Russisches Gericht behält Historiker trotz Covid-19 in Haft

Am 7. Mai urteilte das Oberste Gericht der Republik Karelien (Nordwestrussland) in einer geschlossenen Anhörung, dass der Historiker Juri Dmitrijew noch mindestens bis zum 25. Juni in Haft bleiben müsse. Dmitrijew ist vor allem für seine Forschung über stalinistische Massaker bekannt.

Die Haft wird Gesundheit und Leben des 64-Jährigen ernstlich gefährden, da in den vergangenen Tagen die Covid-19-Fälle in Russland explosionsartig in die Höhe schossen. Im Gefängnis Petrosadowsk, wo er inhaftiert ist, sind schon Virusfälle bestätigt worden.

Dmitrijew ist das Opfer eines offenkundigen staatlichen Komplotts mit dem Ziel, seine Arbeit zu verhindern und zu diskreditieren. Seine Forschung konzentriert sich darauf, die Massengräber stalinistischer Massaker in Karelien aufzudecken und zu lokalisieren, sowie die Opfer zu identifizieren.

Ende 2016 wurde ihm in einem fadenscheinigen Versuch, seinen Namen zu beschmutzen, der Besitz von „Kinderpornographie“ vorgeworfen. Die Vorwürfe mussten im Jahr 2018 aus Mangel an Beweisen fallengelassen werden, aber ein Gericht befand ihn für schuldig, Teile einer Schusswaffe in seinem Besitz zu haben. Mitte 2018 wurde Dmitrijew unter dem Vorwand, Bewährungsauflagen verletzt zu haben, erneut verhaftet. Schließlich warf man ihm vor, ein Kind sexuell belästigt zu haben, und seither befindet er sich in Haft. Die Anhörungen seines Falls fanden unter Ausschluss der Medien statt.

Freunde und Familie befürchten, dass das grassierende Coronavirus sein Leben akut bedroht. Dmitrijew muss aufgrund seines Alters zur Risikogruppe gezählt werden. Im letzten Winter hat sich sein Gesundheitszustand erheblich verschlechtert, und im Februar hatte er eine schwere Erkältung. Eine Petition, die seine sofortige Freilassung aus dem Gefängnis fordert, hat schon über 11.000 Unterschriften bekommen. Mehr als 150 russische Intellektuelle und Künstler haben außerdem einen offenen Brief unterzeichnet, in dem seine unverzügliche Freilassung gefordert wird. Zu den Unterzeichnern gehören der Regisseur Alexander Sokurow, die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa und die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja. Auch mehrere Mitglieder der amerikafreundliche Partei Jabloko haben unterschrieben.

Der Direktor des städtischen Museums in Medweschjegorsk und Leiter der Erinnerungsstätte in Sandarmoch, Sergei Koltyrin, der eng mit Dmitrijew zusammengearbeitet hatte, wurde ebenfalls des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt und 2018 zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Er starb Anfang April in einem Gefängniskrankenhaus infolge einer nicht näher spezifizierten „schweren Krankheit“.

Die staatliche Kampagne gegen Dmitrijew muss entschieden zurückgewiesen werden; Dmitrijew muss sofort freigelassen werden. Hinter der Kampagne gegen ihn stehen der russische Staat und die Oligarchie, die aus der stalinistischen Konterrevolution gegen die Oktoberrevolution 1917 entstanden sind. Ihnen geht es darum, alles zu unterbinden, was die Wahrheit über die Verbrechen des Stalinismus enthüllen könnte.

Außerdem verbreitet der ehemalige Kulturminister Wladimir Medinski die historische Lüge, dass Sandarmoch gar kein Ort stalinistischer Verbrechen sei, sondern dass hier finnische Kräfte im Zweiten Weltkrieg sowjetische Soldaten exekutiert hätten.

In Wirklichkeit zählen die Erschießungen der Jahre 1937–1938 in Sandarmoch zu den größten Massakern während des Großen Terrors, dem politischen Genozid, den die Stalinisten an Hunderttausenden sozialistischer Arbeiter, Intellektueller und Künstler begingen. In den Moskauer Prozessen von 1936 und 1937 wurde den berühmtesten Führern der Oktoberrevolution der Prozess gemacht, und sie wurden der Sabotage und konterrevolutionärer Aktivitäten beschuldigt. Der Hauptangeklagte war Leo Trotzki, der gemeinsam mit Wladimir Lenin die Revolution angeführt hatte. Nach Lenins Tod gründete Trotzki die Linke Opposition, um den Kampf gegen den nationalistischen Verrat an der Revolution durch die stalinistische Bürokratie zu führen, und im Jahr 1938 gründete er die Vierte Internationale. Im August 1940 wurde Trotzki in Mexiko von einem stalinistischen Agenten ermordet.

