Diesen Vortrag hielt Tom Carter vom Nationalen Komitee der Socialist Equality Party (USA) am 21. Oktober 2017. Es war der zweite Vortrag der zweiten Staffel internationaler Online-Vorträge, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) aus Anlass des 100. Jahrestags der Oktoberrevolution von 1917 organisierte. Drei weitere Vorträge fanden am 14. Oktober, am 28. Oktober und am 11. November 2017 statt. Die ersten fünf Vorträge der Reihe wurden im Frühjahr gehalten und sind mittlerweile unter dem Titel „Warum die Russische Revolution studieren“ im Mehring Verlag erschienen. Der Band kann hier für 10 EUR bestellt werden.
Einführung
Der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution, an den das Internationale Komitee der Vierten Internationale auf der World Socialist Web Site erinnert, hat das Interesse an diesem historischen Ereignis auf der ganzen Welt neu entfacht. Gleichzeitig wird der Jahrestag missbraucht, um die alten Verleumdungen und Falschdarstellungen über die tatsächlichen Ereignisse im ausgehenden Jahr 1917 wieder aufzuwärmen und in Umlauf zu bringen.
Ein Beispiel dafür ist die New York Times, ein Sprachrohr des amerikanischen Imperialismus mit engen Verbindungen zum militärischen und geheimdienstlichen Establishment. Mit ihrer vielteiligen Artikelserie „Rotes Jahrhundert“ legt sich die Zeitung schon das ganze Jahr über mächtig ins Zeug, um die Oktoberrevolution in den Schmutz zu ziehen. Ähnliche Bestrebungen sind weltweit zu beobachten.
In vielen Punkten sind es die Propagandalügen der Weißgardisten, die im Bürgerkrieg nach der Revolution die Regierung der Sowjets stürzen wollten, die die New York Times heute, einhundert Jahre später, wiederkäut und aufzuwerten sucht: Die Bolschewiki waren „deutsche Agenten“, finanziert mit „deutschem Gold“, es fehlte ihnen an Massenunterstützung, die Oktoberrevolution war das Werk einer kleinen Verschwörergruppe ausländischer Extremisten usw.
Den Historiker, den die New York Times als Autorität auf dem Gebiet der Oktoberrevolution anpreist, Sean McMeekin, könnte man so gesehen einen „Neo-Weißgardisten“ nennen. Glaubt man ihm, so war die Machteroberung der Bolschewiki der Verrat an einer Nation, die von Krieg und Entbehrung geschwächt war, eine „feindliche Übernahme“, die McMeekin als „tollkühne, riskante und knappe Operation“ charakterisiert.[1]
McMeekin macht kein Hehl aus seinen politischen Sympathien. „Ungeachtet wachsender Probleme, ungleichmäßiger ökonomischer Entwicklung und gärender revolutionärer Stimmungen war die Lage im zaristischen Russland im Jahr 1900 stabil, und die meisten, wenn nicht alle Untertanen des Zaren waren stolz auf die Größe und Macht des Reiches.“[2] Das Problem der zaristischen Regierung Russlands sei es gewesen, dass der Zar auf seine „liberalen Berater“ gehört und den „eindringlichen Warnungen Rasputins“ (McMeekin) keine Beachtung geschenkt habe. Die Sowjetmacht, so McMeekin, war nicht „das Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung, des Klassenkampfes, der wirtschaftlichen Entwicklung oder anderer unerbittlicher geschichtlicher Kräfte, die von der marxistischen Theorie vorhergesehen wurden“, sondern, und nun zitiert er den reaktionären Historiker Richard Pipes, das Schurkenwerk „bekannter Individuen, die ihren eigenen Vorteil suchten“. Nach Pipes war die Oktoberrevolution „die Eroberung der Regierungsmacht durch eine kleine Minderheit“.[3]
Diesen Behauptungen will McMeekin größeres Gewicht verleihen, indem er sie „seriösen Historikern” zuschreibt. Und unzweifelhaft gibt es eine ganze Reihe von Personen mit klangvollen akademischen Titeln, die diese Behauptungen weltweit verbreiten. Doch kein ernsthafter und ehrlicher Historiker, ob er nun mit den Bolschewiki sympathisiert oder nicht, kommt an dem beeindruckenden Faktenmaterial vorbei, das die Unterstützung der Massen für die Bolschewiki in der Periode vor dem Oktoberumsturz belegt.
Der amerikanische Trotzkist James Cannon nannte die Oktoberrevolution eine „bewusste Operation“. Der Historiker Rex Wade beschreibt es so:
Viele, die über die Revolution geschrieben haben, haben die Arbeiter als passive und gleichförmige Masse dargestellt, die von Radikalen und Bolschewiki leicht manipuliert werden konnte. Weit gefehlt. Die Arbeiter spielten eine aktive Rolle in der Revolution durch Fabrikversammlungen und Komitees, durch ihre zahlreichen Organisationen, ihre Unterstützung für die eine oder andere Partei, sowie durch die häufigen informellen Versammlungen auf Straßen und an Fabriktoren. Sie beteiligten sich aktiv an vielen großen Demonstrationen im Februar 1917 und danach, weil sie zu dem Schluss gekommen waren, dass dies in ihrem Interesse lag. Die Arbeiter entschieden sich bewusst dafür, sich zu engagieren, nicht aufgrund der Manipulation durch politische Parteien.[4]
In diesem Vortrag geht es um einige der wichtigsten Formen der Massenbewegung, auf die sich die Oktoberrevolution stützte, wie die Fabrikkomitees und das Phänomen der Arbeiterkontrolle. Den Schwerpunkt werde ich dabei auf die entscheidende Rolle legen, die diese Formen in der Periode nach den Julitagen bis kurz vor dem bolschewistischen Aufstand und insbesondere während der Kornilow-Affäre spielten.
Die Bolschewiki und die Arbeiterklasse
Petrograd war Anfang des Jahres 1917 beileibe kein Provinznest, sondern die fünftgrößte Stadt Europas und eines der größten Industriezentren weltweit. Die Produktion von Kriegsmaterial für die Armeen des Zaren war in wenigen Fabriken konzentriert, von denen viele über hochmoderne elektrisch betriebene Maschinen verfügten. Im russischen Reich, in dem in weiten Teilen erdrückende ländliche Armut und Rückständigkeit herrschten, nahm Petrograd mit seinen riesigen Fabrikansiedlungen, der Konzentration von Massen von Arbeitern und relativ fortgeschrittenen Produktionsmethoden eine herausragende Stellung ein.
Bis 1917 hatte die Metropole Petrograd Hunderttausende verarmte Bauern aus den umliegenden ländlichen Gebieten angezogen und sie immer schneller den Reihen des Proletariats einverleibt. In den 15 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Fabrikarbeiter in Petrograd von 73.000 auf 242.600. 1917 waren es bereits 417.000.[5] In ganz Russland zählte die Arbeiterklasse im Jahr 1917 etwa 2 Millionen, gegenüber 1,5 Millionen 1905.[6]
Metallarbeiter stellten den größten Teil der Arbeiterklasse in Petrograd. Die Maschinen, die sie bedienten, muteten damals wohl wie Objekte aus einer fernen Zukunft an: „Moderne Bohrmaschinen, Revolverdrehbänke, Vertikalbohrwerke, selbstfahrende Planiermaschinen und Horizontalfräsmaschinen.“[7]
Anfang 1917 war die Stadt von enormen inneren Spannungen und Widersprüchen geprägt. Die herrschende Elite Petrograds lebte in geradezu märchenhaftem Luxus. Sie ließ sich mit ihren Adelstiteln ansprechen und schmückte sich mit Ritterorden. In ihren vergoldeten Palästen standen ihr Hausangestellte und Chauffeure zu Diensten. Doch in der gleichen Stadt ragten in Ballungsgebieten, die zu den größten Europas zählten, im Schatten der Schornsteine riesige Mietskasernen in die Höhe, unmittelbar neben Fabriken der Schwerindustrie. Die Mieten in Petrograd waren unbezahlbar. Viele Arbeiter teilten sich die Miete für ein einziges Stockbett. Während einer auf Schicht war, schlief der andere.[8]
Die Arbeit in den Fabriken selbst forderte physisch das Äußerste ab, die Luft war voller Schadstoffe, und um die Sicherheit in den Betrieben war es schlecht bestellt. Arbeitsunfälle waren an der Tagesordnung. Arbeiter verletzten sich an den Maschinen oder brachen vor Erschöpfung einfach zusammen. Der Lohn für zehn bis zwölf Stunden knochenharter Arbeit in einer Petrograder Fabrik reichte nicht aus, um Lebensmittel und Miete zu bezahlen. Die Familien lebten zusammengepfercht auf engstem Raum, unter unzureichenden hygienischen Bedingungen, ohne Lüftung oder fließend Wasser. Die Infrastruktur in den Arbeitervierteln war schadhaft oder fehlte ganz. Viele Arbeiter schickten einen Teil ihrer niedrigen Löhne an Verwandte auf dem Land, die dringend darauf angewiesen waren, und hungerten selbst. Um die hohen Miet- und Lebenshaltungskosten zu stemmen, verdingten sich Zehntausende Petrograder Frauen als Arbeiterinnen, zu noch geringeren Löhnen als die Männer.
