Millionen demonstrieren in Chile für soziale Gleichheit

Am 25. Oktober demonstrierten in ganz Chile Millionen Menschen gegen soziale Ungleichheit und staatliche Gewalt. Es waren die größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes.

Fassungslose chilenische Fernsehkommentatoren sprachen bei diesem Anblick von einem „Menschenmeer“, einer „endlosen Kolonne“ und einem „Karneval des Volkes“. Allerdings sahen nur wenige Zuschauer diese Berichte, weil jeder zweite volljährige Einwohner des Landes an einer Demonstration teilnahm. Auf der Plaza Italia in Santiago versammelten sich mehr als eine Million Menschen, und auch in allen anderen Städten des Landes füllten die Demonstranten die Straßen und Plätze.

Mit den Demonstrationen vom Freitag ist der Strom der Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse deutlich angestiegen – schon die ganze Woche fanden massive soziale Proteste statt. Überall auf der Welt demonstrieren Arbeiter und Jugendliche für dieselbe grundlegende Forderung: soziale Gleichheit.

Im Irak töteten am gleichen Tag Soldaten 30 Teilnehmer der Proteste, die in Bagdad und den südlichen Industrieregionen des Landes ständig größer werden. Im afrikanischen Guinea demonstrierten am Donnerstag eine Million Menschen gegen eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten. Die Proteste im Libanon und auf Haiti gehen weiter, und auch im spanischen Barcelona und in Ecuador fanden letzte Woche Massenproteste statt.

In Chile waren die Proteste von der Arbeiterklasse dominiert. Eine überwältigende Mehrheit der Lehrer, Bergarbeiter, Dockarbeiter und anderer wichtiger Berufsgruppen bestimmten das Bild.

Lkw- und Taxifahrer blockierten die Autobahnen und Mautstraßen des Landes, und die Busfahrer in Santiago legten die Arbeit nieder, nachdem die Polizei einen von ihnen während einer Demonstration ermordet hatte. Die Mittel-, Oberschüler und Studenten aus dem ganzen Land marschierten unter den Fahnen ihrer Lehranstalten. Eine kilometerlange Karawane von Motorradfahrern bewegte sich durch Santiago. Hacker behaupteten, sie hätten persönliche Informationen über sämtliche Mitglieder der verhassten Carabinero-Polizeitruppe veröffentlicht.

Die Demonstrationen wurden von keiner Partei organisiert. Chilenische Reporter wiesen darauf hin, dass in den Menschenmengen keine Parteiflaggen oder -transparente zu sehen waren. Auch die Gewerkschaftsbürokratien waren nicht sichtbar präsent. El Pais äußerte sich Anfang letzter Woche besorgt darüber: „Keine im Kongress vertretene politische Kraft konnte die soziale Unruhe kanalisieren.“

Nur wenige Stunden vor Beginn der Massenproteste am Freitag hatte Präsident Sebastian Piñera versucht, die Demonstranten durch einen höheren Etat für die Rentenkassen zu beschwichtigen. Anfang letzter Woche hatte er außerdem die verhasste Erhöhung der U-Bahn-Fahrpreise zurückgenommen, die ursprünglich die Demonstrationen ausgelöst hatte. Im Verlauf des Wochenendes sah sich Piñera gezwungen, die gesamte Regierung zu entlassen.

Während immer mehr Menschen an den Protesten teilnahmen, verließen die Parlamentarier am Freitagnachmittag das Kongressgebäude in Valparaiso. Piñera verfiel in ein panikartiges Schweigen. Der Vorsitzende des Unterhauses erklärte: „Wir befinden uns in einer hochriskanten Situation. Ich habe die Einstellung aller Gesetzgebungstätigkeiten angewiesen und übernehme die Verantwortung dafür, dass alle Personen das Gebäude verlassen.“

Die 20.000 Polizisten und Soldaten, die aufgrund des weiterhin geltenden Ausnahmezustands in Santiago stationiert sind, wurden anfangs zur Bewachung von wichtigen Regierungsgebäuden zusammengezogen. Im Verlauf des Abends gingen sie jedoch vor dem Präsidentenpalast La Moneda gegen Demonstranten vor. Kurze Zeit später begann das Militär, die Ausgangssperre durchzusetzen, wobei es teilweise zu Zusammenstößen mit wütenden Demonstranten kam.

Derweil tauchen Berichte über schreckliche Folterungen durch die chilenische Polizei und das Militär auf. Das chilenische Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) erklärte am selben 25. Oktober, seit die Proteste vor mehr als einer Woche begonnen hätten, habe die Polizei 5.500 Menschen verhaftet.