Leo Trotzki hatte in den 1930er Jahren viele Unterstützer in der Sowjetunion, obwohl sie dort in besonderem Maß verfolgt, unterdrückt und verhaftet wurden. Wie die Führer der Oktoberrevolution und ein Großteil der alten Bolschewiki wurden fast alle Anhänger Trotzkis während des Großen Terrors ermordet. In vielen Fällen wurden auch ihre Familien ermordet. Wie der sowjetische Schriftsteller Warlam Schalamow schrieb, war der Terror gegen all jene gerichtet, die sich an „die falschen Bestandteile der russischen Geschichte“ erinnerten – vor allen Dingen an die Geschichte der Revolution und den Kampf der Linken Opposition.

Sandarmoch, nördlich von Leningrad, nahe der finnischen Grenze gelegen, war eine der größten Mordstätten außerhalb Moskaus. Die größte einzelne Operation war die Massenerschießung von 1.111 politischen Gefangenen aus dem Solowki-Lager, die aufgrund eines persönlichen Befehls Nikolai Jeschows erfolgte, des damaligen Chefs des NKWD (der sowjetischen Geheimpolizei). In der sogenannten „Ersten Solowki-Phase“ wurden die 1.111 Gefangenen zunächst in ein Gefängnis in Medweschjegorsk deportiert, das für nur 300 Gefangene konstruiert war. Hier wurden sie nackt ausgezogen und brutal gefoltert.

Viele starben unter der Folter. Die übrigen wurden gruppenweise zu der 19 Kilometer außerhalb des Dorfs gelegenen Erschießungsstätte Sandarmoch gebracht, wo für sie Gruben ausgehoben worden waren. Innerhalb von fünf Tagen wurden alle von Erschießungskommandos durch einen Genickschuss exekutiert. Der bewusst konterrevolutionäre Charakter des stalinistischen Terrors kam schon darin zum Ausdruck, dass die Morde zeitlich mit dem 20. Jahrestag der Oktoberrevolution 1917, der Machtergreifung der Arbeiterklasse unter Führung der Bolschewiki, zusammen fielen: Sie fanden am 27. Oktober und vom 1. bis 4. November 1937 statt.

Unter den Ermordeten dieser Massaker waren Hunderte der wichtigsten Intellektuellen, Wissenschaftler, Politiker und Künstler, sowie Hunderte der führenden Intellektuellen der Ukraine aus den 1920er Jahren. Auch waren laut einem Historiker „ungefähr die Hälfte der Erschossenen einfache Arbeiter aus Petersburg [Leningrad]“.

Eine große Gruppe von Erschossenen waren dabei die 248 politischen Gefangenen, die wegen „konterrevolutionär-trotzkistischer terroristischer Aktivität“ zu Tode verurteilt wurden. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie „an ihren alten konterrevolutionären Positionen festhielten [und] ihre konterrevolutionäre Aktivität fortzusetzen versuchten“.

Unter ihnen befand sich Nadeschda Smilga-Polujan, eine alte Bolschewikin. Sie war die Ehefrau von Iwar Smilga, der im Jahr 1917 eng mit Lenin zusammengearbeitet hatte und in den 1920er Jahren ein Führer der Linken Opposition war. Weiter waren unter den Erschossenen die Bolschewiki Rewekka Schumskaja und Noi Wolfssohn, beides Parteimitglieder aus den ersten fünf Jahren der Sowjetunion und später wegen Unterstützung der Opposition aus der Partei ausgeschlossen, sowie Martin Jakobson und Alexander Blaufeld, Alt-Bolschewiki, die seit der Revolution von 1905 in Estland für den Sozialismus gekämpft hatten.

Weitere Opfer der Massenerschießungen in Sandarmoch waren der berühmte russische Linguist Nikolai Durnowo, der sowjetische Meteorologe Alexei Wangenheim, Alexander Anissimow, ein führender Kunsthistoriker und Restaurator, und viele andere Schriftsteller, Gelehrte und Wissenschaftler aus verschiedenen Teilen der UdSSR und anderen Ländern. Insgesamt wurden in Sandarmoch Menschen von 60 verschiedenen Nationalitäten erschossen. Ebenso wurden zahlreiche Priester und ehemalige zaristische Beamte ermordet.