Der Arbeiterklasse in Petrograd waren praktisch alle Formen politischer Meinungsäußerung untersagt. Arbeiter waren angehalten, über Probleme mit der Werksleitung persönlich zu sprechen. Streikende Arbeiter riskierten Prügel von der Polizei, Gefängnis oder die Verbannung nach Sibirien. Im Juni 1915 eröffnete die Polizei das Feuer auf streikende Weber in Kostroma, es gab vier Tote und neun Verletzte. Zwei Monate später schossen Truppen in Iwanowo-Wosnessensk auf Arbeiter und töteten sechzehn, dreißig wurden verwundet.
In den Industriegebieten unterhielten die zaristischen Behörden ein Netzwerk aus Informanten und Agenten der Geheimpolizei. Arbeiter, die als „politisch“ eingestuft wurden, kamen auf eine schwarze Liste, so dass keine Fabrik sie mehr einstellte. Betriebe, die für den Krieg produzierten, wurden militärischer Disziplin unterstellt, und jede Form von Protest galt als Verrat. Die zaristischen Behörden zogen Tausende von Arbeitern, die sie politischer Aktivität verdächtigten, zur Armee ein und kommandierten sie an die Front ab.
In den Fabriken herrschte Diktatur im Kleinformat. Am Beginn der Schicht trieben die Vorarbeiter die Arbeiter auf erniedrigende Weise zusammen und an die Maschinen. Die Arbeiter nannten diese Fabrikaufseher „Mini-Zaren“ (wie amerikanische Arbeiter heutzutage einen besonders rücksichtslosen Manager als „Mini-Trump“ bezeichnen könnten).
Nach Schichtende wurden die Arbeiter am Fabriktor durchsucht, angeblich, um sie am Stehlen zu hindern. Die Arbeiter Petrograds waren natürlich erbost über die niedrigen Löhne und gefährlichen Arbeitsbedingungen und über den Mangel an politischen Freiheiten. In besonderem Maße aber hassten sie die, von denen sie gefilzt wurden, weil sie sich in ihrer Menschenwürde verletzt fühlten.
Die Unterdrückung konnte nicht verhindern, dass es in Petrograd einen sehr regen politischen Untergrund gab. Begriffe wie „Sozialismus“, „Marxismus“ und „Revolution“ waren überall zu hören. Trotz widriger Umstände wurden Fabriken bestreikt. Dabei war es sehr wahrscheinlich, (1) dass es eine bolschewistische Betriebszelle gab und (2) dass Arbeiter beteiligt waren, die schon Streikerfahrung gesammelt hatten.[9]
Doch die Bolschewiki waren keine gewerkschaftliche Bewegung. Sie organisierten nicht nur Streiks für Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Ihr Bestreben war immer darauf gerichtet, den wirtschaftlichen Kämpfen der Arbeiterklasse einen unabhängigen politischen Charakter zu verleihen. Die Bolschewiki vermittelten den Arbeitern Kenntnisse über Geschichte, Politik und Kultur. Unermüdlich kämpften sie dafür, in die Arbeiterklasse ein Wissen über die Geschichte ihrer Kämpfe zu tragen und ein Verständnis der politischen und ökonomischen Situation und Entwicklung in Russland und Europa. Ins Zentrum ihrer Arbeit stellten sie die unabhängigen politischen und sozialen Interessen der internationalen Arbeiterklasse in Abgrenzung zu anderen Klassen und Schichten der Gesellschaft. Mit anderen Worten, sie kämpften für sozialistisches Bewusstsein in der Arbeiterklasse.
Seit der Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands in Menschewiki und Bolschewiki hatten die Bolschewiki immer größten Wert auf den Unterschied zwischen spontanem Bewusstsein und Klassenbewusstsein gelegt. „Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie“, schrieb Lenin in Was tun?, „… denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschaftlerei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie. Darum besteht unsere Aufgabe … im Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen.“[10]
In seiner Geschichte der Russischen Revolution führt Trotzki die folgende Tabelle an: [11] Es wird unterschieden zwischen ökonomischen und politischen Streiks. In ökonomischen Streiks ging es um Löhne, Länge des Arbeitstages und Arbeitsbedingungen. Ein politischer Streik aber war gegen die Politik der Regierung gerichtet, diente dem Protest gegen die Verfolgung von Arbeitern und ihren Führern oder dem Gedenken an ein wichtiges historisches Ereignis wie den Blutsonntag.[12] Natürlich wurden bei vielen Streiks neben ökonomischen auch politische Forderungen aufgestellt, und das Bewusstsein einzelner streikender Arbeiter ging bisweilen über die von der Führung aufgestellten Forderungen hinaus. Dennoch ist die wachsende Zahl politischer Streiks in dieser Periode ein wichtiger Gradmesser für das politische Bewusstsein in der Arbeiterbewegung.
Trotzki beschreibt das Wiederaufleben revolutionärer Kämpfe der Arbeiterklasse nach der Periode der Reaktion, die im Anschluss an die Revolution von 1905 eingesetzt hatte. Seine Worte lassen einen an die heutige Situation denken.
Große Niederlagen entmutigten für lange. Die revolutionären Elemente verlieren die Macht über die Massen. Noch nicht erloschene Vorurteile und Aberglaube gewinnen in ihrem Bewusstsein die Oberhand. Die grauen Abkömmlinge des Dorfes verwässern inzwischen die Arbeiterreihen. Die Skeptiker schütteln ironisch die Köpfe. So geschah es in den Jahren 1907 bis 1911. Doch die molekularen Prozesse in den Massen heilen die psychischen Wunden der Niederlagen. Eine neue Wendung der Ereignisse oder ein unterirdischer ökonomischer Anstoß eröffnet einen neuen politischen Zyklus. Revolutionäre Elemente finden wieder ihr Auditorium. Der Kampf lebt auf höherer Stufe auf.[13]
Ich möchte kurz aus den Memoiren von Alexander Buiko zitieren, einem bolschewistischen Metallarbeiter, der vor der Revolution in den Putilow-Werken arbeitete. Er beschreibt, wie er bei seinen Versuchen, Kollegen zu überzeugen, immer wieder auf hartnäckige Vorurteile stieß, die besonders unter Facharbeitern verbreitet waren. Man gewinnt einen Eindruck von der jahrelangen geduldigen Arbeit der Bolschewiki an der Basis. Buiko schreibt:
Sprach ein junger Arbeiter einen älteren gelernten Mechaniker oder Dreher an, so bekam er zu hören: „Lerne doch erst mal, einen Hammer zu halten und mit einem Meißel und Messer richtig umzugehen. Dann kannst du wie ein Mann auftreten, der anderen etwas beibringen kann.“ Viele Jahre kamen wir da keinen Schritt weiter. Wenn du ein Organisator sein wolltest, musstest du das beherrschen. Warst du gut, dann sagten sie, gar nicht so schlecht, der Junge, er arbeitet gut und versteht viel von Politik.[14]
Bei ihren Kampagnen in der Arbeiterklasse betonte die Bolschewistische Partei beharrlich, dass Arbeiter unabhängig von Hautfarbe, kulturellem Hintergrund und Geschlecht gemeinsam den Kampf gegen Kapitalismus und Krieg führen mussten. In der Bolschewistischen Partei gab es eine für die damalige Zeit bemerkenswerte Anzahl weiblicher Führer – Nadeschda Krupskaja, Alexandra Kollontai, Elena Stasowa und andere –, und eine Zeitung der Partei für Arbeiterinnen, Rabotniza.[15]
Klaudia Nikolajewa, Druckerin und Tochter eines Arbeiters, wurde 1893 geboren und schloss sich 1909 der Bolschewistischen Partei an. 1917, mit knapp 24, war sie in Petrograd Mitherausgeberin der Rabotniza, eine verantwortungsvolle politische Aufgabe. In der Bolschewistischen Partei gab es viele solche jungen Führerinnen, die man als politische Ausnahmeerscheinungen bezeichnen muss. Nach der Revolution unterstützte Nikolajewa Trotzki und war später Mitglied der Linken Opposition.
