Heute Abend wird die 70. Berlinale eröffnet, das weltweit größte Publikums-Filmfestival. Bis zum 1. März werden insgesamt 342 Filme aus 71 Produktionsländern gezeigt, darunter 18 Filme, die im Wettbewerb um den Goldenen Bären konkurrieren. Hunderttausende Filminteressierte haben in dieser Woche die Jagd nach Tickets begonnen.
Die diesjährige Berlinale findet nach dem Rücktritt des langjährigen Direktors Dieter Kosslick (2001 bis 2019) erstmals unter der neuen Festivalleitung von Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und dem Künstlerischen Leiter Carlo Chatrian statt, der zuvor das Internationale Filmfestival von Locarno geleitet hat.
Zu den Neuerungen gehört vor allem die Einführung einer neuen kompetitiven Sektion, Encounters. Neben den traditionellen Sektionen Wettbewerb und Berlinale Shorts, in denen die Goldenen und Silbernen Bären verliehen werden, soll Encounters eine Plattform für ästhetisch und formal ungewöhnliche Werke von unabhängigen Filmschaffenden sein, bei der drei Preise für den besten Film, die beste Regie und den Spezialpreis der Jury vergeben werden.
Die 70. Jubiläumsberlinale verspricht spannend zu werden. Eine Vielzahl von Filmen reflektiert die gegenwärtige, zum Zerreißen gespannte gesellschaftliche Lage, in die sie ihre Geschichten und Bilder von Liebe, Glück, Trauer, Tod oder einfachen Alltagsorgen einbetten. Oder, wie Carlo Chatrian kommentierte: „Wenn die eher dunklen Farben überwiegen, mag das daran liegen, dass die von uns ausgewählten Filme eher illusionslos auf die Gegenwart blicken – nicht, weil sie Schrecken verbreiten, sondern weil sie uns die Augen öffnen wollen.“
Soziale Ungleichheit, unerträgliche Arbeits- und Lebensbedingungen, staatliche Unterdrückung, rassistische Diskriminierung und Gewalt gegen Flüchtlinge – solche Themen beschäftigen Filme wie „Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani („Wir sind jung, wir sind stark“ u.a.), der Alfred Döblins berühmten Klassiker als düstere Odyssee eines afrikanischen Flüchtlings im Berlin der Gegenwart zeigt; oder der französische Film „Police“ von Anne Fontaine über die Abschiebung eines Flüchtlings, dem im Heimatland die Todesstrafe droht; „Kids Run“ von Barbara Ott über einen entlassenen Vater im Kampf um Wohnung, Kinder und die Frau, die er noch liebt; „Automotive“ von Jonas Held über die harte Arbeitswelt bei Audi in Ingolstadt; „Strike or die (Grève ou crève“) von Jonathan Rescigno, der die vergangenen Streiks der Bergarbeiter in Elsass-Lothringen mit heutigen Jugendlichen zusammenbringt, die von einem ehemaligen Bergmann und Boxtrainer für einen neuen Kampf vorbereitet werden.
Auch der politische Debattenfilm „Malmkrog“ des rumänischen Regisseurs Cristi Puiu (The Death of Mr. Lăzărescu, Aurora u.a) verspricht interessant zu werden.
Einige Filme greifen die wachsende Revolte der Jugend auf, wie „Nardjes A.“ von Karim Ainouz über die Massenbewegung in Algerien im vergangenen Jahr, andere thematisieren den Krieg wie „Curveball“ von Johannes Naber zum Irak-Krieg, „Im Feuer“ von Daphne Charizani über eine kurdische Bundeswehrsoldatin, die im Irak nach ihrer Schwester sucht, „Irradiés“ von Rithy Panh über psychische und körperliche Kriegs- und Strahlenschäden.
Die Versuche in den letzten beiden Jahren, wie in den USA und Frankreich die Forderungen der MeToo-Bewegung ins Zentrum zu rücken und Filme, Regisseure oder Schauspieler zu boykottieren, weil sie angeblich sexueller Gewalt das Wort reden, spielen in der Berlinale bisher keine dominante Rolle.
