Mehr als 200 angesehene Ärzte aus der ganzen Welt haben ihre Forderung nach einem Ende der psychologischen Folter von dem WikiLeaks-Verleger Julian Assange und seiner sofortigen Freilassung aus dem britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh erneuert.
In einem Brief, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Lancet von dieser Woche veröffentlicht wurde, erklären die Ärzte, dass sich die Misshandlung Assanges durch die britische, die US-amerikanische und die alliierten Regierungen seit Beginn der Coronavirus-Pandemie noch verschärft habe, und dass sein Leben in ernster Gefahr sei.
Das Dokument ist die jüngste Intervention der Organisation Doctors for Assange, einer Gruppe, die im vergangenen November gegründet wurde, um sich für eine vernünftige medizinische Versorgung des WikiLeaks-Gründers einzusetzen und um seine Grundrechte zu verteidigen.
Über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten haben sie die Misshandlungen dokumentiert, denen Assange ausgesetzt war. So haben sie zum Kampf gegen den Versuch der britischen Regierung beigetragen, ihn an die USA auszuliefern, wo ihm lebenslange Haftstrafen drohen, weil er amerikanische Kriegsverbrechen aufgedeckt hat.
Der Brief wurde von Ärzten aus sechs Ländern unterzeichnet, was auf die globale Reichweite der Initiative hinweist. Darunter sind viele Ärzte aus den wichtigsten Staaten, welche die Verfolgung von Assange vorangetrieben haben, den USA, Großbritannien, Australien und Schweden, wie auch aus Deutschland und Hongkong. Die Verfasser des Dokuments unterschrieben im Namen von 216 Ärztekollegen aus 33 Ländern.
Viele weitere Ärzte werden den Brief lesen. The Lancet hat rund 1,8 Millionen Abonnenten auf der ganzen Welt.
Der Brief erinnert zunächst an ihren letzten Brief vom 17. Februar an die renommierte Zeitschrift, in dem die Ärzte „ein Ende der Folter und der medizinischen Vernachlässigung von Julian Assange“ fordern. In den Monaten danach habe „keine verantwortliche Behörde“ gehandelt, um „die Verletzung der Rechte von Assange zu beenden oder auch nur zu untersuchen“.
Stattdessen, so schrieben die Ärzte, hätten die „laufenden Aktionen der USA und Großbritanniens und die Untätigkeit Australiens", dessen schutzwürdiger Staatsbürger Assange ist, „die kollektive Verfolgung und Einschüchterung“, die sich gegen den WikiLeaks-Gründer richtet, „verewigt und noch ausgeweitet“.
Dadurch sei die psychologische Folter von Assange noch verschärft worden. Über diese Folter hatte zum erstmals der UNO-Berichterstatter Nils Melzer vor über einem Jahr öffentlich berichtet. Zusammen mit zwei medizinischen Fachleuten hatte er Assange im Mai 2019 im Belmarsh-Gefängnis besucht und untersucht.
Die britische Justiz hat die Rechte von Assange grob verletzt. Die Ärzte stellten fest, dass sie Assange effektiv daran gehindert habe, an der ersten Woche der Auslieferungsanhörungen im Februar teilzunehmen, indem sie ihn in einem kugelsicheren Glaskasten im hinteren Teil des Gerichtssaals platzierte. Assange wurde wiederholt in Handschellen gelegt, Leibesvisitationen unterzogen, und seine Rechtsdokumente wurden von Gefängnisbeamten konfisziert.
Das ist ein Muster, das sich seither bei den Verfahrensanhörungen ständig fortsetzt. Die Ärzte berichten, dass Assange inmitten der Covid-19-Maßnahmen in den britischen Gefängnissen nur an einer der letzten fünf Anhörungen zu seinem Fall teilnehmen konnte. Im Vorfeld der abschließenden Auslieferungsanhörungen im September wird Assange gar nicht in der Lage sein, sich mit seinem Anwaltsteam ernsthaft vorzubereiten, weil nach wie vor Sperrmaßnahmen vorherrschen.
Die Ärzte verurteilen die Weigerung der britischen Regierung und der Richterin Vanessa Baraitser, Assange während der Pandemie auf Kaution aus dem Belmarsh-Gefängnis freizulassen. Sie stellen fest, dass aufgrund eines chronischen Lungenleidens und der zehn Jahre psychologischer Folter, die er erduldet hat, eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ besteht, dass Assanges Immunsystem „ernsthaft geschwächt“ ist. Dies erhöht die Gefahr, dass er an Covid-19 erkrankt, denn die Pandemie breitet sich in britischen Gefängnissen rasch aus, und dass er daran sterben könnte.