Auch wenn nicht alle Arbeiter unbedingt auf Anhieb mit den Bolschewiki übereinstimmten, führte deren langjährige beharrliche Untergrundarbeit dazu, dass die Petrograder Arbeiter die Bolschewiki mit den konsequentesten Forderungen nach politischer Emanzipation, Reorganisation der Gesellschaft, Frieden, Gleichheit und Fortschritt der Menschheit assoziierten. Die Bolschewiki erwarben sich Respekt als die ernsthaftesten, mutigsten und prinzipientreuesten Kämpfer für die Interessen der Arbeiter.
Trotzki zitiert aus einem Polizeibericht über die Bolschewiki in der Zeit vor Kriegsbeginn: „Am energischsten, verwegensten, zum unermüdlichen Kampf, Widerstand und zur dauernden Organisierung am befähigtsten sind jene Elemente, Organisationen und Personen, die sich um Lenin konzentrieren.“[16] Anfang 1917 standen die Werke mit den Namen Aiwaz, Baranowski, Vulkan, Nobel, Neue Lessner, Phoenix und Pusyrew für starke Gruppen militanter Arbeiter, die der Bolschewistischen Partei angehörten oder mit ihr sympathisierten.[17]
Im Februar 1917 stürzte dann die Petrograder Arbeiterklasse das zaristische Regime tatsächlich, und der brodelnde politische Untergrund bahnte sich den Weg an die Oberfläche. Die Februarrevolution wurde in der Tat von „aufgeklärten und gestählten Arbeitern [geführt], die hauptsächlich von der Partei Lenins erzogen worden waren“, wie Trotzki schreibt.[18] Doch die revolutionäre Massenbewegung der Arbeiterklasse im Februar war noch nicht durch die Bolschewistische Partei vereint und von ihr angeleitet. Zwar gelang es den Arbeitern in der Februarrevolution, den Zaren zu stürzen, doch das Resultat in Petrograd und im ganzen Land war eine heterogene Vielzahl von Arbeiterkämpfen und Organisationen aller Art und Größe, unter anderem Gewerkschaften, Fabrikkomitees und Sowjets.
Fabrikkomitees und Arbeiterkontrolle
Während der Februarrevolution und danach erhoben die revolutionären Arbeiter von Petrograd zahlreiche und unterschiedlichste ökonomische und politische Forderungen. Eine der spektakulärsten nach der Februarrevolution war die nach voller Bezahlung der Arbeiter für die Tage, an denen sie für den Sturz des Zaren auf die Straße gegangen waren.
Während der Februarrevolution war das sogenannte „Hinauskarren“ weit verbreitet. Die Fabrikarbeiter in Petrograd griffen sich buchstäblich die Fabrikleiter und Vorarbeiter, setzten sie in Schubkarren und beförderten sie an die frische Luft. Das wurde auch anderswo rasch zur Gewohnheit. Der Historiker Stephen A. Smith schreibt:
Mit dem „Hinauskarren” bekräftigten die Arbeiter symbolisch ihre menschliche Würde. Es war eine Art rituelle Demütigung derer, die ihnen diese Würde in ihrem Arbeitsleben geraubt hatten.[19]
Die Arbeiter gaben sich also nicht damit zufrieden, den Zaren vom Thron zu stoßen, sie wollten auch alle „Mini-Zaren“ in den Fabriken absetzen.
In vielen Fabriken gingen Arbeiter noch weiter. Nach dem „Hinauskarren“ der Bosse übernahmen sie die „Kontrolle“ über die Fabriken; die Form, in der sie diese Kontrolle ausübten, waren die Fabrikkomitees. Viele Betriebe im gesamten früheren Zarenreich folgten ihrem Beispiel. Form und Struktur dieser Komitees unterschieden sich von Fabrik zu Fabrik und von Stadt zu Stadt. In einem aber unterschieden sich alle Fabrikkomitees von den Gewerkschaften: Sie traten für die „Arbeiterkontrolle“ ein.
Die Fabrikkomitees beschlagnahmten und öffneten die Bücher der Fabrik. Sie entdeckten, dass die Unternehmer in manchen Fällen enorme Profite eingestrichen hatten, während sie behauptet hatten, das Unternehmen mache keinen Gewinn und Lohnerhöhungen kämen daher nicht in Frage. Die Komitees nahmen eine genaue Bestandsaufnahme des Geld- und Sachvermögens der Unternehmen vor. Kapitalisten und Reaktionäre versuchten ständig, die Arbeiterbewegung zu diskreditieren, indem sie Produktion und Verteilung sabotierten, und die Komitees traten diesen Versuchen entgegen und machten sie öffentlich. Sie entschieden eigenständig über Entlassungen und Einstellungen. Sie nahmen sich das Recht, rücksichtslose Manager zu entlassen und Arbeiter, die auf der schwarzen Liste standen, wieder einzustellen.
Trotzki hatte diese Entwicklung bereits vor 1917 abgesehen. In der Auseinandersetzung zwischen ihm und Lenin über die Losung „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ sah er vorher, dass „… das Proletariat … vom ganzen Verlauf der Revolution dazu gestoßen wird, selbst die Macht zu übernehmen“.[20] Es könne nicht willkürlich beim Sturz des Zaren und der Schaffung eines bürgerlich-demokratischen Regimes stehenbleiben. Als die führende soziale Kraft in der Revolution dürfe und könne die Arbeiterklasse nicht von Klassenmaßnahmen abgehalten werden, um bereits am Arbeitsplatz ihre Interessen zu sichern und zu vertreten.
Für eine große Welle sozialer Kämpfe, wie die des Jahres 1917, lassen sich nur schwer allgemeingültige Aussagen machen. Zu jeder Verallgemeinerung gibt es Ausnahmen, regionale Unterschiede, Veränderungen und Fluktuationen. In den Gewerkschaften und Fabrikkomitees waren viele aktiv – Bolschewiki, Menschewiki, Sozialrevolutionäre (SR) und parteilose Arbeiter.
Doch nimmt man Russland im Jahr 1917 als Ganzes, lässt sich sagen, dass die Gewerkschaften eher konservativ oder „politisch neutral“ waren und die Politik der Menschewiki und SR unterstützten. Die Fabrikkomitees dagegen standen fest hinter den Bolschewiki. Die Bolschewiki ermutigten die Bildung dieser Komitees. Delegiertenversammlungen der Fabrikkomitees nahmen wiederholt bolschewistische Resolutionen an.
Die Provisorische Regierung suchte den Einfluss der Fabrikkomitees zu bekämpfen, indem sie sie einerseits als legal anerkannte, sie aber gleichzeitig auf die Rolle von Gewerkschaften beschränken wollte. In seiner Rede auf einem Kongress der Betriebskomitees am 13. Juni 1917 forderte Lenin die Arbeiter auf, solche Versuche zurückzuweisen: „Genossen Arbeiter, setzt eine wirkliche Kontrolle und keine Scheinkontrolle durch und weist alle Resolutionen und Vorschläge zur Schaffung einer solchen papierenen Scheinkontrolle aufs Entschiedenste zurück.“[21]
Sehr schnell entstanden überall Fabrikkomitees, und bei einer ihrer Konferenzen 1917 waren mehr als 5000 Arbeiter aus allen Fabriken vertreten. Die Delegierten kamen direkt vom Fließband zur Konferenz, nachdem ihre Kollegen sie gewählt hatten.