Allerdings haben die Tageszeitung taz sowie die Vorsitzende des Kulturausschusses des Bundestags, Katrin Budde (SPD) der neuen Berlinale-Leitung vorgeworfen, mit der Wahl des britischen Schauspielers Jeremy Irons zum Jury-Präsidenten eine „falsche Entscheidung“ getroffen zu haben. Dieser habe sich in der Vergangenheit sexistisch geäußert und über Homosexuelle gelästert. Der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian wies dies zurück und verteidigte Irons. Er habe derlei Äußerungen, die bereits Jahre zurück liegen, längst bedauert.
Auch Forderungen, bei der Wahl der Filme stärker eine Frauenquote zu beachten, wies er zurück. Die Auswahl der Filme, so Carlo Chatrian auf der Pressekonferenz, sollte vor allem künstlerischen Kriterien folgen.
Wie reaktionär die Forderungen der MeToo-Bewegung sind, zeigt sich gerade eben in Frankreich, wo solche Kräfte die Jury der César-Akademie zum Rücktritt gezwungen haben, weil sie den Film „Intrige“ (J’accuse) von Roman Polanski zwölf Mal für einen César nominiert hatten.
Das diesjährige Berlinale-Festival ist in mancher Hinsicht von der Rückkehr der Geschichte geprägt. Es ist sicher kein zufälliges Startsignal, dass zum Auftakt der Berlinale die Nazi-Vergangenheit des ersten Berlinale-Leiters Alfred Bauer (1951 bis 1976) bekannt wurde. Ein Artikel in der Zeit vom 29. Januar enthüllte, dass Bauer nicht etwa ein untergeordneter Mitarbeiter der Reichsfilmkammer von 1942 bis 1945 und heimlicher Nazi-Gegner gewesen war, wie er selbst behauptete und in den bisherigen offiziellen Darstellungen der Berlinale verbreitet wurde.
In Wahrheit war Bauer, wie die Dokumente zeigen, ein eifriges SA- und NSDAP-Mitglied sowie nach 1942 zeitweise „zweiter Mann in der Reichsfilmintendanz“ und damit die rechte Hand des Propagandaministers und Präsidenten der Reichskulturkammer Joseph Goebbels. Den Akten im Bundesarchiv in Koblenz zufolge kontrollierte und überwachte er die personelle Seite der laufenden Spielfilmproduktion in den letzten Jahren des NS-Diktatur und entschied mit, wer vom Kriegseinsatz freigestellt wurde und wer an die Front musste.
Die bisherige Berlinale-Leitung, auch unter dem Sozialdemokraten Dieter Kosslick, hat diese Geschichte nie thematisiert und aufgearbeitet. Noch bis letztes Jahr war Alfred Bauer Namensgeber des wichtigen Silbernen Bären für „neue Perspektiven in der Filmkunst“. Der „Alfred-Bauer-Preis“ wurde nun ausgesetzt, an seiner Stelle vergibt die internationale Jury in diesem Jahr den Sonderpreis „Silberner Bär – 70. Berlinale“. Zudem hat die neue Festivalleitung das Münchner „Institut für Zeitgeschichte“ (IfZ) mit der Aufarbeitung der Festivalgeschichte im Kontext der NS-Vergangenheit Alfred Bauers beauftragt.
Nahezu zeitgleich wurde auch die NS-Vergangenheit von Werner Haftmann (1912-1999) aufgedeckt, der eine wichtige Rolle bei der „documenta Kassel“ spielte, der bedeutendsten Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst. Haftmann prägte die ersten drei Ausgaben der Weltkunstausstellung ab 1955 und war Gründungsdirektor der Berliner Neuen Nationalgalerie 1967. Seine NSDAP-Mitgliedschaft hatte er verschwiegen. Auch hier gibt es längst entsprechende Dokumente im Bundesarchiv.