Die NKWD-Dokumente zu diesen Massenerschießungen wurden erst Mitte der 1990er Jahre entdeckt. Eine Forschungsexpedition des Jahres 1997, an der auch Dmitrijew teilnahm, entdeckte 236 Grabgruben. Gestützt auf Dokumente stellten sie fest, dass zwischen dem 11. August 1937 und dem 24. Dezember 1938 weit über 9.500 Menschen dort erschossen und begraben sein mussten. Seitdem wurde diese Zahl nach oben korrigiert. Zusammen mit anderen Historikern hat Dmitrijew eine Namensliste der in Sandarmoch Ermordeten veröffentlicht und mehrere Bücher über das geschrieben, was dort während des Terrors passiert ist. Seitdem sind mehrere Gedenkstätten in Sandarmoch errichtet worden.

Dmitrijew und seine Mitforscher ermittelten auch die Namen der Anführer der Erschießungskommandos und der Mitglieder der „Troikas“. Das waren außerordentliche Gerichte, bestehend aus drei Personen, die zusammentraten, um auf Geheiß der Bürokratie Todesurteile zu unterzeichnen. Auf dem Höhepunkt des Terrors konnte eine „Troika“ etwa 200 Todesurteile täglich fällen, manchmal sogar mehr.

Ein besonders berüchtigter Schlächter von Sandarmoch war Michail Matwejew. Er leitete die Erschießungskommandos der „Solowki-Operation“. Matwejew, der im Jahr 1938 kurze Zeit selbst in Haft war, wurde während der faschistischen Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg zum Leiter des NKWD-eigenen Gefängnissystems ernannt. Einer derjenigen, die damals im Leningrader Gefängnis starben, war der bekannte sowjetische Dichter Daniil Charms, der elendiglich verhungerte. Nach dem Krieg wurde Matwejew der „Lenin-Orden“ verliehen – die höchste Auszeichnung in der Sowjetunion – und er lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1971 von einer staatlichen Rente.

Matwejews Werdegang war nicht ungewöhnlich. Tatsächlich wurde kein einziger Henker der Säuberungsperiode jemals vor Gericht gestellt, weder vor noch nach dem Ende der Sowjetunion. Die Massenerschießungen des NKWD im Großen Terror wurden während der gesamten Sowjetzeit als Staatsgeheimnis behandelt. Die Angehörigen der in Sandarmoch Ermordeten haben niemals erfahren, was geschehen war. Die offizielle Benachrichtigung, die sie auf Anfrage erhielten, lautete seit 1939, dass ihre Familienmitglieder „zu zehn Jahren Freiheitsentzug [lischenie swobody], ohne das Recht auf Führung von Korrespondenz“, verurteilt worden seien.

Selbst als die Bürokratie vorsichtig einige Opfer des Terrors rehabilitierte, wurde diese Politik im Jahr 1955 noch einmal bestätigt. Das war kurz bevor Nikita Chruschtschow sich im Jahr 1956 gezwungen sah, die schlimmsten Verbrechen Stalins zuzugeben. Diese Politik änderte sich erst wieder Ende der 1980er Jahre, als die letzte Krise des Stalinismus anbrach und die Bürokratie eine vollständige Restauration des Kapitalismus einleitete.

Im Juni 1988 gab die sowjetische Presse zu, dass Grigori Sinowjew, Lew Kamenew, Karl Radek und Juri Pjatakow, Führer der Oktoberrevolution, die zu den Hauptangeklagten der Moskauer Prozesse zählten, in Wirklichkeit Opfer einer abgekarteten Verschwörung gewesen waren. Im selben Jahr wurden die Informationssperre über die Erschießungsopfer sowohl von Sandarmoch als auch ähnlicher Massaker für die Angehörigen teilweise gelockert. In Sandarmoch wurden die ersten menschlichen Überreste entdeckt.

Damals publizierten sowjetische Zeitschriften und Zeitungen zahlreiche Artikel, die eine Menge historischen Materials über den Terror enthielten. Vieles davon diente dem sowjetischen Soziologen Wadim Rogowin als Grundlage für seine Geschichte der Linken Opposition (siehe: Gab es eine Alternative?). Doch der jahrzehntelang andauernde Stalinismus hatte das politische Bewusstsein der sowjetischen und internationalen Arbeiterklasse massiv untergraben. Dies ermöglichte es der Bürokratie, ihre Existenzkrise in ihrem Sinne zu lösen: Sie löste die Sowjetunion auf und verwandelte sich selbst in die neue herrschende Oligarchie.

Diese Konterrevolution trug zwangsläufig dazu bei, das Aufdecken der historischen Wahrheit über die Verbrechen des Stalinismus zu verschleppen. Bis heute werden die Orte, an denen der NKWD Massenerschießungen durchgeführt hatte, wie ein Staatsgeheimnis gehütet, und die Listen, die alle Erschießungsstätten des NKWD aufführen, werden nach wie vor geheim gehalten. Einige Historiker vermuten, dass solche Listen bereits vernichtet worden seien.