Die Unternehmer ließen natürlich nichts unversucht, um die Bildung dieser Komitees zu verhindern. Überliefert ist ein Bericht einer Ledermanufaktur mit einer Belegschaft von 19 Arbeitern, deren Eigentümer alle Arbeiter entließ, als diese ein Fabrikkomitee gründen wollten.[22] In weiteren Fabriken versuchte die Firmenleitung, die Führer der Komitees zu entlassen, und Arbeiter mussten in den Streik treten, um ihre Wiedereinstellung zu erzwingen.
Wenn Arbeiter und ihre Familien großen Hunger litten, versuchten die Fabrikkomitees, Lebensmittel für sie zu beschaffen und zu verteilen. In den Fabriken sorgten sie dafür, dass diszipliniert gearbeitet wurde, und kämpften gegen Trunkenheit. Im Chaos und in der Anarchie der revolutionären Periode stellten sie die Produktion dringend benötigter Geräte, Kleidung und Gebrauchsgegenstände sicher.
Am beunruhigendsten für die Behörden war wohl, dass viele Fabrikkomitees den Streitkräften der Provisorischen Regierung kein Vertrauen entgegenbrachten und ihre eigenen bewaffneten Milizen bildeten, die sie Rote Garden nannten. Vor allem in den Fabriken, in denen der Einfluss der Bolschewiki dominierte, entstanden schnell Rote Garden, und sie waren die militantesten.
Im Peterhof-Viertel legten die Arbeiter am 26. April fest, wer sich den Roten Garden anschließen durfte:
Nur die Blüte der Arbeiterklasse darf beitreten. Es muss gewährleistet sein, dass keine unwürdigen oder schwankenden Leute in ihre Reihen eintreten. Wer Mitglied der Roten Garden werden will, muss vom Distriktkomitee einer sozialistischen Partei vorgeschlagen werden.[23]
In den Roten Garden waren Männer und Frauen vertreten. Sie sorgten für Sicherheit in den Fabrikbezirken und verteidigten Arbeiterwohnungen und Arbeitsplätze gegen die zahlreichen Brandanschläge extrem rechter Kräfte. Die Roten Garden erklärten, dass nur die Arbeiterklasse die Errungenschaften der Russischen Revolution gegen die Kräfte der Konterrevolution verteidigen und ausdehnen könne. Die Menschewiki verurteilten die Roten Garden und machten „leninistische Propaganda“ für ihre Entstehung verantwortlich.
Die Fabrikkomitees nahmen sich mit großem Interesse kultureller Fragen an. In den Putilow-Werken gründeten Arbeiter einen Kulturclub mit einer Bücherei und einer Cafeteria.[24] Dieser Club zählte 2000 Mitglieder. Als Ziel gab er aus, „die Arbeiterklasse in einem sozialistischen Geist zu vereinen und zu entwickeln. Dazu braucht es Allgemeinwissen und Entwicklungsfähigkeit, und die Grundlagen dafür sind Lesen, Schreiben, Bildung.“[25]
Auf der Wasili-Insel wurde im März 1917 ein Club namens „Neue Morgenröte“ gegründet, der schon bald 800 Mitglieder aus dem Tabakpfeifenwerk hatte. Er organisierte eine geografische Expedition, eine Fahrt mit einem Dampfschiff, Vorträge und ein Konzert mit Blasmusikkapelle für Arbeiter.[26]
Bei der Eröffnung des Clubs der Gewehrfabrik wurden Arien aus Opern des russischen Komponisten Modest Mussorgski vorgetragen, und eine Arbeiterband trug die Internationale und die Arbeiter-Marseillaise vor. „Der Club hatte eine Bibliothek mit 4000 Büchern, einen Lesesaal, ein kleines Theater und eine Schule. Am Abend fanden Alphabetisierungskurse und Unterricht in Rechtskunde, Naturwissenschaften und Mathematik statt.“[27]
In Arbeiterclubs in Petrogad wurden Stücke der berühmten russischen Schriftsteller Alexander Ostrowski, Leo Tolstoi, Nikolai Gogol und auch des deutschen Dramatikers Gerhart Hauptmann und anderer aufgeführt.[28]
Die Bolschewiki lehnten es bekanntlich ab, die Provisorische Regierung und den Krieg zu unterstützen. Sie führten das ganze Jahr über einen politischen Kampf in der Arbeiterklasse in Gegnerschaft zu allen anderen Tendenzen. Unter dem Eindruck der Ereignisse schwenkten die Belegschaften der Fabriken eine nach der anderen zu den Bolschewiki über. In seiner Geschichte der Russischen Revolution hebt Trotzki vor allem einen Organisator der Putilow-Werke hervor:
Das Putilow-Werk mit seinen 40 000 Arbeitern schien in den ersten Revolutionsmonaten die Feste der Sozialrevolutionäre zu sein. Doch hielt seine Garnison den Bolschewiki nicht lange stand. An der Spitze der Angreifer konnte man am häufigsten Wolodarski sehen. Früher Schneider, Jude, der viele Jahre in Amerika verbracht und die englische Sprache gut erlernt hatte, war Wolodarski ein glänzender Massenredner, logisch, schlagfertig und kühn. Die amerikanische Betonung machte seine klangvolle Stimme, die in vieltausendköpfigen Versammlungen klar ertönte, eigenartig ausdrucksvoll. „Mit seinem Erscheinen im Narwski-Bezirk“, erzählt der Arbeiter Minitschew, „begann im Putilow-Werk der Boden unter den Füßen der Herren Sozialrevolutionäre zu schwanken, und nach kaum zwei Monaten gingen die Putilow-Arbeiter mit den Bolschewiki.“[29]
Wolodarski, der während des Kriegs in den USA lebte, war dort aktiv in der International Trade Union of Tailors und in der Socialist Party. In New York schrieb er für eine Zeitung. Nach seiner Rückkehr nach Russland schloss er sich Trotzkis Meschrajonzi an und dann zusammen mit Trotzki der Bolschewistischen Partei. 1918 wurde er von den SR ermordet.
Das Fabrikkomitee der Putilow-Werke appellierte an die Arbeiter, die Abendschule zu besuchen: „Die Überzeugung, dass Wissen alles ist, muss tief in euer Bewusstsein sinken. Das ist das Wesen des Lebens, und nur das kann dem Leben Sinn verleihen.“[30]
Kulturelle und Bildungsfragen zählen nun zu den drängendsten Fragen … „Genossen, versäumt nicht die Gelegenheit, wissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben. Lasst keine einzige Stunde fruchtlos verstreichen. Jede Stunde ist uns kostbar. Wir müssen die Klassen, gegen die wir kämpfen, nicht nur einholen: Wir müssen sie überholen. Das gebietet das Leben, darauf kommt es an. Wir sind jetzt selbst die Herren unseres Lebens, und deshalb müssen wir sämtliche Waffen des Wissens beherrschen.“[31]
94,7 Prozent der Mechaniker der Putilow-Werke konnten lesen und schreiben, besagt eine Studie. Unter den Petrograder Metallarbeitern waren es 92 Prozent. In den ländlichen Regionen im europäischen Teil Russlands waren es zu dieser Zeit 17 Prozent.[32]
Die Formen, in denen die Arbeiterkontrolle nach der Februarrevolution ausgeübt wurde, waren in vieler Hinsicht ein Spiegelbild der „Doppelherrschaft“ auf der politischen Ebene. Einzelne Kontrollfunktionen in der Fabrik wurden de facto von den revolutionären Arbeitern ausgeübt, während die Eigentümerschaft und das Verfügungsrecht de jure bei den Kapitalisten verblieben.
