Die Lehren des Oktobers: Die innerparteiliche Krise der Bolschewiki am Vorabend der Machteroberung

Wir veröffentlichen hier einen Vortrag von Chris Marsden, dem Vorsitzenden der Socialist Equality Party in Großbritannien, vom 28. Oktober 2017. Es war der dritte Vortrag im zweiten Teil der Online-Vortragsreihe, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale aus Anlass des 100. Jahrestags der Russischen Revolution von 1917 präsentierte. Die ersten fünf Vorträge der Reihe wurden im Frühjahr gehalten und sind mittlerweile unter dem Titel „Warum die Russische Revolution studieren“ im Mehring Verlag erschienen. Der Band kann hier für 10 EUR bestellt werden.

Für den ersten Vortrag in dieser Reihe wählte Genosse David North den Titel „Warum die Russische Revolution studieren?“ Als Antwort auf diese Frage führt er 10 Gründe auf, und in Grund 9 heißt es:

Die Bolschewiki haben der Arbeiterklasse vor Augen geführt, was eine wirklich revolutionäre Partei ausmacht und weshalb sie für den Sieg der sozialistischen Revolution eine unverzichtbare Rolle spielt. Ein sorgfältiges Studium des Verlaufs der Revolution 1917 beweist ohne jeden Zweifel, dass das Bestehen der Bolschewistischen Partei, mit Lenin und Trotzki an der Spitze, den Ausschlag für den Sieg der sozialistischen Revolution gab. [1]

Eine genaue Betrachtung der Krise, die am Vorabend des Oktoberaufstands in der Bolschewistischen Partei ausbrach, ermöglicht es uns, die unverzichtbare Rolle der revolutionären Partei unter die Lupe zu nehmen und ein umfassenderes Verständnis für die Aufgaben zu gewinnen, vor denen unsere Partei und unser Kader heute stehen.

Die Lehren des Oktobers: Die innerparteiliche Krise der Bolschewiki am Vorabend der Machteroberung

Seit seiner Rückkehr nach Russland im April 1917 hatte Lenin seine ganze Arbeit darauf konzentriert, den Versuchen entgegenzutreten, die Bolschewistische Partei dem Programm der nationalen demokratischen Revolution unterzuordnen und sie dadurch auf die Rolle des linken Flügels zu beschränken, der lediglich die Bourgeoisie dazu drängt, ihre bürgerliche Revolution zu vollenden.

Dieser Standpunkt, der von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären (SR) offen vertreten wurde, bestimmte noch lange nach den Aprilthesen Lenins die Positionen des rechten Flügels der Bolschewiki, der von Sinowjew und Kamenew – und in etwas versteckter und schwankender Weise auch von Stalin – angeführt wurde.

Lenin führte einen unerbittlichen Kampf gegen jene, die für eine fortgesetzte Beteiligung Russlands am imperialistischen Krieg warben. Er trat dafür ein, dass die Bolschewiki die Mehrheit in den Sowjets erobern und für den Sturz der Provisorischen Regierung, die Machteroberung durch die Sowjets und eine sozialistische Revolution in Russland kämpfen, die sich in die europäische und die Weltrevolution einfügt. In den Monaten September und Oktober musste er die Führung der Partei davon überzeugen, dass die Zeit für die Machteroberung reif war.

Genosse Barry Grey hat in seinem Vortrag darauf verwiesen, wie Lenin die Partei aufforderte, die Losung „Alle Macht den Sowjets“ aufzugeben und stattdessen sich selbst an die Spitze des Aufstands zu stellen, um diesen in ihrem Namen und unter ihrer Führung durchzuführen.

Lenin reagierte damit auf die Julitage, in denen Sowjets unter der Kontrolle der SR und der Menschewiki Soldaten mobilisiert hatten, um den Juliaufstand und die Bolschewiki niederzuschlagen.

Er schlug vor, dass fortan die Fabrikkomitees als geeignete Organisationsform im Kampf um die Macht dienen könnten.

Doch die Juli-Erfahrung hatte einflussreiche Kräfte in der Parteiführung davon überzeugt, dass ein solcher Kurs reines Abenteurertum wäre. Den ganzen September hindurch bemühte sich der rechte Parteiflügel mit zahlreichen Aktivitäten und Initiativen darum, die Stellung der Bolschewiki als linke Flanke einer gefestigten bürgerlich-demokratischen Revolution zu stabilisieren, und unterstützte deshalb die Teilnahme an der Stockholmer „Friedenskonferenz“, an der von Kerenski einberufenen Demokratischen Beratung und am dort gebildeten Vorparlament.

In Die Lehren des Oktobers kommentiert Trotzki:

Der Weg nach Stockholm war in Wirklichkeit der Weg zur II. Internationale, genau wie die Teilnahme am Vorparlament der Weg zur bürgerlichen Republik war. […] Die Aufgabe der Menschewisten und Sozialrevolutionäre bestand darin, die Bolschewisten durch die sowjetistische Legalität zu binden und aus dieser eine bürgerlich-parlamentarische Legalität zu machen. Die Rechten kamen diesen Bestrebungen entgegen. […] Doch die Bolschewisten waren sowohl in den Petrograder als in den Moskauer Sowjets bereits in der Überzahl. Unser Einfluss auch in der Armee wuchs nicht nur mit jedem Tage, sondern von Stunde zu Stunde. Es handelte sich bald nicht mehr darum, Prognosen aufzustellen und Möglichkeiten zu erwägen, sondern buchstäblich darum, den Weg zu bestimmen, der bereits morgen beschritten werden sollte. [2]

Wie Tom Carter in seinem Vortrag aufzeigte, gewannen die Bolschewiki wachsende Unterstützung in den Fabrikkomitees, nachdem sie im Kampf gegen den Putschversuch von General Kornilow die entscheidende Rolle gespielt hatten. Dies fand auch Ausdruck in den Sowjets, die zwar von den Versöhnlern kontrolliert wurden, aber während des gescheiterten Coups gezwungen waren, sich zu verteidigen. Auf diese Weise wurden die Bolschewiki nach dem Putschversuch auch in den Sowjets zur dominierenden Kraft.

Lenin drängte immer wieder darauf, dass die Partei direkt die Verantwortung für den Aufstand übernehmen sollte. In einem Brief an das Zentralkomitee vom 14. September schrieb er: „Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte [Petrograd und Moskau] die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.“ [3]

Trotzki unterstützte Lenins Plädoyer für einen Aufstand unter der Führung der Bolschewiki, hielt es aber für besser, die Revolution im Namen der Sowjets durchzuführen.

Vor dem Hintergrund des täglich zunehmenden Einflusses der Bolschewiki sprach sich Trotzki dafür aus, die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ beizubehalten. Dabei verfolgte er das Ziel, der Machtübertragung die Legitimation der anerkannten demokratischen Organe der Arbeiter, Bauern und Soldaten zu verleihen und unter jenen, die noch zurückhaltend waren, größtmögliche Unterstützung für die Bolschewiki zu gewinnen.

Lenin drängte die Führung der Bolschewistischen Partei unermüdlich zum Sturz der Provisorischen Regierung.

In Die Lehren des Oktobers zitiert Trotzki aus Lenins Schriften. Die Tendenz in der Parteiführung, die „gegen den sofortigen Aufstand ist [...] muss niedergekämpft werden“, forderte Lenin. Anfang Oktober erklärte er in einem Brief an die Partei: „Zögern wäre ein Verbrechen. Den Sowjetkongress abwarten wäre kindische Formalitätsspielerei, schändliche Formalitätsspielerei, wäre Verrat an der Revolution.“ Revolutionäre, die zögern, laufen Gefahr „vieles, ja alles zu verlieren“, warnte er schließlich am 24. Oktober. [4]

Lenins Taten entsprachen seinen Worten.

Er fürchtete, dass das Zaudern der Parteiführung katastrophale Folgen haben und der Konterrevolution zum Sieg verhelfen könnte. Deshalb versuchte er, die Parteibasis zu mobilisieren, um Druck auf die Führung auszuüben und zugleich Fakten zu schaffen.