Die Ärzte schreiben darüber hinaus: „Von Assange geht keine Gefahr aus. Er sitzt lediglich in Untersuchungshaft und verbüßt keine Strafe für ein Verbrechen. Laut der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung wird er darüber hinaus willkürlich eingesperrt.“ Gerade das müsste die Grundlage dafür sein, Assange nach den Richtlinien internationaler Rechtsorganisationen während der Pandemie freizulassen.
Trotzdem bleibt der WikiLeaks-Herausgeber weiter in dem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert, wo er mindestens 23 Stunden am Tag in Isolation ist. Zusätzlich zu den medizinischen Gefahren, schreiben die Ärzte: „Als eine Person, die ausschließlich wegen ihrer Publikationstätigkeit inhaftiert ist, stellt die weitere Inhaftierung von Assange unter diesen Bedingungen die Folter eines Verlegers und Journalisten dar".
Es ist bemerkenswert, dass die Ärzte diese Behandlung Assanges in den Kontext eines umfassenderen Angriffs auf die Pressefreiheit stellen und auch auf die weltweiten Massendemonstrationen eingehen, die durch den Mord der US-Polizei an George Floyd Anfang letzten Monats ausgelöst wurden. „Im Zusammenhang mit den Angriffen auf und Verhaftungen von Journalisten bei den jüngsten globalen Protesten sind seine Behandlung und der Präzedenzfall, den sie schafft, von internationaler Bedeutung“, erklären die Ärzte.
Das Dokument nimmt die wachsende Besorgnis über die Notlage Assanges zur Kenntnis, die von Menschenrechtsorganisationen zum Ausdruck gebracht wurde. Es schließt mit einem Aufruf zum Handeln, wobei Professor Leonard Rubenstein vom John Hopkins Berman Institute of Bioethics zitiert wird, der betont: „Die medizinische Gemeinschaft als Ganzes muss sich viel energischer gegen Folter aussprechen.“
Die Ärzte schreiben: „Wir haben die berufliche und ethische Pflicht, uns gegen Folter auszusprechen, über Folterungen in der Vergangenheit zu berichten, gegenwärtige Folterungen zu beenden und zukünftige Folterungen zu verhindern. Psychiater und klinische Psychologen haben kürzlich davor gewarnt, dass das Schweigen über die Folterung von Assange seinen Tod begünstigen könnte. Das Schweigen muss gebrochen werden.“
In einer begleitenden Pressemitteilung erklärte Lissa Johnson, ein führendes Mitglied von Doctors for Assange: „Nach der Konvention gegen Folter sind diejenigen, die in offizieller Eigenschaft handeln, nicht nur für die Verübung von Folter, sondern auch für ihre stillschweigende Duldung und Zustimmung mitschuldig und können zur Rechenschaft gezogen werden.“
Bill Hogan, ein US-amerikanischer Arzt, sagte der WSWS: „Der UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer identifizierte klar den Missbrauch von juristischen Verfahren als Hauptinstrument für die Folter an Assange.“
Auf die Frage nach einer neuen Anklage gegen Assange, die gestern vom US-Justizministerium veröffentlicht wurde, erklärte Hogan: „Die neue Anklageschrift ist die jüngste in dieser Reihe von missbräuchlichen Verfahren und hat wahrscheinlich zur Folge, dass die Folter von Assange verschärft wird. Die Anklageschrift geht auf altbekannte Ereignisse des Jahres 2012 zurück und stützt sich auf völlig unzuverlässige Zeugen.“
Hogan betonte: „Folter ist ein Anathema der medizinischen Ethik. Sie kann niemals einem positiven sozialen Zweck dienen und sie erniedrigt stets zu Unrecht die Menschlichkeit ihrer Opfer. Die einzige Art und Weise, wie sich Folter verbreitet, ist, wenn Menschen und Politiker und Institutionen sie durch Schweigen ermöglichen. Weil Schweigen Komplizenschaft ist, müssen wir als Ärzte unsere Stimme erheben. Unser Schweigen steht in direktem Widerspruch zu unserem Kernwert, 'Keinen Schaden zufügen'.“
Eine Kopie des Briefes wurde an den britischen Lordkanzler und Justizminister Robert Buckland weitergeleitet. Die britische Regierung hat sich zuvor geweigert, auf die Korrespondenz von Doctors for Assange zu antworten, und hat die Feststellung Melzers, sie sei für die psychologische Folter des WikiLeaks-Gründers verantwortlich, ohne weiteres zurückgewiesen.