Trotzki nannte die Arbeiterkontrolle, bei passenden Voraussetzungen, „eine Schule der Planwirtschaft“. In diesem Sinne machte das Fabrikkomitee der Putilow-Werke 1917 folgende Vorgaben für die Bildung von Betriebskomitees:
Diese Komitees, die sich um die einfachen Dinge des alltäglichen Lebens kümmern, sollten weitgehend unabhängig sein und größtmögliche Initiative entfalten. Der Erfolg von Arbeiterorganisationen in den Fabriken hängt ganz und gar davon ab. Die Arbeiter gewöhnen sich an die Selbstverwaltung und bereiten sich so auf die Zeit vor, wenn der Privatbesitz an Fabriken und Betrieben abgeschafft sein wird und die Produktionsmittel zusammen mit den Gebäuden, die die Arbeiter selbst errichtet haben, in den Besitz der Arbeiterklasse als Ganzes übergehen. Während wir uns also um die kleinen Dinge kümmern, müssen wir immer das große Ziel der arbeitenden Bevölkerung [rabochii narod] vor Augen haben.[33]
Die herrschende Klasse, die noch unter den Schlägen der Februarrevolution ächzte, sah sich gezwungen, für eine kurze Zeit der Arbeiterkontrolle stattzugeben. Doch sobald die Kapitalisten sich wieder gefangen hatten, waren sie entschlossen, ihre Privilegien zurückzuerobern.
„Die Widersprüche eines solchen Regimes, das mit dem Prinzip der Arbeiterkontrolle unvereinbar ist, werden sich, je mehr deren Basis und Aufgaben sich erweitern, unvermeidlich verschärfen und rasch als unerträglich erweisen“, schrieb Trotzki später.[34] Er erklärte, es gebe aus dieser Situation der „Doppelherrschaft“ nur zwei Auswege: die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse oder eine konterrevolutionäre Diktatur.
Die Kornilow-Affäre
Diese zweite Möglichkeit, bekannt als „Kornilow-Affäre“, nahm im Russland von 1917 im Putschversuch von General Kornilow Gestalt an. Die genaueren Umstände dieses Putschs wurden bereits im letzten Vortrag erklärt.
Allen Beschreibungen zufolge war Lawr Kornilow ein grobschlächtiger und unsympathischer Mensch. Sein Kollege, General Jewgeni Martynow charakterisierte ihn als „völlig ahnungslos in Sachen Politik“, während General Michail Alexejew ihn als „Mann mit dem Herz eines Löwen und dem Hirn eines Schafs“ bezeichnete.[35] Kornilow fand großen Gefallen daran, Truppen in heimatlichen Trachten aufmarschieren zu lassen, die ihre Säbel schwangen und grimmig auf seine zahlreichen Anhänger starrten. Von Statur klein und o-beinig, versuchte er sich das Image eines gefährlichen Kampfhundes zuzulegen. Er stand den Schwarzhundertern nahe, eine Art russischer Ku-Klux-Klan.
Kornilows militärische Laufbahn war nicht besonders ruhmreich. 1915 wurde er beim Spazierengehen im Wald von den Österreichern gefangengenommen, konnte aber entkommen. Während der gescheiterten Kerenski-Offensive erlangte er Bekanntheit, weil er befahl, auf Soldaten, die sich zurückzogen, wahllos zu schießen. Die Soldaten hassten ihn natürlich dafür, während er in rechtsextremen Kreisen zum Nationalhelden aufstieg. Zu einem späteren Zeitpunkt des Krieges, als er Riga aufgeben musste, befahl er seinen Offizieren, Soldaten wegen Feigheit am Straßenrand zu erschießen, obwohl diese tapfer gekämpft hatten. Als Offiziere sich weigerten, diese grausamen Befehle auszuführen, geriet Kornilow in Rage und drohte den Offizieren eine Anklage wegen Ungehorsams vor einem Kriegsgericht an.
Kornilows politisches Programm war brutal, aber einfach. Anders als der doppelzüngige Alexander Kerenski, der gegenüber den „gemäßigten“ sozialistischen Parteien wie den Menschewiki und den SR Verhandlungsbereitschaft vortäuschte, wäre Kornilow das nie in den Sinn gekommen. Für ihn waren alle Sozialisten – Bolschewiki, Menschewiki und SR – „Russlands innere Feinde“ und sehr wahrscheinlich die bezahlten Spione ausländischer Mächte. Kornilow würde die Hauptstadt einnehmen, die Arbeiterorganisationen zerstören, ihre Führer aufhängen und gegen jeden, der ihn aufhalten wollte, die Artillerie einsetzen.
Bei der zaristischen Militärelite, den Regierungsbürokraten, Großgrundbesitzern und Wirtschafts- und Bankenmagnaten genoss Kornilow bald den Nimbus eines Retters der Nation. Alle führenden Medien und selbst führende SR wie Boris Sawinkow und Kerenski unterstützten ihn.
Kornilows Marsch auf Petrograd gingen eine Reihe von Intrigen zwischen Kerenski und Kornilow voraus. Kerenski war nicht weniger „Kornilowianer“ als Kornilow selbst. Ihr Konflikt drehte sich um die Frage, wer von beiden an der Spitze der Regierung von „Blut und Eisen“ stehen würde, die sie beide für nötig hielten, um die Arbeiter Petrograds niederzuwerfen. Am 31. Juli 1917 (18.7. nach dem alten Kalender) ernannte Kerenski Kornilow zum Chef der Armee und versuchte so, die wachsende Unterstützung für Kornilow im politischen Establishment für seine Zwecke auszunutzen.
Am 24. (11.) August äußerte Kornilow gegenüber seinem Stabschef, es sei höchste „Zeit, die deutschen Spione und Schützlinge mit Lenin an der Spitze zu hängen“ und den Petrograder Sowjet auseinanderzujagen, und zwar „so, dass er nicht wieder zusammentritt“.[36] Am 25. (12.) August befahl Kornilow der Armee den Marsch auf Petrograd. Er erklärte: „Das Korps wird am Abend des 28. August in den Vorstädten Petrograds Stellung bezogen haben. Ich ersuche um die Verhängung des Kriegsrechts über Petrograd am 29. August.“
Zu den nach Petrograd abkommandierten Truppen zählte die kaukasische Division, die „wilde Division“ des Zaren. Kornilows Unterstützer konnten ihre Vorfreude auf das bevorstehende Blutbad in der Hauptstadt nicht verhehlen. Offen prahlten sie: „Den Bergtruppen ist es ja gleich, wen abzuschlachten.“[37] Einer der Slogans, die später in der Weißen Armee üblich waren, lautete: „Wir haben völlig freie Hand! Gott ist mit uns … schlagt links wie rechts!“[38] Heute würde dem etwa die Losung entsprechen, die den amerikanischen Besatzern des Irak zugeschrieben wird: „Tötet sie alle, Gott kann dann ihre Leichen sortieren.“
Welche Pläne verfolgte Kornilow mit dem Militär in Petrograd? Als die Russische Revolution von 1905 niedergeschlagen wurde, bombardierte das Militär den Moskauer Stadtteil Presnja. Das gesamte Industriegebiet, in dem viele Arbeiter und ihre Familien auf engem Raum wohnten, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Entlang der Eisenbahngleise fanden Strafexpeditionen statt: „Die Truppen gingen in Eisenbahnstationen und schossen auf alle, die sich in der Nähe befanden – auf Frauen, Kinder, Eisenbahnarbeiter. Es wurden alle niedergeschossen, die gerade da waren. Einige wurden zur Abschreckung entlang der Strecke aufgehängt.“[39]
Zur Erinnerung: Das Jahr 1871 lag 1917 ebenso lange zurück wie das Jahr 1971 heute. Viele Mitglieder der Bolschewistischen Partei hatten das Blutbad an den Kommunarden in Paris als Zeitzeugen erlebt, und die Führung der Partei war sich dieser konterrevolutionären Gefahr stets bewusst. Als die Konterrevolutionäre 1918 in Finnland an die Macht kamen, schlachteten sie nach einer Schätzung von Victor Serge über 100.000 finnische Arbeiter ab.