Am 27. September wandte er sich in einem Brief an einen engen Vertrauten, Ivar Smilga, um über Vorbereitungen auf den Aufstand unter den Truppen in Finnland und der Baltischen Flotte zu diskutieren. Zwei Tage später gab er in einem Brief, den er vorsichtshalber auch an die Moskauer und Petrograder Parteikomitees sandte, folgende außergewöhnliche Erklärung ab:

Ich bin gezwungen, meinen Austritt aus den ZK zu beantragen, was ich hiermit tue, und mir die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten.

Denn es ist meine tiefste Überzeugung, dass wir die Revolution zugrunde richten, wenn wir den Sowjetkongress „abwarten“ und jetzt den Augenblick verpassen. [5]

Was bestimmte Lenins Handlungsdrang, der keine Verzögerung mehr zulassen konnte – nicht um einen Tag, geschweige denn um mehrere Wochen?

Der treibende Faktor war die Situation in Russland, die aus seiner Sicht reif für die Revolution war. Im Juli, als ein Aufstand in Petrograd vielleicht Unterstützung in Moskau, aber nicht im ganzen Land erhalten hätte, hatte Lenin zur Zurückhaltung gemahnt. Jetzt aber bahnte sich eine Bauernrevolte gegen die reichen Landbesitzer an und verschaffte dem Proletariat die notwendigen Voraussetzungen dafür, Rückhalt bei den Bauernmassen zu gewinnen.

Doch Lenin orientierte sich nicht nur an der Lage in Russland, sondern auch am Schicksal des Weltproletariats. Er gründete seine revolutionäre Perspektive auf die internationalen, nicht nur die russischen Bedingungen. Jeder Aufschub konnte aus Lenins Sicht einen fatalen Schlag gegen die europäische Revolution bedeuten, die sich als Reaktion auf die Schlächtereien des Ersten Weltkriegs bald entwickeln würde.

In einem Brief vom 8. Oktober, der an den Kongress der Sowjets des Nordgebiets vom 10. Oktober gerichtet war, schrieb Lenin:

Unsere Revolution macht eine im höchsten Grade kritische Zeit durch. Diese Krise fällt zusammen mit der großen Krise des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution und ihrer Bekämpfung durch den Weltimperialismus. Den verantwortlichen Führern unserer Partei fällt eine gigantische Aufgabe zu, und wenn sie diese nicht erfüllen, so droht der völlige Zusammenbruch der internationalistischen proletarischen Bewegung. In diesem Augenblick bedeutet eine Verzögerung wahrhaftig den Tod. [6]

Er wies auf den Generalstreik im italienischen Turin und auf die Streiks tschechischer Arbeiter hin. Unter dem Eindruck der Meutereien auf dem deutschen Großlinienschiff Prinzregent Luitpold und anderen Schiffen, bei denen Hunderte Soldaten das Ende des Krieges forderten, schrieb Lenin, „dass sich kein deutlicheres Symptom für das Heranreifen der Revolution denken lässt als ein Aufstand unter den Truppen. [...] Ja, wir werden wirkliche Verräter an der Internationale sein, wenn wir in einem solchen Augenblick, unter so günstigen Umständen, einen solchen Ruf der deutschen Revolutionäre nur mit ... Resolutionen beantworten“. [7]

Der lange Kampf zur Umorientierung der Partei erreichte am 10. Oktober auf einem Treffen des Zentralkomitees seinen Höhepunkt. Lenin nahm teil, erschien allerdings verkleidet, um einer drohenden Verhaftung durch Kerenskis Polizei zu entgehen. Aufgrund der Autorität, die er in der Partei besaß, musste er nicht zurücktreten. Seine Resolution wurde mit 10 zu 2 Stimmen angenommen.

Auch wenn sie kein Datum für den Aufstand festlegte, war die gesamte Resolution auf die Dringlichkeit der Situation orientiert, die Lenin ununterbrochen betont hatte. Sie brachte die politische Einschätzung zum Ausdruck, auf der die Entscheidung zum Aufstand basierte.

Die Resolution beginnt mit der internationalen Bedeutung der Russischen Revolution und nennt:

• den Aufstand in der deutschen Flotte als höchsten Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Russland zu erdrosseln.

Dann untersucht sie die Lage in Russland:

• Der nicht zu bezweifelnde Entschluss der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern und die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches; die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarische Partei; Bauernaufstand.

Abschließend heißt es:

Das Zentralkomitee stellt somit fest, dass der bewaffnete Aufstand unumgänglich und völlig herangereift ist, und fordert alle Parteiorganisationen auf, sich hiervon leiten zu lassen und von diesem Gesichtspunkt aus alle praktischen Fragen zu behandeln und zu entscheiden (Sowjetkongress des Nordgebiets, Abtransport von Truppen aus Petrograd, die Aktionen der Moskauer und der Minsker usw.) [8]

Diese Sitzung des Zentralkomitees war ein historisches Ereignis. Zum ersten Mal hatte sich eine Partei, die die Arbeiterklasse vertritt, nicht nur das allgemeine Ziel gesetzt, den Kapitalismus zu stürzen, sondern auch die praktische Durchführung der Revolution beschlossen.

Wie Trotzki aufzeigt, setzten sich die intensiven Diskussionen über die Frage, wann und unter wessen Leitung die Revolution stattfinden sollte, auch nach diesem Beschluss fort. Trotzki argumentierte weiterhin dafür, den Termin des Aufstands wenige Tage vor dem Zweiten Sowjetkongress anzusetzen, sodass die Machtübernahme durch diesen sanktioniert werden könnte. Der Kongress war für den 20. Oktober geplant. Trotzkis Position setzte sich durch, weil sie von einer richtigen Einschätzung ausging.

Trotzki wurde zum zentralen Strategen des Aufstands, was sogar Josef Stalin anerkennen musste. Anlässlich des ersten Jahrestags der Oktoberrevolution schrieb er:

Die gesamte Arbeit der praktischen Organisierung des Aufstandes ging unter der unmittelbaren Leitung des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, Trotzkis, vor sich. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass der rasche Übertritt der Garnison auf die Seite der Sowjets und die geschickte Organisierung der Arbeit des revolutionären Kriegs-Komitees die Partei vor allem und hauptsächlich dem Gen. Trotzki zu danken hat. [9]

In Die Lehren des Oktobers erklärt Trotzki, dass Lenins Befürchtungen, eine zeitliche Anpassung des Aufstands an den Zweiten Sowjetkongress könnte eine unzulässige Verzögerung bedeuten, unnötig waren. Es sei aus politischer Sicht von „ungeheurem Vorteil“ für die Bolschewiki gewesen, den Aufstand unter diesem Deckmantel vorzubereiten. Und Trotzki zögerte nicht, sondern machte konkrete Pläne:

Mit dem Moment, da wir, der Petrograder Sowjet, gegen Kerenskis Befehl, zwei Drittel der Garnisonstruppen an die Front zu schicken, protestierten, traten wir de facto in den bewaffneten Aufstand ein. Lenin, der sich außerhalb Petrograds befand, hat diesen Umstand nicht in seiner ganzen Bedeutung erkannt. [...] Und doch war der Ausgang des Aufstandes vom 25. Oktober zu drei Viertel, wenn nicht mehr, in dem Moment entschieden, als wir uns der Absendung der Truppen entgegenstemmten, das kriegs-revolutionäre Komitee bildeten (16. Oktober), in allen Truppenteilen und Organisationen unsere Kommissare ernannten und dadurch nicht nur den Stab des Petrograder Militärbezirkes, sondern auch die Regierung gänzlich isolierten. [10]

In den Tagen nach der Sitzung des Zentralkomitees nahm die Kritik in Teilen der Parteiführung die Form einer offenen Revolte an. Lenin befürchtete, dass dies die Aufstandspläne gefährden könnte.

Sinowjew und Kamenew, die beide gegen die Resolution vom 10. Oktober gestimmt hatten, hielten an ihrer vehementen Ablehnung des sofortigen Aufstands fest. Lenin verlangte daraufhin eine weitere Sitzung des Zentralkomitees, die schließlich am 16. Oktober stattfand. Die Resolution vom 10. Oktober wurde dort mit einer Mehrheit von 19 zu 2 Stimmen erneut bekräftigt, doch diesmal mit vier Enthaltungen. Kamenew reagierte auf den abermaligen Beschluss mit seinem Rücktritt vom ZK.

