragbare Behinderung der Produktion erblicken. Gegen diese Kräfte stehen Kapitalisten, deren Interesse mit der Landwirtschaft verknüpft ist, die katholische Kirche und mehrere Führer europäischer Einwanderergruppen. Besonders die deutschen, irischen, italienischen und polnischen Einwanderer sind gegen ein solches Verbot.

Der Große Krieg verschiebt die Balance eindeutig zu Gunsten der „Trockenen“. Jetzt wird der Einsatz von Getreide zur Alkoholproduktion als Belastung für die Kriegsanstrengung hingestellt. Die großen deutschen Brauereifamilien werden zum Schweigen gebracht, und zuweilen wird sogar ihr Reichtum beschlagnahmt. Der Krieg hat auch ausländerfeindlichen Stimmungen Auftrieb gegeben. Ein großer Förderer der Prohibition ist der neu gegründete Ku Klux Klan, der gewalttätig gegen Streiks und Radikalismus in der Arbeiterklasse vorgeht. Der KKK stellt die Prohibition als Feldzug gegen Alkohol und „lockere Moral“ dar.

Loading