Auch sollte man wissen, dass sich Kornilow und seine Unterstützer durch pathologischen Antisemitismus auszeichneten. Der britische Kriegskorrespondent John Ernest Hodgson, der einige Zeit mit Anton Denikin, einem Kornilow-General, verbrachte, berichtete:
Bereits nach einem Monat mit Denikin war mir klar, dass die jüdische Frage ein äußerst wichtiges Element in den russischen Wirren war. Die Offiziere und Armeeangehörigen sahen bei den Juden praktisch die Alleinschuld für die Probleme ihres Landes. Sie glaubten, das ganze Schlamassel sei durch eine große und mysteriöse Geheimgesellschaft internationaler Juden erzeugt, die auf Geheiß und bezahlt von Deutschland den psychologisch günstigen Moment ausgenutzt und die Macht an sich gerissen hatten. Alle zu der Zeit verfügbaren Zahlen und Fakten schienen dieser Behauptung Glaubwürdigkeit zu verleihen. Nicht weniger als 82 Prozent der bolschewistischen Kommissare waren Juden. Auch der brutale und unerbittliche Trotzki, der sich mit Lenin ein Büro teilte, war jüdisch und hieß mit richtigem Namen Bronstein. Denikins Offiziere waren regelrecht besessen von diesen Vorstellungen. Sie klammerten sich verbissen und hartnäckig an sie, was sie zu den abenteuerlichsten und realitätsfernsten Behauptungen verleitete.[40]
Im Bürgerkrieg verübten die Weißen Armeen überall im europäischen Teil Russlands Massaker an den Juden und wiesen ihre Anhänger an, „das Böse, das in den Herzen der Juden-Kommunisten lauert“, zu vernichten. Viele Historiker beklagen von ihrem jeweiligen Standpunkt aus die Brutalität des Bürgerkriegs in Russland. Doch sollte man im Auge behalten, mit wem Trotzki und die Rote Armee es zu tun hatten. Und niemanden dürfte es überraschen, dass viele Führer der Weißen Armee zu einem späteren Zeitpunkt die Nazis unterstützten und mit ihnen zusammenarbeiteten.[41] Das waren die Kräfte, die für den Kornilow-Putsch mobilisiert wurden.
Als Kerenski von Prinz Georgi Lwow über Kornilows Forderungen informiert wurde, glaubte er zunächst an einen Scherz und brach in lautes Gelächter aus. Prinz Lwow gab ihm mit ernster Miene zu verstehen, die Angelegenheit sei nicht zum Lachen, und Kerenski selbst solle Petrograd schnellstmöglich verlassen, wenn ihm sein Leben lieb sei. Kornilow bestimmte den General Alexander Krymow, den Marsch auf Petrograd zu führen. Krymow verkündete, dass er notfalls nicht zögere, „den ganzen Arbeiter- und Soldatenrat zu hängen“.[42] Am 28. August stiegen die Kurse an der Börse in Petrograd stark an, weil man davon ausging, dass Kornilows Sieg unmittelbar bevorstand.
Als die Arbeiter in den Fabriken von Kornilows Absichten erfuhren, ließen sie in einer Fabrik nach der anderen die Warnsirenen ertönen. Die Petrograder Arbeiter hatten die Revolution von 1905 erlebt und wussten, wozu Kornilow fähig war, sollte er in die Stadt eindringen können. Führer der Bolschewiki in den Industriegebieten hatten schon das ganze Jahr über vor dieser Gefahr gewarnt. Sie erklärten, die herrschende Klasse spiele lediglich auf Zeit und würde ihre Scheinreformen und Scheinkoalitionen früher oder später aufgeben und gewaltsam die Arbeiter niederzuschlagen versuchen. Arbeiter vernahmen die Sirenen und strömten auf die Straßen, und die bolschewistischen Führer waren bereits auf ihren Posten und gaben Befehle zur Verteidigung der Stadt aus. Innerhalb von Stunden feuerte die Stadt aus allen Rohren und die organisierte Arbeiterklasse erhob sich mit aller Kraft.
Im Mai, als der menschewistische Führer Irakli Zereteli und die Führung des Sowjets die besonders radikalen Matrosen von Kronstadt verfolgen ließen, verteidigte Trotzki die Matrosen. Er warnte Zereteli, dass, „wenn ein konterrevolutionärer General versuchen sollte, der Revolution eine Schlinge um den Hals zu werfen, werden Kadetten den Strick einseifen, Kronstädter Matrosen aber werden kommen, um mit euch zusammen zu kämpfen und zu sterben“.[43] Die Ereignisse bestätigten Trotzkis Worte über den konterrevolutionären General, die Kadetten und die Kronstadt-Matrosen auf ganzer Linie. Als sie erfuhren, dass Kornilow vor der Stadt stand, rückten sie schwerbewaffnet in die Stadt ein, bereit, sie mit ihrem Leben zu verteidigen.
Die Matrosen des Panzerkreuzers Aurora schickten eigens eine Delegation zum Gefängnis, in dem Trotzki einsaß, um seinen Rat einzuholen. Sollten sie das Winterpalais verteidigen oder es stürmen? Trotzki riet ihnen, sich zuerst Kornilow vorzunehmen und anschließend mit Kerenski abzurechnen.
Die Bolschewistische Partei spielte die führende Rolle bei der Verteidigung Petrograds. Die gesamte Einwohnerschaft wurde mobilisiert, Schützengräben ausgehoben, Sperren aus Stacheldraht errichtet und der Nachschub zu den Befestigungen organisiert. Suchanow von den Menschewiki-Internationalisten schrieb später:
Das Komitee [zur Bekämpfung der Konterrevolution], das die Vorbereitungen für die Verteidigung traf, musste die Massen der Arbeiter und Soldaten mobilisieren. Aber soweit die Massen organisiert waren, waren sie von den Bolschewiki organisiert und folgten ihnen. Zu jener Zeit war die bolschewistische Organisation die einzige, die groß war, von elementarer Disziplin zusammengehalten wurde und mit den demokratischen untersten Schichten der Hauptstadt verbunden war. Ohne sie war das Komitee machtlos. Ohne die Bolschewiki hätte es die Zeit nur mit Appellen und nutzlosen Ansprachen seiner Redner verbringen können, die ihre Autorität längst verspielt hatten. Mit den Bolschewiki stand dem Komitee die volle Macht der organisierten Arbeiter und Soldaten zur Verfügung.[44]
Wenn Kornilows Anhänger Telegramme verschicken wollten, weigerten sich die Arbeiter des Telegrafenamtes. Wollten sie mit ihren Autos zu Regierungsgebäuden gefahren werden, lehnten die Chauffeure ab. Wenn sie Flugblätter drucken lassen wollten, stellten sich die Druckereiarbeiter quer. Wenn Offiziere ihren Soldaten befahlen, Kornilow zu unterstützen, wurden sie von diesen gepackt und festgesetzt. Arbeiter in Fabriken, die für den Krieg produzierten, stellten Waffen für sich selbst her und nahmen sie mit in den Kampf.
Nach den Julitagen hatte die Provisorische Regierung versucht, die Kompanien der Roten Garden zu entwaffnen, doch diese gingen in den Untergrund. Die Arbeiter ließen es zu, dass die Behörden ältere und ungeeignete Waffen beschlagnahmten, versteckten aber die effektiveren Waffen, wo sie konnten. In dieser Periode formten die Bolschewiki die Roten Garden von einer bewaffneten Miliz der Industriegebiete zum Kern einer bolschewistischen Armee. Die Roten-Garden-Kompanien waren wie die Fabrikkomitees formal überparteilich, doch stellten bolschewistische Arbeiter immer mehr den Kern jeder Kompanie und auch ihre Führung. Die Bolschewistische Partei stellte den Einheiten der Roten Garden militärische Instruktoren an die Seite und versorgte sie, wo möglich, auch mit Waffen. Militärische Übungen wurden zunächst in Arbeiterwohnungen und -siedlungen, dann auch offen auf dem Gelände von Fabriken abgehalten.