Nachdem die bolschewistische Presse verweigert hatte, ihre Kritik zu veröffentlichen, brach Kamenew mit der Parteidisziplin und wandte sich, mit dem Rückhalt Sinowjews, an die außerparteiliche Zeitung Nowaja Shisn, die von Maxim Gorki herausgegeben wurde. Dort griff er am 18. Oktober öffentlich die Aufstandspläne an, obwohl diese – aus offensichtlichen Gründen – geheim gehalten wurden. In seinem Beitrag für die Nowaja Shisn wiederholte er die Standpunkte, die er bereits in seinem gemeinsamen Brief mit Sinowjew an die Parteiorgane vorgebracht hatte. Dort hatten sie geschrieben: „Wir sind aufs Tiefste überzeugt, dass jetzt den bewaffneten Aufstand zu erklären bedeutet, das Schicksal nicht nur unserer Partei, sondern auch der russischen und internationalen Revolution aufs Spiel zu setzen.“ [11]

Im Gegensatz zur Machteroberung schlugen sie vor, dass man jetzt, gestützt auf den Einfluss der Bolschewiki in den Sowjets, der Armee und der Arbeiterklasse, die Bourgeoisie daran hindern müsse, die Konstituierende Versammlung zu „sprengen“. Jeder Versuch, „die Konstituierende Versammlung zu sprengen“, würde „wieder die kleinbürgerlichen Parteien uns zutreiben [...] Bei richtiger Taktik können wir ein Drittel oder auch mehr Sitze in der Konstituierenden Versammlung erhalten.“

Noch sei die revolutionäre Situation nicht herangereift, so Sinowjew und Kamenew. Die Arbeiter und Soldaten unterstützten zwar die Bolschewiki, jedoch nur aus einer pazifistischen Antikriegsstimmung heraus:

Wenn wir jetzt die Macht allein übernehmen und (kraft der gesamten Weltlage) in die Notwendigkeit geraten sollten, einen revolutionären Krieg zu führen, so fiele die Masse der Soldaten von uns ab. [...]

Damit kommen wir zur zweiten Behauptung, – dass das Weltproletariat schon jetzt in seiner Mehrheit für uns sei. Das ist leider noch nicht der Fall. [12]

Diese Warnungen waren alles andere als gegenstandslos. Die Bolschewiki standen vor enormen Problemen und mussten – auch nach der Machteroberung – mit einem Bürgerkrieg und einer Intervention der Imperialisten rechnen.

Aber Kamenew und Sinowjew ließen sich von der scheinbaren Stärke der Reaktion blenden und sahen nichts als Katastrophen voraus. Aus Lenins Sicht hingegen barg die Situation große revolutionäre Möglichkeiten, die Aussicht auf Erfolg boten. Er schätzte die Lage so ein, wie vor ihm ein anderer großer Revolutionär, Abraham Lincoln: „Die Dogmen der ruhigen Vergangenheit passen nicht mehr zur stürmischen Gegenwart. Die Lage ist außerordentlich schwierig, und wir müssen uns der Lage gewachsen zeigen.“

In Die Lehren des Oktobers gibt es eine zentrale Passage, in der Trotzki auf die politische Psychologie von Sinowjew und Kamenew eingeht. Seine Einschätzung ist bis heute lehrreich. Trotzki weist darauf hin, dass jene in ihrem Brief warnen, die größte Gefahr bestehe jetzt darin, die Stärke der revolutionären Kräfte zu überschätzen und die der reaktionären Kräfte zu unterschätzen. Sinowjew und Kamenew hatten geschrieben:

Die Kräfte des Gegners sind größer, als sie scheinen. Entscheidend ist Petrograd, und in Petrograd haben die Feinde der proletarischen Partei bedeutende Kräfte zusammengezogen: 5000 Junker, ausgezeichnet bewaffnet, organisiert, kampflustig (kraft ihrer Klassenlage) und kampffähig, dazu der Stab, dazu die Stoßtruppen, dazu die Kosaken, dazu ein bedeutender Teil der Garnison, dazu eine sehr bedeutende Artillerie fächerförmig um Petrograd herum aufgestellt. [13]

Eben diese Sichtweise, erklärt Trotzki, habe 1923 in Deutschland dazu geführt, dass die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) den Aufstand absagte. Damals habe sich gezeigt, was es bedeutet, wenn die Parteiführung – überwältigt von der scheinbaren Stärke der Konterrevolution – die „aktiven Kräfte der deutschen Revolution“, also das starke deutsche Proletariat, unterschätzt:

Unser russisches Beispiel hat in dieser Beziehung eine nicht zu ersetzende Bedeutung. Zwei Wochen vor unserem unblutigen Siege in Petrograd – wir hätten ihn auch schon zwei Wochen eher haben können – sahen die erfahrenen Politiker unserer Partei die Junker gegen uns, die sich zu schlagen wünschten und zu schlagen verstanden und die Stoßtruppe und die Kosaken und den größten Teil der Garnison und die Artillerie, die uns einschloss und die heranrückenden Fronttruppen. In Wahrheit war nichts vorhanden, aber gar nichts. […] Das ist die Lehre, die man in das Bewusstsein jedes Revolutionärs eingravieren müsste! [14]

Sinowjew und Kamenew schätzten nicht nur das gesellschaftliche Kräfteverhältnis, das im kommenden revolutionären Kampf entscheidend war, sondern auch die Rolle der kleinbürgerlichen Parteien völlig falsch ein.

Lenin hatte die Entstehung des Opportunismus und die Welle des Sozialchauvinismus, die 1914 die Sozialdemokratie erschütterte, aus den sozialen Beziehungen erklärt, die im Imperialismus entstanden waren. Die herrschende Klasse konnte sich der Unterstützung der privilegierten kleinbürgerlichen Schichten versichern, zu denen auch die Arbeiteraristokratie gehörte, die wichtigste soziale Basis der Zweiten Internationale.

Sinowjew und Kamenew setzten darauf, dass sich die Menschewiki und ähnliche Gruppen den Bolschewiki annähern und ihnen dabei helfen würden, die Bourgeoisie zur Umsetzung demokratischer Maßnahmen zu bewegen.

Lenin hingegen zog aus seiner Analyse den Schluss, dass eben diese Sozialdemokraten die „wirklichen Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung“ seien – „Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse“.

„Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie, auf die Seite der ‚Versailler‘ gegen die ‚Kommunarden‘“, schrieb Lenin 1916. [15]

Er war außer sich über Sinowjews und Kamenews Loyalitätsbruch, verurteilte sie als „Streikbrecher“ und sprach von „schwerem Verrat“, weil sie ihren Angriff „noch dazu in einer Zeitung“ abdrucken ließen, die „in dieser Frage Hand in Hand mit der Bourgeoisie gegen die Arbeiterpartei geht!“ [16]

Die Behauptung, die Massen würden nicht hinter den Bolschewiki stehen, wies er zurück:

Die wichtigste Tatsache des gegenwärtigen Lebens in Russland schließlich ist der Bauernaufstand. Da haben wir den objektiven, nicht in Worten, sondern durch Taten offenbarten Übergang des Volkes auf die Seite der Bolschewiki. [...]

Verzögerung des Aufstands bedeutet den Tod – das muss denjenigen gesagt werden, die den traurigen „Mut“ haben, die wachsende Zerrüttung und den nahenden Hunger mit anzusehen und den Arbeitern vom Aufstand abzuraten… [17]

Am selben Tag, an dem Kamenews Kommentar in der Nowaja Shisn veröffentlicht wurde, fand ein Treffen der Delegierten der Petrograder Militäreinheiten statt. Sie waren gespalten über die Frage, ob ein Aufstand gegen die Provisorische Regierung vorbereitet werden sollte, und betonten, dass sie diesen nur unterstützen würden, wenn er im Namen der Sowjets stattfinden würde. Ihre Haltung bestätigte Trotzkis Position.