Dmitrijew setzte in den 1990er Jahren seine Arbeit fort, zunächst unter seinem Vorgesetzten Iwan Tschuchin, dem früheren Leiter des Inneren im lokalen karelischen Sowjet. In den 1990er Jahren war Tschuchin Parlamentsabgeordneter für die Partei „Demokratische Entscheidung für Russland“, die Boris Jelzins „Schocktherapie“ unterstützte. Nach Tschuchins Tod im Jahr 1997 arbeitete Dmitrijew mit verschiedenen anderen Historikern und Forschern zusammen. Im Jahr 2014 begrüßten Dmitrijew und einer seiner engsten Mitarbeiter den US-finanzierten Putsch in der Ukraine. In einem Interview räumte Dmitrijew ein Jahr später ein, er sei „ein Nationalist im weitesten Wortsinn“.

Solche politischen Ansichten reflektieren die erhebliche Orientierungslosigkeit, die in Teilen der Intelligenz vorherrschte. Zweifellos hat dies den Fokus der Arbeit von Dmitrijew beeinflusst, der primär zu den Opfern der sogenannten „nationalen Operationen“ des NKWD forschte. Diese Operationen richteten sich gegen polnische, litauische, lettische, ukrainische, finnische, deutsche und andere Minderheiten, wie auch gegen die lokale karelische Bevölkerung. Während Tausende Kommunisten aus diesen Ländern im Rahmen solcher Operationen ermordet wurden, wurden auch viele Tausend andere Menschen willkürlich getötet, weil sie zufällig ähnliche Namen trugen oder grundlos denunziert worden waren. Im Baltikum, in Polen und in der Ukraine konnten rechtsnationalistische und antikommunistische Kräfte zweifellos von solchen Enthüllungen der schrecklichen Verbrechen des Stalinismus profitieren.

In Sandarmoch sind tausende aktive und ehemalige Linke Oppositionelle und sozialistische Gegner des Stalinismus ermordet worden. Festzustellen, wie viele es waren, ist für das Verständnis des Großen Terrors von zentraler Bedeutung. Diese Arbeit befindet sich indessen erst im Anfangsstadium. Die allermeisten Namen und politischen Biographien von Linksoppositionellen, die in Sandarmoch und anderswo ermordet wurden, sind nach wie vor unbekannt. Dasselbe gilt für viele andere führende Revolutionäre, die im Terror getötet wurden.

Der russische Staat führt gegen Dmitrijew einen gnadenlosen Feldzug. Der Grund dafür ist die Angst, dass jegliche Enthüllung zum stalinistischen konterrevolutionären Terror, wie beschränkt auch immer sie sein mag, die Gleichsetzung von Stalinismus mit Sozialismus unterminieren könnte. Diese Gleichsetzung bildete die Hauptlüge des 20. Jahrhunderts.

Die gegenwärtige Pandemie hat diese Angst nur noch weiter gesteigert. Sie hat vielen Millionen Arbeitern die schonungslose Brutalität des kapitalistischen Systems vor Augen geführt, und damit hat sie das Gespenst der sozialistischen Weltrevolution geweckt.

Die Oligarchie ist sich darüber bewusst, dass das Interesse an der Oktoberrevolution und der Linken Opposition zunimmt. Sie betrachtet die Unterdrückung der historischen Wahrheit als wesentlich für das Überleben ihrer eigenen Herrschaft und des Kapitalismus insgesamt. Seit Jahren finanziert der Staat eine Kampagne, um Stalin zu glorifizieren und den Terror als legitime und notwendige Maßnahme für die „Landesverteidigung“ gegen äußere und innere Feinde zu rechtfertigen.

Im Jahr 2017, dem hundertsten Jubiläumsjahr der Oktoberrevolution, finanzierte der Kreml eine widerwärtige antisemitische TV-Kurzserie zur Verleumdung von Leo Trotzki. Im Jahr 2018 weckte die Entdeckung von Dokumenten von Linksoppositionellen aus dem politischen Gefängnis in Werchneuralsk erhebliches öffentliches Interesse. Im selben Jahr wurde ruchbar, dass russische Behörden die Zerstörung von Archivakten von Opfern des Großen Terrors angeordnet hatten.

Für Arbeiter weltweit ist die Verteidigung von Dmitrijew eine Prinzipienfrage. In ihrem Kampf um den Sozialismus muss die internationale Arbeiterklasse die ganze Wahrheit über die Verbrechen der Stalinisten erfahren und verstehen – vor allen Dingen alles, was die brutale Unterdrückung ihrer sozialistischen und trotzkistischen Gegner betrifft.

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