Perspektive

Soziale Ungleichheit und Regierungskrise

Es ist mehr als ein historischer Zufall, dass der kürzlich veröffentlichte „Bericht zur weltweiten Ungleichheit“ zum Schluss gelangt, die soziale Ungleichheit in Deutschland sei so groß wie 1913.

1913 markierte eine historische Zäsur. Es war das letzte Jahr einer vierzigjährigen Epoche, in der Europa relativ stabil und friedlich war und ein starkes wirtschaftliches Wachstum verzeichnete. Im Sommer des folgenden Jahres begann eine neue Epoche von dreißig Jahren, die durch zwei Weltkriege, heftige Klassenkämpfe und die nationalsozialistische Barbarei geprägt war. Am Schluss waren rund hundert Millionen Menschen gewaltsam ums Leben gekommen, halb Europa lag in Trümmern.

Die Zeit vor 1914, die aus der „hochprivilegierten Perspektive eines wohlhabenden Mannes aus der oberen Mittelklasse“ rückblickend als „vergoldetes Zeitalter“, „Belle Époque“ oder „wilhelminische Ära“ verklärt wurde, sah in den Augen der „städtischen Massen, die sich in den Elendsquartieren von Berlin, Wien, Paris, St. Petersburg und auch London drängten“, ganz anders aus, wie der Historiker Ian Kershaw in seinem Buch „Höllensturz“ feststellt.

Der Übergang des Kapitalismus zum Imperialismus – die Verdrängung der freien Konkurrenz durch Monopole, die Herausbildung einer „Finanzoligarchie, die ein dichtes Netz von Abhängigkeitsverhältnissen über ausnahmslos alle ökonomischen und politischen Institutionen der modernen bürgerlichen Gesellschaft spannt“ (Lenin), der Kampf um Kolonien, Rohstoffe und Absatzmärkte – hatte sowohl dem Gegensatz zwischen den Klassen wie dem Konflikt zwischen den imperialistischen Mächten eine nie dagewesene Schärfe verliehen.

Der Weltkrieg war die Antwort auf beides. Er diente dazu, die Klassenspannungen nach außen zu lenken, bevor sie revolutionäre Ausmaße annahmen, jede politische Opposition als „Landesverrat“ zu brandmarken und die Welt unter den imperialistischen Mächten neu aufzuteilen.

Die Parallelen zur heutigen Zeit sind verblüffend. Die soziale Ungleichheit hat wieder ein Ausmaß erreicht, das sich nicht mehr mit demokratischen Herrschaftsformen vereinbaren lässt. In allen führenden kapitalistischen Ländern werden demokratische Grundrechte beseitigt und der staatliche Unterdrückungsapparat unter fadenscheinigen Vorwänden aufgerüstet.

Die imperialistischen Mächte bereiten sich nach brutalen Kolonialkriegen im Nahen Osten und in Afrika auf Kriege gegen die Nuklearmächte Russland und China und gegeneinander vor. „Die Geopolitik ist mit voller Kraft zurück, nachdem wir in der Zeit nach dem Kalten Krieg Urlaub von der Geschichte gemacht haben“, wie es der Nationale Sicherheitsberater der USA, General H.R. McMaster kürzlich ausdrückte.

Ihren schärfsten Ausdruck findet diese Entwicklung in den USA, wo mit Donald Trump eine Bande von Milliardären, Generälen und Rechtsextremen die Macht übernommen hat, ohne dass sie im politischen Establishment auf nennenswerten Widerstand stößt. Aber Deutschland und Europa sind nicht anders. Das ist der Grund für die anhaltende Regierungskrise in Berlin.

Die Bundestagswahl vom September kennzeichnete „das Ende von Deutschlands Nachkriegsordnung, der glücklichen Ära des Ausgleichs und der Vorherrschaft zweier großer Volksparteien“, schreibt der britische Telegraph. Als Grund nennt er das Ende des „Konsenses über Gleichheit und Gerechtigkeit“ als Folge der wachsenden Armut und Ungleichheit.

Die Verhandlungen über eine neue Regierung schleppen sich derart lang dahin, weil die herrschende Klasse ein völlig anderes Regime braucht, das massiv aufrüstet, nach außen eine aggressive Großmachtpolitik verfolgt und im Innern rücksichtslos durchgreift.

Am deutlichsten spricht dies Sigmar Gabriel aus, der frühere SPD-Vorsitzende und amtierende Außenminister. In einer außenpolitischen Grundsatzrede bei der Körber-Stiftung plädierte er für eine interessenorientierte deutsche Großmachtpolitik, die sich nicht an moralischen Werten und Normen orientiert. Es gebe „für uns Deutsche … keinen bequemen Platz an der Seitenlinie internationaler Politik mehr“.

Der Politologe Herfried Münkler, auf den sich Gabriel in seiner Grundsatzrede ausdrücklich berief, redet einer Rückkehr zu den übelsten Traditionen des deutschen Militarismus das Wort. „Millionen Menschen sind in Kriegen gestorben, heroische Phantasien sind am Ende, und wir meinen, keine Helden mehr zu brauchen. Das ist ein Irrtum“, schrieb in der Neuen Zürcher Zeitung.

Innenpolitisch schwenkt Gabriel auf den rechten, nationalistischen Kurs der AfD ein. In einem Gastbeitrag für den Spiegel trat er dafür ein, dass die SPD Begriffe wie „Identität“, „Leitkultur“ und „Heimat“ von den Rechten übernimmt.

Der Gegensatz zwischen Arm und Reich wird weiter zunehmen. Bereits jetzt haben Siemens, Opel, Bombardier, Air Berlin, die Deutsche Bank und zahlreiche andere Unternehmen Massenentlassungen angekündigt. Die nächste Regierung wird unabhängig davon, wie sie aussieht und ob Merkel oder jemand anderes sie führt, weit rechts von der jetzigen stehen. Das kommende Jahr wird von heftigen Klassenkämpfen und politischen Auseinandersetzungen geprägt sein.

Arbeiter und Jugendliche müssen sich darauf vorbereiten, nur so kann eine Katastrophe wie im letzten Jahrhundert verhindert werden. Sie müssen mit der SPD, der Linkspartei, den Gewerkschaften und allen bankrotten Organisationen brechen, die auf die Krise des Kapitalismus reagieren, indem sie weit nach rechts rücken, und ihre eigene, unabhängige Partei aufbauen.

Die Sozialistische Gleichheitspartei verbindet den Kampf gegen Krieg, Armut und Unterdrückung mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft. Als deutsche Sektion der Vierten Internationale stellt sie dem wachsenden Nationalismus die internationale Einheit der Arbeiterkasse entgegen.

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