Die nicht bolschewistischen Parteien beobachteten indessen besorgt, wie die Bolschewiki ihren Einfluss ausbauten, und beschlossen, den Sowjetkongress auf den 25. Oktober zu verschieben, um ihre eigenen Unterstützer mobilisieren zu können. Doch die zusätzlichen fünf Tage gaben letztlich den Bolschewiki – insbesondere Trotzki, der die Gesamtleitung innehatte – die notwendige Zeit zur Planung und Durchführung des Aufstands.

Aufgrund der intensiven politischen und organisatorischen Vorbereitung verlief die Machteroberung ohne große Verluste.

Das Smolny-Institut, in dem sich das Hauptquartier der Sowjets befand, wurde in eine Festung verwandelt, bewacht mit Maschinengewehren und kontrolliert von den Bolschewiki.

Am Morgen des 24. Oktober ließ die Regierung das Zentralorgan der Bolschewistischen Partei und die Zeitung des Petrograder Sowjets verbieten und versiegelte ihre Druckereien. Eine Arbeiterin fragte Trotzki daraufhin: „Darf man denn das Siegel nicht abreißen?“ Er antwortete: „Reißt ruhig ab“, und wies das Litauische Regiment und das 6. Reserve-Sappeurbataillon an, den Schutz der Druckereien zu gewährleisten.

Auch das Telefonamt, das von Offiziersschülern besetzt gehalten wurde, um die Kommunikation der Sowjets zu unterbinden, wurde von einer Abteilung Matrosen befreit.

In der Nacht zum 25. Oktober schwärmten die Mitglieder des Revolutionären Militärkomitees in alle Stadtbezirke aus.

Die Regierung hatte dem Kreuzer Aurora den Befehl gegeben, die Newa zu verlassen, aber die bolschewistischen Matrosen unterstützten das Revolutionäre Militärkomitee und blieben vor Ort.

Trotzki erhielt die Meldung, dass die Kerenski-Regierung Artillerie aus Pawlowsk, ein Sturmbataillon aus Zarskoje Delo, die Fähnrichsschule von Peterhof und das Frauenbataillon mobilisierte. Er befahl, auf allen Wegen nach Petrograd militärische Sperrposten aufzustellen.

Bald stellte sich heraus, dass die Straßen den Bolschewiki gehörten und abgesehen von den Offiziersschülern nur wenige Kerenskis Befehlen folgten. Bewaffnete Einheiten der Bolschewiki unterstellten eine Institution nach der anderen ihrer Kontrolle und besetzten Schlüsselstellungen in Petrograd.

Am nächsten Morgen des 25. Oktober, als die Regierung noch immer im Winterpalais tagt, ist der schwach bewachte Palast bereits umstellt. Um 13 Uhr gibt Trotzki folgende Erklärung ab:

Im Namen des Revolutionären Kriegskomitees erkläre ich, dass die Provisorische Regierung nicht mehr existiert (Beifall). Einzelne Minister sind verhaftet worden (Beifall). Andere werden in den nächsten Tagen oder Stunden verhaftet werden (Beifall). […] Das Winterpalais ist noch nicht eingenommen, aber sein Schicksal wird sich in den nächsten Minuten entscheiden (Beifall). [18]

Der Palast wird ohne jegliche Gefechte eingenommen.

Aufgrund der Vorbereitungsarbeit des Revolutionären Militärkomitees hatte der Aufstand am 25. Oktober „nur einen ergänzenden Charakter, darum vollzog er sich auch so schmerzlos“, so Trotzki. [19]

Die wohl beste – und bekannteste – Beschreibung dessen, was die Bolschewiki erreicht hatten, findet sich in Trotzkis Antwort auf den Menschewiki-Führer Fjodor Dan auf der Abendsitzung des Sowjetkongresses am Tag des Aufstands.

Dan wetterte gegen die „Verschwörer“ und verlangte, dass die Bolschewiki mit den Sozialrevolutionären und den Menschewiki eine Koalition bilden. Darauf erwiderte Trotzki:

Was geschehen ist, ist ein Aufstand und nicht eine Verschwörung. Der Aufstand der Volksmassen bedarf keiner Rechtfertigung. Wir haben die revolutionäre Energie der Arbeiter und Soldaten gestählt. Wir haben den Willen der Massen offen für den Aufstand geschmiedet. Unser Aufstand hat gesiegt. Jetzt schlägt man uns vor: Verzichtet auf den Sieg und trefft ein Abkommen. Mit wem? Ihr seid klägliche Einzelerscheinungen, ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt, gehet hin wohin ihr von heute an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte. [20]

Am 4. November, also nach der Machteroberung, traten mehrere Mitglieder des Zentralkomitees, u. a. Kamenew, Sinowjew, Rykow und Nogin, vom ZK zurück. Die letzteren beiden legten außerdem zusammen mit zwei weiteren Volkskommissaren ihre Ämter im Rat der Volkskommissare (der revolutionären Regierung) nieder. Sie forderten eine Koalitionsregierung, in der alle Sowjetparteien vertreten wären und die auf einer neuen Konstituierenden Versammlung gebildet werden sollte. Gleichzeitig verurteilten sie die aus ihrer Sicht verheerende Politik Lenins und Trotzkis.

Man kann sich leicht vorstellen, wie Trotzkis Gegner reagierten, als er diese historischen Fragen in Die Lehren des Oktobers erneut zur Sprache brachte.

Der Essay unter diesem Titel, der im Oktober 1924 veröffentlicht wurde, bildete die Einleitung zu einer zweibändigen Sammlung von Trotzkis Schriften über das erste Jahr nach der Russischen Revolution, die unter dem Titel 1917 erschien und Teil einer geplanten Trotzki-Gesamtausgabe werden sollte. Ausführlich untersucht Trotzki darin die grundlegende Bedeutung der marxistischen Avantgarde-Partei in der imperialistischen Epoche der Kriege und der sozialen Revolution.

Die Lehren des Oktobers gehört zu den bedeutendsten und erhellendsten Streitschriften, die je verfasst wurden.

Ausgehend von einer genauen Darstellung, wie die Bolschewistische Partei in der Arbeiterklasse für die Vorbereitung der Machteroberung kämpfte, zeigt Trotzki die grundlegenden politischen Voraussetzungen auf, die für einen erfolgreichen revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus notwendig sind.

Die Schrift entstand unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution in Bulgarien und vor allem Deutschland im Jahr 1923. Dort zeigten sich die verheerenden Folgen der Politik der Komintern und ihrer Sektionen.

Am 9. Juni 1923 putschte Aleksandar Zankow, Führer der bulgarischen Faschisten, gegen die Regierung der Bulgarischen Volksunion der Bauern unter Aleksandar Stambolijski.

Mitglieder der Volksunion und einzelne kommunistische Freiwillige widersetzten sich dem Coup der Faschisten im Juni-Aufstand, der aber aufgrund der Enthaltung der Kommunistischen Partei Bulgariens niedergeschlagen wurde. Letztere hatte den Putsch als „Machtkampf zwischen der städtischen und der ländlichen Bourgeoisie“ bezeichnet.

Erst im August drängte die Komintern die bulgarischen Kommunisten, einen Aufstand zu organisieren, der nur einen Monat später angesetzt wurde. Dadurch blieb ihnen nicht genügend Zeit, um die Arbeiter- und Bauernmassen zu mobilisieren. Die Militärregierung ging mit Massenverhaftungen gegen die Kommunistische Partei vor. Trotzdem befolgten die bulgarischen Kommunisten die Anweisungen der Komintern und begannen am 23. September einen Aufstand, der brutal niedergeschlagen wurde.

Über diese Katastrophe schrieb Trotzki:

Alle Sympathien verschoben sich nach links und übertrugen sich auf die Kommunistische Partei. Die Streitkräfte des Feindes waren nichtig. Und dennoch wurden wir geschlagen. Was fehlte, waren ein klarer, konkreter Aktionsplan und ein entschiedener Schlag zum festgelegten Zeitpunkt und am festgelegten Ort. [...] Das ist im Wesentlichen eine militärisch-revolutionäre Aufgabe. Dafür muss man den Feind zurückwerfen, ihm die Initiative entreißen, ihm die Macht abringen. [21]

Noch bedeutender waren die Ereignisse in Deutschland.