Beide Fälle, Alfred Bauer und Werner Haftmann, wurden vor wenigen Tagen in der ARD-Sendung „Titel Themen Temperamente“ thematisiert. Die „Stunde Null“ sei eine Fiktion, erklärte dort Rainer Rother, seit 2006 künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und Leiter der Retrospektive der Berlinale. „Wir hätten es wissen können, wir hätten es vielleicht wissen sollen“, räumt er ein. Aber die 1951 in West-Berlin gestartete Berlinale sollte mit ihren internationalen Stars ein politisches Statement für ein antikommunistisches Bollwerk sein. Rother hat jetzt eine geplante Buchvorstellung einer neuen Bauer-Biographie während der Berlinale abgesagt.
Zum Fall Werner Haftmann bemerkte in der Sendung die Kunsthistorikerin Julia Friedrich, dieser habe im Katalog zur ersten Documenta 1955 die NS-Politik als „kleine Episode“ in der Erfolgsgeschichte der europäischen Zivilisation dargestellt. Sie fügt hinzu: „Und wenn man sich so manche Rhetorik heute anhört, dann gibt es ja auch wieder Tendenzen, die Zeit des Nationalsozialismus zu verkleinern und die Verbrechen zu verharmlosen.“
Mit der wachsenden Opposition in der Bevölkerung gegen das Erstarken rechter Tendenzen wie die AfD lassen sich heute manche Mythen über kulturelle Gegner der Nazis nicht mehr aufrechterhalten. Schon die Emil-Nolde-Ausstellung im vergangenen Jahr, die mit der Verklärung des Malers als Nazi-Verfolgtem aufräumte, war ein wichtiger Schritt zu mehr Wahrheit in dieser Frage.
Eine Reihe Filme der diesjährigen Berlinale thematisieren direkt den Holocaust und die Verlogenheit der Nachkriegszeit. Neben „Persian Lessons“ von Vadim Perelman wird der dreistündige rumänische Film „The Exit of Trains“ von Radu Jude und Adrian Cioflâncă gezeigt, sowie „Speer Goes to Hollywood“ von Vanessa Lapa, die zeigt, wie skrupellos Hitlers Stararchitekt und Rüstungsminister Albert Speer daran gearbeitet hat, seine Vergangenheit reinzuwaschen.
Auch in anderer Hinsicht richtet die diesjährige Berlinale den Blick auf die Geschichte. Sie feiert nicht nur 70 Jahre seit ihrer Gründung, sondern auch 50 Jahre seit der erstmaligen Ausrichtung ihrer Sektion „Forum“. Die Berlinale von 1970, noch unter der Leitung von Alfred Bauer, endete mit einem Eklat. Der deutsche Wettbewerbsfilm „O.K“ von Michael Verhoeven über den Vietnam-Krieg führte zum Rücktritt der Jury und zur Absage der Preisverleihung des Goldenen Bären, nachdem dem Film Antiamerikanismus vorgeworfen wurde. Auch Alfred Bauer und der damalige Leiter der Dachgesellschaft Berliner Festspiele GmbH, Walther Schmiederer, erklärten ihren Rücktritt – Bauer allerdings nur vorübergehend.
„O.K.“erzählt in schmerzhaften Bildern die Vergewaltigung und Ermordung eines Mädchens durch eine Gruppe Soldaten. Obwohl Michael Verhoeven die Handlung in den Bayrischen Wald verlegt, lässt der Film keinen Zweifel darüber, dass er einen authentischen Fall rekonstruiert, der sich 1966 während des Vietnamkriegs ereignet hatte und der durch die Weltpresse gegangen war. Die Ermordete war eine junge Vietnamesin, die Täter amerikanische GIs. Als Höhepunkt des diesjährigen Forums präsentiert die Berlinale die Erstaufführung der vom Filmmuseum München restaurierten und digitalisierten Fassung von „O.K.“.