Während Kornilow sich Petrograd näherte, erschienen Einheiten der Roten Garden auf den Straßen, bewaffnet mit einfachen Gewehren und Maschinengewehren. Die Roten Garden, die Zehntausende zählten, erlangten schnell die Kontrolle über alle strategisch wichtigen Stellungen in Petrograd. In den Industriegebieten richteten sie Rekrutierungsstellen ein, und es bildeten sich lange Schlangen von Freiwilligen.
Eisenbahnarbeiter warnten entlang den Strecken, dass niemand Soldaten befördern sollte. Sie beluden Waggons mit Holz und stellten sie quer über die Gleise und rissen über viele Kilometer und in alle Richtungen Schienen aus ihrer Verankerung. Manchmal beförderten sie Soldaten von Kornilow mit den Zügen in die entgegengesetzte Richtung, weg von Petrograd. Krymows Einheiten waren bald über Hunderte von Kilometern Schienennetz verstreut und saßen dort fest.
Revolutionsredner aus Petrograd begaben sich zu den gestrandeten Zügen und sprachen zu den Truppen. Man kann sich Krymows Zorn ausmalen, als Soldaten, die seinem Befehl unterstanden, plötzlich Massenversammlungen abhielten, um Entscheidungen zu treffen, Komitees wählten, Offiziere verhafteten und Resolutionen verabschiedeten. Nach und nach tauchten unter Kornilows Divisionen rote Fahnen auf. Selbst die sogenannte „wilde Division“ hisste nach einem Treffen mit muslimischen Delegierten des Sowjetkongresses die rote Fahne. Innerhalb von Tagen war Kornilows Putsch gescheitert.
Schlussfolgerungen
Trotzki bemerkte später: „Jene Armee, die sich gegen Kornilow erhob, war die zukünftige Armee der Oktoberrevolution.“[45] Als die Arbeiterklasse den Vormarsch Kornilows stoppte, ließ sie zum ersten Mal unter der Führung und Anleitung einer revolutionären marxistischen Partei ihre Muskeln spielen. Nach dem Kräftemessen mit der Konterrevolution nahmen die Petrograder Arbeiter eine Bewertung der Lage vor: Unter der Führung der Bolschewiki waren sie stärker als Kornilow. Sie waren stärker als Kerenski und seine Unterstützer unter den SR und Menschewiki. Es gab keine gesellschaftliche Kraft, die sie aufhalten konnte. Es herrschte gehobene Stimmung. Arbeiter und Soldaten betrachteten sich als Helden, die das Land vor einer entsetzlichen Katastrophe bewahrt hatten. Trotzki zitiert den Soldat einer Panzerdivision, der sich an die allgemeine Stimmung so erinnerte: „… Ja, bei solchem Mut könne man sich mit der ganzen Welt schlagen…“[46]
Die Bolschewiki hatten zu Recht gewarnt, dass mit der Bourgeoisie keine „Koalition“ möglich war. Die Bourgeoisie war entschlossen, die Arbeiterklasse bei der erstbesten Gelegenheit zurück in die Sklaverei zu stoßen. Alle Parteien, die einen Kompromiss mit der Bourgeoisie befürwortet hatten, auch die Menschewiki und die SR, waren diskreditiert. Die Bolschewiki hatten die Arbeiter gewarnt: Es standen nur zwei Wege offen – eine konterrevolutionäre Diktatur oder die Arbeitermacht. Die Arbeiter erkannten, dass für sie nur die Eroberung der Macht in Frage kam.
Die Partei der SR, die ihre Basis in der Bauernschaft und bei den Berufssoldaten hatte, brach massiv ein. Ein Teil der SR-Führung war tief in den Kornilow-Putsch verstrickt, und die Unterstützung für die Partei war bereits zurückgegangen, weil sie keine nennenswerten Landreformen durchgesetzt hatte. „Die Massen, die das Vertrauen zu den Parteien der Sowjetmehrheit verloren hatten, sahen die konkrete Gefahr der Gegenrevolution. Sie glaubten, dass jetzt die Bolschewisten berufen seien, diese Gefahr zu bannen.“[47]
Nach der Niederlage des Kornilow-Putsches gewannen die Bolschewiki Mehrheiten in den Sowjets in Moskau und Petrograd und zunehmend auch in regionalen Sowjets. Ein Gewerkschaftskongress im Ural, der 150.000 Arbeiter repräsentierte, nahm bolschewistische Resolutionen an. Ein Soldat der Moskauer Garnison erinnerte sich, es „… bekamen bereits alle Truppenteile bolschewistische Färbung … Alle waren darüber erstaunt, wie die Worte (der Bolschewiki) …, General Kornilow werde bald vor den Mauern Petrograds stehen, in Erfüllung gegangen waren.“[48] Eine Allrussische Konferenz der Fabrik- und Betriebskomitees nahm eine Resolution an, in der es hieß: Die Arbeiterkontrolle „liegt im Interesse des gesamten Landes und muss unterstützt werden von der revolutionären Bauernschaft und der revolutionären Armee“. Trotzki erinnerte sich: „Die Resolution, die einer neuen ökonomischen Ordnung die Pforte öffnet, wird angenommen von den Vertretern sämtlicher Industrieunternehmen Russlands gegen fünf Stimmen bei neun Stimmenthaltungen.“[49]
Das Entstehen einer bolschewistischen Mehrheit in den Sowjets war ein Wendepunkt in der Russischen Revolution. Vor der Kornilow-Affäre waren die Bolschewiki im System der Sowjets, das nach der Februarrevolution entstanden war, in der Minderheit gewesen. Am 8. Oktober (25. September) wählte die neue Mehrheit Leo Trotzki in die wohl wichtigste Funktion im revolutionären Russland – zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets. Trotzki war während der Revolution von 1905 bereits Sprecher des Sowjets gewesen. Als Trotzki, gerade aus dem Gefängnis entlassen, gewählt wurde, stand er formal immer noch unter der Anklage des Hochverrats seitens der Kerenski-Regierung. Als er das Podium betrat, wurde er von den Arbeiter- und Soldatendelegierten mit „donnerndem Applaus“ empfangen, wie ein Beobachter berichtete.[50]
„Der Bolschewismus erobert das Land. Die Bolschewiki werden eine unüberwindliche Macht. Mit ihnen geht das Volk.“[51] Der schnelle Aufstieg von der Minderheit zur Mehrheit löste eine scharfe Kontroverse innerhalb der bolschewistischen Führung über die nächsten Schritte aus. Davon handelt der nächste Vortrag.
In einem diesjährigen Artikel, „Die Februarrevolution und Kerenskis verpasste Chance“, unterschlägt die New York Times mit Bedacht den Namen „Kornilow“.[52] Sie beklagt die Errichtung der Sowjetmacht nach dem Oktober, unterschlägt aber, was die Alternative gewesen wäre. Dabei weiß es die New York Times besser. 1917 nämlich nahm sie Stellung aufseiten Kornilows: Er „vertritt nur die Kräfte, welche, nachdem sie unverzeihlich lange geschwiegen haben, sich endlich zusammengetan haben, um den raschen Niedergang Russlands aufzuhalten, das Land als Nation zu bewahren, seine Auflösung zu verhindern, in einem Wort, es zu retten.“[53]
McMeekin ist da deutlicher, wenn er über die Kornilow-Affäre schreibt: „Kerenski erlaubte es der Bolschewistischen Militärorganisation, sich neu zu bewaffnen. So konnte sie sich die Waffen beschaffen, mit denen sie ihn zwei Monate später stürzen sollte. Eine kurzsichtige Entscheidung.“[54] Es ist klar, was das bedeutet. Den Bolschewiki nicht zu „erlauben“, sich wieder zu bewaffnen, bedeutete, Kornilow die Einnahme Petrograds zu gestatten.
Wäre Kornilow nicht aufgehalten worden, könnten wir heute natürlich nicht über die Oktoberrevolution von 1917 sprechen. Ohne die Oktoberrevolution würde unsere Welt ganz sicher sehr viel anders aussehen. Das Jahr 1917 wäre nicht das Gründungsjahr des ersten sozialistischen Arbeiterstaats, sondern das Entstehungsjahr der ersten völkermörderischen Diktatur des 20. Jahrhunderts, und zwar in Russland, nicht in Spanien, Italien oder Deutschland.