Die deutsche Revolution spielte eine Schlüsselrolle für den Erfolg der europäischen und internationalen Revolution – und damit auch für das Überleben der Sowjetunion. Im Versailler Vertrag von 1919 hatte sich Deutschland, das industriell am weitesten entwickelte Land Europas, verpflichtet, den Siegermächten des Ersten Weltkriegs Reparationen zu zahlen. Als sich die deutschen Imperialisten weigerten, die Reparationsforderungen zu erfüllen, reagierte Frankreich im Januar 1923 mit der Besetzung des Ruhrgebiets.

Die Regierung der Weimarer Republik ließ enorme Geldmengen drucken, um den Widerstand gegen die Besetzung zu finanzieren. Das führte zu einer Hyperinflation, die die Klassenkonflikte verschärfte.

Die Ruhrbesetzung löste eine umfassende wirtschaftliche und politische Krise in Deutschland aus. Die Kommunistische Partei erlebte einen rasanten Zustrom und gewann die Unterstützung von Millionen Arbeitern.

Die Frage der sozialen Revolution stellte sich ganz unmittelbar. Doch anstatt eine revolutionäre Strategie zu entwickeln, stritt die KPD darüber, ob die Zeit für die Machteroberung schon reif sei. Sie hatte mit den linken Sozialdemokraten in Sachsen und Thüringen ein Bündnis geschlossen. Als die KPD endlich einen Zeitpunkt für den Aufstand festgelegt hatte, sagte ihn Parteiführer Heinrich Brandler kurzfristig wieder ab, weil es ihm nicht gelungen war, die Unterstützung der linken Sozialdemokraten zu erhalten.

Die Entscheidung fiel auf einer Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21. Oktober. Dort sollte ein Generalstreik ausgerufen und das Zeichen zum Aufstand gegeben werden. Wie Brandler in einem Brief an Clara Zetkin zugab, hätte die Mehrheit der Delegierten für den Generalstreik gestimmt. Doch Brandler erklärte:

Dennoch erkannte ich im Verlaufe der Chemnitzer Konferenz, dass wir den Entscheidungskampf unter keinen Umständen aufnehmen konnten, nachdem wir die linke VSPD nicht zur Unterschrift für den Generalstreikbeschluss bekommen konnten. Ich habe gegen große Widerstände den Karren herumgerissen und verhindert, dass wir als Kommunisten allein den Kampf aufgenommen haben. [22]

In Hamburg erfuhr man zu spät von dem Beschluss, die Revolution wieder abzublasen. Die Kommunisten organisierten einen Aufstand, der isoliert blieb und innerhalb von drei Tagen brutal unterdrückt wurde.

Die Komintern reagierte auf das Desaster, indem sie allein Brandler dafür verantwortlich machte. Tatsächlich lag die eigentliche politische Verantwortung bei der Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Komintern – in erster Linie dem Vorsitzenden der Komintern, Sinowjew, sowie Kamenew und Stalin, die zum damaligen Zeitpunkt den Fraktionskampf gegen Trotzki anführten.

Trotzki hatte dafür gekämpft, dass die KPD wie die Bolschewiki im Oktober 1917 die Machteroberung anführt – und zwar innerhalb der nächsten Wochen, nicht Monate. In einer Rede vor der Roten Armee und der Roten Flotte erklärte Trotzki am 21. Oktober, dem Tag, an dem Brandler den Aufstand absagte: „Um den militärischen Erfolg für die Revolution zu sichern, muss man ihn um jeden Preis wollen, mit aller Kraft danach streben und jedes Hindernis auf dem Weg dorthin durchbrechen.“ [23]

Stalin hingegen hatte auf Zurückhaltung gedrängt und hervorgehoben, dass die Arbeiter noch immer Vertrauen in die Sozialdemokraten setzten. Er behauptete sogar, „für uns ist es von Vorteil, wenn sie [die Faschisten] als erste angreifen“. [24]

Trotzki und der mittlerweile schwerkranke Lenin hatten bereits seit 1922 gemeinsam gegen Stalins großrussischen Nationalismus gekämpft. Der Konflikt hatte dazu geführt, dass Lenin verlangte, Stalin vom Posten des Generalsekretärs abzusetzen. Trotzki hatte 1923 die Linke Opposition gegründet.

Die Schrift Die Lehren des Oktobers versetzte Trotzkis Opponenten einen schweren politischen Schlag, doch ihre Bedeutung ging weit über eine polemische Auseinandersetzung hinaus. Trotzkis Interesse galt dem Schicksal der sozialistischen Weltrevolution. Im ersten Kapitel, „Es ist notwendig, den Oktoberumsturz zu studieren“, betont er:

Zum Studium der Gesetze und Methoden der proletarischen Revolution gibt es bis heute keine wichtigere und tiefere Quelle als unser Oktober-Experiment. Die Führer der anderen kommunistischen europäischen Parteien, die nicht kritisch und eingehend die Geschichte des Oktoberumsturzes studiert haben, gleichen Heerführern, die sich unter den jetzigen Verhältnissen zu einem neuen Kriege vorbereiten, ohne sich mit den Erfahrungen auf strategischem, taktischem und technischem Gebiete des letzten imperialistischen Krieges vertraut gemacht zu haben. Solche Feldherrn würden ihre Truppen unbedingt in eine Niederlage führen. [25]

Über die Erfahrung in Deutschland schreibt Trotzki: „Wir haben dort in der zweiten Hälfte des vorigen Jahres ein klassisches Beispiel vor Augen gehabt, wie man eine ganz außergewöhnliche revolutionäre Situation von welthistorischer Bedeutung verpassen kann.“ [26]

Er kritisiert die Fehler der Komintern, indem er ihr die Politik der Bolschewiki unter Lenin 1917 gegenüberstellt. Dabei widerlegt er auch die Behauptungen seiner Gegner, die Bolschewistische Partei habe 1917 in monolithischer Einheit gehandelt, in der nur der Emporkömmling und Eindringling Trotzki eine fremde Tendenz dargestellt hätte.

Trotzki konfrontierte seine Leser mit der unbequemen Wahrheit, dass Lenin im Kampf für den Oktoberaufstand auf den entschlossenen und offenen Widerstand von Sinowjew und Kamenew und die ständig schwankende Haltung Stalins gestoßen war.

Er betonte mit Nachdruck, dass diese Opposition gegen den Oktoberaufstand in einer scharfen Ablehnung von Lenins Aprilthesen wurzelte.

Lenin hatte in diesen Thesen Trotzkis Position übernommen, wonach die bevorstehende Revolution unweigerlich einen sozialistischen Charakter annehmen musste. Damit begann ein monatelanger innerparteilicher Kampf gegen Sinowjew, Kamenew und Stalin, das künftige „Triumvirat“: gegen ihre Unterstützung für die bürgerliche Provisorische Regierung und ihre politische Anpassung an jene Kräfte, die für eine Fortführung des Kriegs im Namen der Vaterlandsverteidigung eintraten.

Trotzdem machte Trotzki in seiner Einleitung deutlich:

Es versteht sich, dass die Meinungsverschiedenheiten im Jahre 1917 sehr tiefer Natur und durchaus keine zufälligen waren. Aber es wäre sehr kleinlich, wollte man jetzt, nachdem einige Jahre verstrichen sind, aus ihnen Waffen schmieden gegen diejenigen, die sich damals geirrt haben. [27]

Sinowjew, Kamenew und Stalin zeigten hingegen keinerlei Hemmungen und begannen eine Schmutzkampagne gegen den „Trotzkismus“, die den Ton der künftigen Auseinandersetzung vorgab. Sie warfen Trotzki vor, Lenins Rolle in der Revolution herabzumindern, den Leninismus zu revidieren und den Band 1917 hinter dem Rücken des Zentralkomitees veröffentlicht zu haben. Sinowjew ging sogar so weit, Trotzkis Ausschluss aus der Partei zu fordern. Dieser sah sich daraufhin gezwungen, als Volkskommissar für Armee und Flotte und als Vorsitzender des Revolutionären Militärrats zurückzutreten.