Die INDH hat eine Klage eingereicht, laut der in einem Arbeitervorort von Santiago vier Menschen in der Polizeiwache gefoltert worden seien. Polizisten hätten sie „an einer Antenne ,gekreuzigt‘, an Handschellen aufgehängt und geschlagen“. Es gibt zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen, sexuelle Misshandlungen und brutale Prügelattacken. Neunzehn Menschen wurden getötet und Hunderte verletzt, 123 davon durch Schusswaffen der Polizei und des Militärs.

Die Polizei und das Militär bereiten ein massives Durchgreifen vor. Am Freitag hat das Militär Reservisten aus den Provinzen des Landes für Verwaltungsaufgaben einberufen, um weitere 15.000 Soldaten gegen die Demonstranten einsetzen zu können.

Vor 46 Jahren ertränkten die chilenischen Streitkräfte nach dem Putsch vom 11. September 1973 die Arbeiterbewegung im Blut. Tausende wurden ermordet, viele weitere Tausende gefoltert. Tausende Kinder von ermordeten linken Aufständischen wurden an Ehepaare im Ausland zur Adoption vergeben. Zehntausende Menschen wurden im Gefängnis brutal misshandelt.

Das Ausmaß der Demonstrationen von Freitag, an denen viele Familienmitglieder von Pinochets Opfern teilnahmen, zeigt, dass die Masse der arbeitenden Bevölkerung eine Abrechnung mit den historischen Verbrechen der chilenischen herrschenden Klasse und des Militärs verlangt, die bisher ausgeblieben ist. Pinochet selbst starb in Freiheit, nachdem die britische Labour Party 20 Jahre lang seine Auslieferung nach Spanien verhindert hat, wo ihn eine Anklage erwartet hätte.

Die Parole der Demonstranten, „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre“, verdeutlicht das Verlangen von Millionen Menschen, gegen das gesamte politische Establishment zu kämpfen, das die Verbrechen der Diktatur unter den Tisch gekehrt, die Macht des chilenischen Militärs aufrechterhalten und die kapitalistische Herrschaft im so genannten Übergang zur Demokratie seit den späten 1980ern fortgesetzt hat.

Wenn die chilenische Arbeiterklasse eine Wiederholung der Ereignisse vom 11. September 1973 verhindern will, darf sie nicht in die Falle einer neuen Volksfront tappen. Darin würden ihre unabhängigen Klasseninteressen einer Fraktion der chilenischen herrschenden Klasse untergeordnet werden, die sich selbst als „links“ bezeichnet. Diese Strategie vertraten der ermordete chilenische Präsident Salvador Allende, seine Sozialistische Partei und die stalinistische Kommunistische Partei, und die pablistische MIR (Bewegung der revolutionären Linken) unterstützte sie darin. Das hat den Putsch erst möglich gemacht, weil im Rahmen dieser Strategie der Klassenkampf unterdrückt und die Lüge verbreitet wurde, das Militär repräsentiere das „Volk in Uniform“.

Heute gehören die Frente Amplio (Breite Front) und die stalinistische Kommunistische Partei zu den Kräften, die versuchen, den Aufstand der Arbeiterklasse innerhalb der Grenzen des kapitalistischen Systems zu halten. Beide fordern Neuwahlen und verurteilen die Proteste als „gewalttätig“.

Das US-Magazin Jacobin veröffentlichte die Übersetzung eines Artikels der chilenischen pseudolinken Partei Convergencia Social. Dem zufolge habe „ein neuer sozialer Block, der u.a. aus Gewerkschaften, Studenten-, feministischen und Umweltschutzvereinigungen besteht, eine Reihe von ,transversalen‘ (nicht Sektor-bezogen) Forderungen für die ganze Nation aufgestellt“. Die Arbeiterklasse ist aus diesem „sozialen Block“ ausdrücklich ausgeschlossen. Seine Forderungen appellieren an „die ganze Nation“, d.h. im Wesentlichen an die Kapitalistenklasse. Die Worte „Sozialismus“, „Kapitalismus“, „Revolution“ oder „Arbeiterklasse“ werden in dem Artikel kein einziges Mal erwähnt.

Stattdessen ist vielmehr erforderlich, dass die immense Stärke der unabhängigen internationalen Arbeiterklasse freigesetzt wird. Dieser Kampf kann nur durch die Errichtung von Versammlungen der Bevölkerung, sowie Arbeiterkomitees in allen Fabriken, Bergwerken und Arbeitsplätzen im ganzen Land entwickelt werden. Das Ziel muss die Mobilisierung der unabhängigen Stärke der Arbeiterklasse im Kampf gegen das kapitalistische Weltsystem sein.

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