Ein Erfolg des Kornilow-Putsches im August 1917 hätte eine Bande abgehalfterter Generäle, krankhafter Antisemiten und religiöser Eiferer an die Macht gebracht, die alle ungeniert damit prahlten, dass sie in Petrograd ein großes Blutbad anrichten würden. Zuerst hätten sie alle Sozialisten an die Wand gestellt, dann wären sie nach Osteuropa und Asien ausgeschwärmt und hätten alle Sozialisten vernichtet, derer sie hätten habhaft werden können. Sie hätten dabei die uneingeschränkte Unterstützung der russischen Kapitalisten, Generäle und Aristokraten sowie Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten genossen.
Mit ihrer Verurteilung der Bolschewiki sagen die New York Times und ihresgleichen, dass ihnen der Sieg Kornilows lieber gewesen wäre. Die New York Times war 1917 außer sich über die Niederlage Kornilows, und daran hat sich auch nach einhundert Jahren nichts geändert. Zum Glück für die Arbeiterklasse in Petrograd und für die menschliche Zivilisation auf dem Planeten Erde wurde Kornilow gestoppt und konnte seine Pläne nicht in die Tat umsetzen.
In den Tagen der Sklavenhaltergesellschaft der Südstaaten in den Vereinigten Staaten verstieß man gegen das Gesetz, wenn man einem Sklaven das Lesen beibrachte. Die Sklavenhalter trieb die Angst um vor dem, was passieren könnte, wenn sich politisches Bewusstsein unter den Sklaven entwickelt. Heute, im Jahre 2017, wird ebenfalls versucht, Arbeiter und Jugendliche von der Geschichte und den Traditionen der Russischen Revolution abzuschneiden. Die herrschende Klasse lebt in panischer Angst, die unterdrückten Massen könnten entdecken, was politisch bewusste Arbeiter vollbringen können, die durch eine revolutionäre marxistische Partei organisiert und theoretisch geführt werden. So erklärt sich die neue Welle von Geschichtsfälschungen und Verleumdungen, die 2017 gegen die Bolschewiki entfesselt wird.
Die Bolschewistische Partei führte eine politisch bewusste Massenbewegung, deren zeitliche und räumliche Wirkungen beispiellos sind. Bis zum heutigen Tage kennt die Weltgeschichte keine machtvollere und progressivere Bewegung. Die internationale Arbeiterklasse aber kann und muss angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts noch weitergehen.
Das Programm der Bolschewiki stand für nicht weniger als die Reorganisation der menschlichen Gesellschaft auf dem ganzen Planeten auf einem höheren und rationalen Niveau, für ein Ende der imperialistischen Kriege und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Das Ziel war der Sturz aller Regierungen, die Öffnung aller Grenzen und die Beendigung aller Kriege. Dieses Programm fand nicht nur in Russland, sondern weltweit die Unterstützung der Massen, weil es zusammenkam mit den objektiven Interessen und Kämpfen der internationalen Arbeiterklasse, der mächtigsten und fortschrittlichsten gesellschaftlichen Kraft der Weltgeschichte.
Anmerkungen:
[1] Sean McMeekin, The Russian Revolution. A New History,New York 2017, S. xv (aus dem Englischen).
[2] Ebd., S. 12.
[3] Ebd., S. xii.
[4] Rex A. Wade, The Russian Revolution 1917,Cambridge 2017, S. 97 (aus dem Englischen).
[5] S. A. Smith, Red Petrograd,Cambridge 1983, S. 9–10 (aus dem Englischen).
[6] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Februarrevolution, Essen 2010, S. 32.
[7] S. A. Smith, Red Petrograd, S. 29.
[8] Ebd., S. 14.
[9] Ebd., S. 38.
[10] W. I. Lenin, „Was tun?“, in: Werke, Bd. 5, Berlin 1973, S. 396.
[11] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Februarrevolution, S. 33.
[12] S. A. Smith, Red Petrograd, S. 49.
[13] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Februarrevolution, S. 34.
[14] Zitiert in: S. A. Smith, Red Petrograd, S. 29.
[15] Rex A. Wade, The Russian Revolution 1917, S. 117–118.
[16] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Februarrevolution, S. 35.
[17] S. A. Smith, Red Petrograd, S. 52.
[18] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Februarrevolution, S. 133.
[19] S. A. Smith, Red Petrograd, S. 57.
[20] Leo Trotzki, „Drei Konzeptionen der russischen Revolution“ in: Stalin. Eine Biographie, Essen 2001, S. 486.
[21] W. I. Lenin, „Rede auf der I. Petrograder Konferenz der Betriebskomitees“, in: Werke, Bd. 24, Berlin 1978, S. 562.
[22] S. A. Smith, Red Petrograd, S. 80.
[23] Ebd., S. 100–101.
[24] Ebd., S. 96.
[25] Ebd.
[26] Ebd.
[27] Ebd.
[28] Ebd., S. 97.
[29] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Februarrevolution, S. 355.
[30] S. A. Smith, Red Petrograd, S. 95.
[31] Ebd.
[32] Ebd., S. 34.
[33] Ebd., S. 81.
[34] Leo Trotzki, „Über Arbeiterkontrolle der Produktion“ (20.8.1931), in: Schriften über Deutschland, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1971, S. 109.
[35] Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917, Essen 2012, S. 141.
[36] Ebd., S. 158 f.
[37] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution, Essen 2010, S. 182.
[38] А. Литвин, Красный и белый террор 1918–1922, Эксмо, 2004, S. 174, zitiert bei Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/White_Terror_(Russia), (aus dem Englischen).
[39] Fred Williams, „Das Erbe von 1905 und die Strategie der Russischen Revolution“, in: Warum die Russische Revolution studieren, Bd. 1, Essen 2017, S. 90.
[40] John Ernest Hodgson, „With Denikin's Armies: Being a Description of the Cossak Counter-Revolution in South Russia, 1918–1920”, London 1932, S. 54–56, zitiert bei Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Anton_Denikin (aus dem Englischen).
[41] Nikolai Markow etwa stand in Verbindung mit den Schwarzhundertern und dem rechtsextremen Bund des russischen Volkes. Er stand General Nikolai Judenitsch nahe, der den Putschversuch Kornilows unterstützt hatte und später eine führende Rolle in der Weißen Armee spielte. 1928 wurde Markow zum Unterstützer der Nazis und führte in den 1930ern Propagandakampagnen für sie durch. Während des Zweiten Weltkrieges stellten die Nazis im besetzten Serbien das Russische Schutzkorps (Russkii Korpus) auf, das sie aus 11.000 Weißen Emigranten bildeten. Befehligt wurde das Korps von Boris Shteifon, einem zaristischen General, der in der Weißen Armee diente und später mit den Nazis kollaborierte. Anastasy Wonsjazki war ein Weißer Offizier, der zusammen mit anderen am Weißen Aufstand von General Pjotr Wrangel Beteiligten aus der Krim evakuiert wurde. Nach seiner Emigration in die USA wurde er ein Führer der Russischen Faschistischen Partei.
[42] Zitiert in: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917, S. 159.
[43] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution, S. 281.
[44] Zitiert in: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917, S. 193.
[45] Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1990, S. 286.
[46] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution, S. 243.
[47] Leo Trotzki, „Die Lehren des Oktober“, in: Trotzki Schriften. Oktoberrevolution 1917, Dortmund 1978, S. 53.
[48] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution, S. 243.
[49] Ebd., S. 368.
[50] Isaac Deutscher, Trotzki. Der bewaffnete Prophet 1879–1921, Stuttgart 1972, S. 275.
[51] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution, S. 367.
[52] John Quiggin, „The February Revolution and Kerensky’s Missed Opportunity”, in: New York Times, 6. März 2017 (aus dem Englischen).
[53] „Why Korniloff Rebelled“, in: New York Times, 12. September 1917, (aus dem Englischen).
[54] Sean McMeekin, „Was Lenin a German Agent?”, in: New York Times, 19. Juni 2017 (aus dem Englischen).