Damit war der Rahmen gesetzt, in dem jeder Versuch Trotzkis, eine politische Umorientierung der KPdSU und der Komintern herbeizuführen, auf heftigen und skrupellosen Widerstand stoßen sollte.

Dieser historische Abriss war nun zwar sehr knapp, aber ich hoffe, dass er dennoch dazu beiträgt, Trotzkis allgemeine Schlussfolgerungen aus den Oktobereignissen besser einordnen zu können:

In den zentralen Abschnitten von Die Lehren des Oktobers kommt Trotzki immer wieder auf die unverzichtbare Rolle der Partei in der sozialistischen Revolution zurück. Er insistiert:

Ohne die Partei, unter Umgehung der Partei, durch ein Surrogat der Partei kann die proletarische Revolution nie siegen. Das ist die Hauptlehre des letzten Jahrzehntes. [28]

In der Einleitung schreibt er:

Nach dem Oktoberumsturz nahmen wir an, dass die nächsten Ereignisse in Europa sich von selbst entfesseln würden [...]. Aber es erwies sich, dass durch das Nichtvorhandensein einer Partei, die in der Lage gewesen wäre, einen proletarischen Aufstand zu leiten, dieser selbst unmöglich wurde. Durch einen elementaren Aufstand kann das Proletariat die Macht nicht erobern; [...] Eine besitzende Klasse ist imstande, die Macht, die einer anderen besitzenden Klasse entrissen wurde, zu erobern, indem sie sich auf ihren Reichtum, ihre „Kultur“, ihre unzähligen Verbindungen mit dem alten Staatsapparat stützt. Dem Proletariat jedoch kann seine Partei durch nichts ersetzt werden. [29]

Trotzki wendet sich dann der Bedeutung der innerparteilichen Konflikte zu, die in der Vorbereitung einer Revolution aufbrechen. Er weist alle Versuche zurück, diese Auseinandersetzungen aus rein subjektiven Faktoren heraus zu erklären, und betont, dass der Kampf zwischen politischen Tendenzen und Fraktionen immer Ausdruck gegensätzlicher gesellschaftlicher Interessen ist, sei es zwischen Klassen oder innerhalb einer Klasse.

Im Strudel der Revolution, wenn die Klassenkonflikte den Siedepunkt erreichen und Druck auf die Partei und ihren Kader ausüben, sind Fraktionskämpfe unvermeidlich. Er schreibt:

Das Hauptmittel des proletarischen Umsturzes ist die Partei. Schon auf Grund unserer einjährigen Erfahrung (vom Februar 1917 bis zum Februar 1918) und ergänzt durch die Ereignisse in Finnland, Ungarn, Italien, Bulgarien und Deutschland kann man es als ein fast allgültiges Gesetz ansehen, dass beim Übergang von der revolutionären Vorbereitungsarbeit zum unmittelbaren Kampf um die Machtergreifung eine Parteikrisis ausbricht. [30]

Dann geht er auf die Gründe ein:

Das erklärt sich daraus, dass jede Entwicklungsperiode der Partei ihre eigenen charakteristischen Züge trägt und die Arbeit nach bestimmten Methoden und Gepflogenheiten geleistet wird. Eine taktische Neuorientierung bedeutet immer einen Bruch mit den bisherigen Methoden und Gepflogenheiten. Hier liegt die nächste und unmittelbarste Ursache zu allen innerparteilichen Reibungen und Krisen. „Zu oft ist es vorgekommen“, – schrieb Lenin im Juli 1917 – „dass bei jähen geschichtlichen Ereignissen selbst die fortgeschrittensten Parteien längere Zeit gebraucht haben, sich in die neue Lage hineinzufinden, alte Losungen wiederholt haben, die gestern richtig waren, aber heute jeden Sinn verloren und zwar so ‚jäh‘ verloren haben, wie die geschichtliche Wendung ‚jäh‘ eintraf.“ [...] Hierdurch erwächst die Gefahr: kommt der Umsturz sehr plötzlich und hat die vorhergehende Periode viele konservative Elemente in den führenden Organen der Partei angesammelt, so wird sie sich im entscheidenden Moment als unfähig erweisen, ihre Führerrolle zu erfüllen, zu der sie sich im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte vorbereitet hat. Die Partei wird von Krisen zersetzt, die Bewegung geht an ihr vorüber – zur Niederlage. [31]

Zusammenfassend warnt er:

Einfacher ausgedrückt: eine Partei, die mit den historischen Aufgaben ihrer Klasse nicht Schritt hält, läuft Gefahr, zum indirekten Werkzeug anderer Klassen zu werden oder wird es auch tatsächlich. [32]

Man kann sich kaum einen grundlegenderen Richtungswechsel vorstellen als den Übergang zur Machteroberung. Trotzki spricht in diesem Zusammenhang von einer strategischen, nicht nur taktischen Wende für die Partei. Diese Unterscheidung ergibt sich mit Notwendigkeit aus der imperialistischen Epoche, die von Kriegen und Revolutionen gekennzeichnet ist.

Vor dem Ersten Weltkrieg stand die Zweite Internationale nie vor der Aufgabe, den Aufstand zu planen und die Macht zu erobern – abgesehen von den russischen Sozialdemokraten im Jahr 1905.

Die Revolution von 1905 verschaffte den russischen Marxisten einen großen Vorteil, da sie eine intensive Diskussion über die Frage der revolutionären Strategie auslöste. Das wichtigste Ergebnis dieser Debatte war Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Sie besagt, dass die demokratischen und nationalen Aufgaben in Ländern mit einer verspäteten kapitalistischen Entwicklung, wie Russland, nur gelöst werden können, wenn die Arbeiterklasse in einer sozialistischen Revolution die Macht übernimmt.

Im Gegensatz dazu wurde das geistige Klima in der Zweiten Internationale weiterhin von Fragen der parlamentarischen Taktik, der Gewerkschaftstaktik, der Taktik in den Gemeinden oder in den Genossenschaften geprägt. Diese Ausrichtung fasste Karl Kautsky im Dezember 1893 in einem Artikel für Die Neue Zeit zusammen:

Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, dass es ebensowenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen. [33]

Kautsky erklärt:

Da wir über die Entscheidungsschlachten des sozialen Krieges nichts wissen, können wir natürlich ebensowenig sagen, ob sie blutige sein werden, ob die physische Gewalt eine bedeutende Rolle in ihnen spielen oder ob man sie ausschließlich mit den Mitteln ökonomischer, legislativer und moralischer Pression ausfechten wird. [34]

Man muss hier betonen, dass kein Marxist zu dieser Zeit Kautskys Formulierung widersprochen hätte. Die deutsche Sozialdemokratie, die bedeutendste Sektion der Zweiten Internationale, arbeitete unter Bedingungen der allgemeinen Expansion des Kapitalismus und konnte tatsächlich keine revolutionäre Bewegung des Proletariats heraufbeschwören.

Doch diese politischen Gegebenheiten hatten mit der Zeit auch politische Folgen. Trotzki erklärte dazu 1914 in Der Krieg und die Internationale:

Theoretisch marschierte die Bewegung des deutschen Proletariats unter der Fahne des Marxismus. Doch in seiner Abhängigkeit von den Bedingungen der Epoche wurde der Marxismus für das deutsche Proletariat nicht zur algebraischen Formel der Revolution, wie er es in der Epoche seiner Schöpfung war, sondern zur theoretischen Methode der Anpassung an den mit dem preußischen Helm bekrönten nationalkapitalistischen Staat …

In viereinhalb Jahrzehnten hat die Geschichte dem deutschen Proletariat nicht eine einzige Gelegenheit geboten, mit stürmischem Vorstoß ein Hindernis zu stürzen, in revolutionärem Anlauf irgendeine feindliche Position zu erobern. Infolge der wechselseitigen Beziehungen der sozialen Kräfte war es gezwungen, Hindernisse zu umgehen oder sich ihnen anzupassen. In dieser Praxis war der Marxismus als Denkmethode ein wertvolles Werkzeug politischer Orientierung. Aber er konnte nicht den possibilistischen Charakter der Klassenbewegung ändern, die ihrem Wesen nach in dieser Epoche in England, Frankreich und Deutschland gleichartig war. [35]

Bei Ausbruch des Krieges zeigte sich, dass nicht die offizielle marxistische Ideologie der Parteien der Zweiten Internationale entscheidend war, sondern der reformistische Charakter ihrer Praxis, der zum politischen Opportunismus und zur Integration in die bürgerliche Ordnung führte.

Die Bolschewistische Partei, die sich im ständigen Kampf gegen den Opportunismus herausgebildet hatte, entwickelte sich zu einer revolutionären Partei, die weltweit ihresgleichen suchte. Wie Trotzki schreibt:

Die Tradition des heroischen Kampfes gegen den Zarismus, die Gepflogenheiten der revolutionären Selbstverleugnung, die eng mit der illegalen Tätigkeit verknüpft ist – eine theoretische Verarbeitung der revolutionären Erfahrungen der ganzen Menschheit – der Kampf mit dem Menschewismus – der Kampf mit den „Narodniki“ – der Kampf mit den opportunistischen Tendenzen – die ungeheuren Erfahrungen der Revolution vom Jahre 1905 – die theoretische Durcharbeitung dieser Erfahrungen in den Jahren der Gegenrevolution – das Herantreten an die Probleme der internationalen Arbeiterfragen vom Standpunkt der revolutionären Lehren vom Jahre 1905 – das war dasjenige, was in seiner Gesamtheit unserer Partei eine außergewöhnliche Festigkeit verlieh, den größten theoretischen Scharfsinn und einen beispiellosen revolutionären Schwung. [36]

Doch sogar in dieser Partei war der Widerstand gegen den Aufstand enorm und rief einen Konflikt zwischen zwei entgegengesetzten Tendenzen hervor: einer proletarischen Tendenz, die nach der Weltrevolution strebte, und einer kleinbürgerlichen Tendenz, deren Politik auf die Unterordnung des Proletariats unter die bürgerliche Ordnung hinauslief.

Diese innerparteilichen Konflikte waren nicht zufällig, sondern unausweichlich – sowohl 1917 als auch in späteren revolutionären Situationen:

Wenn man unter Bolschewismus eine Erziehung, eine solche Organisation des proletarischen Vortrupps versteht, durch den ihm eine bewaffnete Ergreifung der Macht ermöglicht wird, wenn man die Sozialdemokratie als eine reformistisch-oppositionelle Betätigung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und eine Erziehung der Massen zur Anerkennung der Unantastbarkeit des bürgerlichen Staates ansieht, so wird es klar, dass auch innerhalb der kommunistischen Partei, die ja auch nicht fertig aus dem Ofen der Weltentwicklung kommt, der Kampf zwischen der sozialdemokratischen Tendenz und dem Bolschewismus um so heftiger, offener, demaskierter sich äußern muss, je mehr die Partei in die Periode der unmittelbaren Revolution tritt, wo die Frage der Machtergreifung zur Schicksalsfrage wird. [37]

Zum Schluss möchte ich noch auf die Frage eingehen, wie Trotzki die Rolle Lenins in der Revolution bewertete. Ja, er stimmte nicht mit Lenin überein, als es in der Diskussion über die Taktik darum ging, ob man den Aufstand unter dem Banner der Partei oder dem der Sowjets organisieren sollte. Und doch erkannte er deutlicher als jeder andere, welche unverzichtbare historische Rolle Lenin dabei spielte, die Parteiführung auf den Weg des Aufstands zu führen.

Trotzki stellt die rhetorische Frage:

[K]ann denn ein so bedeutendes Ereignis auch von 24 Stunden abhängen? Ja, es kann; [...] Wenn die Lenin’sche Erregung, der Druck, die Kritik, dieses unausgesetzte revolutionäre Misstrauen nicht gewesen wäre, hätte die Partei wohl kaum die Front im entscheidenden Moment aufgerollt; denn der Widerstand in den Spitzen der Partei war ein sehr großer und von der Führung im Krieg sowohl als im Bürgerkrieg hängt alles ab. [38]

Er fasst die politischen Aufgaben der Kommunistischen Internationale zusammen und schließt mit folgenden ebenso prägnanten wie grundlegenden Worten:

Was heißt es, die Bolschewisierung der kommunistischen Parteien? Das heißt: eine derartige Erziehung und eine solche Auswahl der Führer, dass sie nicht im Augenblick ihrer Oktoberrevolution versagen. „Das ist Hegel und Bücherweisheit und der Sinn aller Philosophie!“ [39]

In einem zentralen Kapitel seiner Stalin-Biographie befasst sich Trotzki mit der Beziehung zwischen einem genialen Führer wie Lenin und der revolutionären Partei.

Oberflächlich gesehen scheint es sich zu widersprechen, wenn man zugleich die Rolle Lenins als genialen Führer und die unentbehrliche Rolle der Avantgarde-Partei in der Revolution hervorhebt. Doch zu einer solchen Schlussfolgerung kommt man nur, wenn man die Beziehung zwischen beiden nicht richtig versteht.

Trotzki wirft die Frage auf:

Doch worin bestand das Wunder, das es Lenin ermöglichte, die Partei in ein paar Wochen in eine neue Bahn zu lenken? Die Antwort darauf muss in zwei Richtungen zugleich gesucht werden: in den persönlichen Qualitäten Lenins und in der objektiven Situation. Lenin war stark, nicht nur weil er die Gesetze des Klassenkampfs verstand, sondern auch deshalb, weil er den in lebendigster Bewegung befindlichen Massen ständig sein Ohr zu leihen wusste. Er repräsentierte nicht so sehr den Parteiapparat als vielmehr die Vorhut des Proletariats. [...] Lenins heftiger Angriff war nicht seinem individuellen Temperament entsprungen, sondern aus dem Druck hervorgegangen, den die Klasse auf die Partei und die Partei auf den Apparat ausübte.“ [40]

Trotzki fragt weiter: „Heißt das, dass in der bolschewistischen Partei Lenin alles ist und die anderen nichts?“ Diese Auffassung weist er zurück:

Das Genie schafft die Wissenschaft nicht aus sich selbst heraus, es beschleunigt vielmehr nur den kollektiven Denkprozess. Die bolschewistische Partei hatte einen genialen Führer. Das war kein Zufall. Ein Revolutionär von der Kraft und Größe Lenins konnte nur der Führer der furchtlosesten Partei sein, einer Partei, imstande, in Gedanke und Tat bis zur letzten Konsequenz zu gehen. [...] Ohne die Partei wäre Lenin ohnmächtig gewesen, wie Newton und Darwin ohne die kollektive wissenschaftliche Betätigung ohnmächtig gewesen wären. [41]

Lenin seinerseits stellte mitten in den stürmischen Ereignissen der Revolution fest, dass es „keinen besseren Bolschewiken“ als Trotzki gebe, nachdem dieser begriffen habe, dass keine organisatorische Einheit mit den Menschewiki möglich sei.

In Die Lehren des Oktobers kommt das Wesen des Bolschewismus zum Ausdruck, so wie es sich Trotzki zu eigen gemacht hatte.

1982 schrieb David North vier Essays, die unter dem Titel Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus veröffentlicht wurden. Dort erklärte er:

Aufgrund der konkreten historischen Erfahrung der Arbeiterklasse in Russland und international arbeitete Trotzki die Auffassung aus, dass das Schicksal der sozialistischen Revolution auf Jahre und sogar Jahrzehnte hinaus von Entscheidungen abhängen kann, die die Führung einer marxistischen Partei innerhalb weniger Tage fällt.

In diesem Zusammenhang bekam der Begriff der Kaderausbildung und der Rolle der Internationale einen neuen geschichtlichen Inhalt. [...] Die historische Aufgabe der Komintern bestand darin, in ihren Sektionen international einen Kader auszubilden, der dieser Aufgabe gewachsen sein würde. [42]

Die Revolution vorzubereiten und ihren Erfolg zu sichern ist in erster Linie eine Frage der Entwicklung der Parteikader, allen voran ihrer Führer, zu Marxisten. „Das heißt: eine derartige Erziehung und eine solche Auswahl der Führer, dass sie nicht im Augenblick ihrer Oktoberrevolution versagen“, wie Trotzki in Die Lehren des Oktobers schrieb.

Das ist die Bedeutung von Trotzkis Konzept der Partei als „Schule der revolutionären Strategie“. Deshalb sagt er, die Vorbereitung auf den nächsten Oktober – „Das ist Hegel und Bücherweisheit und der Sinn aller Philosophie!“ Und aus diesem Grund insistiert Trotzki: „Ohne entschlossene, tapfere Parteiführung ist der Sieg der proletarischen Revolution nicht denkbar.“

Heute sind das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und die World Socialist Web Site die einzigen, die das Studium der Lehren der Oktoberrevolution, das Trotzki als unbedingt notwendig bezeichnete, wirklich ernst nehmen.

Die Oktoberrevolution war ein Ereignis von bahnbrechender Bedeutung in der Weltgeschichte. Zum ersten Mal stürzte die Arbeiterklasse die bürgerliche Ordnung und beschritt den Weg der sozialistischen Weltrevolution.

Die furchtbaren Ereignisse, die die Revolution bald einholten, darunter die bürokratische Degeneration und die Verbrechen Stalins, dürfen weder den Blick auf diese historische Errungenschaft verstellen noch die Arbeiterklasse daran hindern, die Lehren aus diesen Erfahrungen zu ziehen.

Diejenigen unter euch, die unsere Vortragsreihe verfolgt haben, werden erkennen, dass all die Fragen, die Trotzki behandelte – der Kampf gegen Krieg und Vaterlandsverteidigung, die Theorie der Permanenten Revolution, Lenins Aprilthesen, die Julitage, die Vorbereitungen des Oktoberaufstands –, auch im Zentrum unserer eigenen Vorträge standen.

Auf diese Weise, durch die politische Ausbildung der besten und weitsichtigsten Teile der Arbeiterklasse und Jugend, bereiten wir der sozialistischen Revolution den Weg.

Im Übergangsprogramm, dem Gründungsdokument der Vierten Internationale, schrieb Trotzki:

Alles Gerede, dass die geschichtlichen Bedingungen noch „nicht reif“ seien für den Sozialismus, ist ein Erzeugnis von Unwissenheit oder bewusstem Betrug. Die objektiven Voraussetzungen für die proletarische Revolution sind nicht nur „reif“, sondern beginnen bereits zu verfaulen. Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der gesamten menschlichen Kultur eine Katastrophe. Alles hängt nunmehr vom Proletariat ab, das heißt vor allem von seiner revolutionären Vorhut. Die geschichtliche Krise der Menschheit läuft auf die Krise der revolutionären Führung hinaus. [43]

Die Lösung dieser Krise heißt, sich dem IKVI anzuschließen und es aufzubauen. In den Reihen des IKVI werden sich die fortschrittlichsten Arbeiter und Jugendlichen wappnen und eine revolutionäre politische Führung bilden, die jetzt, da der Weltkapitalismus in eine neue Periode der Kriege und Revolutionen eintritt, so dringend notwendig ist.

Anmerkungen

[1] Internationales Komitee der Vierten Internationale (Hrsg.), Warum die Russische Revolution studieren: Die Februarrevolution und die Strategie der Bolschewiki, Bd. 1, Essen 2017, S. 38.

[2] Leo Trotzki, „Die Lehren des Oktobers“, in: Trotzki Schriften Oktoberrevolution 1917, Dortmund 1978, S. 43f.

[3] W. I. Lenin, „Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen. Brief an das Zentralkomitee, an das Petrograder und das Moskauer Komitee der SDAPR“, in: Lenin Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 1.

[4] Ebd.: „Die Krise ist herangereift“, S. 65; „Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petrograder Komitee und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Petrograd und Moskau“, S. 125; „Brief an die Mitglieder des ZK“, S. 224.

[5] Ebd.: „Die Krise ist herangereift“, S. 67 (Hervorhebung im Original).

[6] Ebd.: „Brief an die Genossen Bolschewiki, die am Kongress der Sowjets des Nordgebiets teilnehmen“, S. 169.

[7] Ebd.: 169f. (Hervorhebung im Original).

[8] Ebd.: „Resolution“, S. 178.

[9] Josef Stalin, „Die Rolle der hervorragendsten Funktionäre der Partei“, in: Prawda, Nr. 241, zitiert nach: Leo Trotzki, Die Fälschung der Geschichte der Russischen Revolution, Dortmund 1977, S. 13 (Hervorhebung im Original).

[10] Trotzki, Die Lehren des Oktobers, S. 62.

[11] „Erklärung G. Sinowjews und J. Kamenews am 24. (11.) Oktober 1917“ in: W.I. Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XXI: Die Revolution von 1917. Die Vorbereitung des Oktobers, Verlag für Literatur und Politik: Wien/Berlin 1931, S. 613–18, hier: S. 614.

[12] Alle Zitate ebd., S. 614–616.

[13] „Erklärung G. Sinowjews und J. Kamenews am 24. (11.) Oktober 1917“, ebd., S. 617. Die hier verwendete Ausgabe von „Die Lehren des Oktobers“ enthält eine andere Übersetzung.

[14] „Die Lehren des Oktobers“, ebd., S. 52.

[15] W.I. Lenin, „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: Lenin Werke, Bd. 22, S. 198 (Hervorhebung im Original).

[16] W.I. Lenin, „Brief an die Mitglieder der Partei der Bolschewiki“, in: Lenin Werke, Bd. 26, S. 204f. (Hervorhebung im Original).

[17] W.I. Lenin, „Brief an die Genossen“, in: ebd., S. 184 (Hervorhebung im Original).

[18] Leo Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1990, S. 293.

[19] Trotzki, „Die Lehren des Oktobers“, S. 63.

[20] Trotzki, Mein Leben, S. 294.

[21] Лев Д. Троцкий, «Современное положение и задачи военного строительства. Доклад на 3-м Всесоюзном совещании политработников Красной Армии и Флота 21 октября 1923» [Leo D. Trotzki, „Die aktuelle Lage und die Aufgaben des militärischen Aufbaus. Bericht auf der 3. Allsowjetischen Konferenz der Politarbeiter der Roten Armee und Flotte vom 21. Oktober 1923“, in: Лев Д. Троцкий, Материалы и документы по истории Красной армии: Как вооружалась революция [Leo D. Trotzki, Materialien und Dokumente zur Geschichte der Roten Armee: Wie sich die Revolution bewaffnete], Bd. 3, Moskau 1925, S. 147f. (aus dem Russischen).

[22] Heinrich Brandler („Josef“): Privatbrief an Clara Zetkin zum Konflikt infolge des „geschlossenen Briefes“ aus Moskau (13.11.1923), in: Bernhard H. Bayerlein et al. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003, S. 359.

[23] Троцкий, «Современное положение и задачи военного строительства» [Trotzki, „Die aktuelle Lage und die Aufgaben des militärischen Aufbaus“], S. 153 (aus dem Russischen).

[24] Iosif Stalin: Empfehlung an Grigorij Zinov’ev zur Zurückhaltung der KPD (07.08.1923), in: Bayerlein et al. (Hg.), Deutscher Oktober 1923, S. 100.

[25] Trotzki, „Die Lehren des Oktobers“, ebd., S. 17.

[26] Ebd., S. 14.

[27] Ebd.

[28] Ebd., S. 75f.

[29] Ebd., S. 15.

[30] Ebd., S. 17.

[31] Ebd., S. 17f.

[32] Ebd., S. 18.

[33] Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt a. M. 1972, S. 52.

[34] Ebd., S. 53.

[35] Leo Trotzki, „Der Krieg und die Internationale“, in: Europa im Krieg, Essen 1998, S. 438f.

[36] Trotzki, „Die Lehren des Oktobers“, ebd., S. 78.

[37] Ebd., S. 26.

[38] Ebd., S. 62.

[39] Ebd., S. 81.

[40] Leo Trotzki, Stalin. Eine Biographie, Essen 2001, S. 260f.

[41] Ebd., S. 261.

[42] David North, „Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus. Zum Tode von Tom Henehan“, in: gleichheit. Zeitschrift für sozialistische Politik & Kultur, Nr. 1/2014, S. 22f. (Hervorhebung im Original).

[43] Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 84.

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