Perspektive

Profit vor Leben: Europäische Öffnungspolitik bedroht Millionen Menschenleben

Sechs Monate nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO die Coronavirus-Pandemie am 30. Januar 2020 zur „Gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite“ erklärt hat, ist die Situation außer Kontrolle. Weltweit haben sich mittlerweile mehr als 17,2 Millionen Menschen mit Covid-19 infiziert, über 670.000 erlagen dem Virus. Auf allen Kontinenten schnellen die Infektionszahlen in die Höhe.

In den Ländern mit den momentan höchsten Neuinfektionen – USA, Indien, Brasilien, Südafrika, Kolumbien und Mexiko – sterben jeden Tag hunderte Menschen. Laut Statistiken der Johns-Hopkins-Universität wurden in den USA am Dienstag binnen 24 Stunden 1592 Tote gezählt. Das ist die höchste Zahl seit zweieinhalb Monaten. Brasilien verzeichnete am Mittwoch mit 69.074 Neuinfektionen und 1.595 Toten sogar einen Allzeitrekord. Die Gesamtzahl der registrierten Corona-Toten im Land liegt inzwischen bei mehr als 90.000.

In Europa, einem der ersten Epizentren der Pandemie, breitet sich der Virus in gefährlicher Weise wieder aus. „Wir sind mitten in einer sich rasant entwickelnden Pandemie“, warnte der Präsident des deutschen Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, auf einer Pressekonferenz am Dienstag. In den vergangenen sieben Tagen seien seinem Institut allein für Deutschland 3611 neue Infektionsfälle gemeldet worden. Die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, lag nach RKI-Schätzungen bei 1,25 – was bedeutet, dass sich das Virus wieder exponentiell ausbreitet. Gestern meldete das RKI bereits 902 Neuinfektionen. Das ist der größte Anstieg seit Mai.

Auch in anderen Ländern wächst die Zahl der Infektionen rasant. „Es könnte sein, dass wir bereits eine zweite Welle haben“, sagte María José Sierra, die Sprecherin der Behörde für gesundheitliche Notfälle (CCAES) in Spanien. Seit Mitte des Monats habe sich die Zahl der Neuinfektionen verdreifacht. Am stärksten betroffen ist die Region Katalonien. Dort gab es allein in der vergangenen Woche 4846 neue Infektionen. In der Hauptstadt Madrid gibt es mehr als zehn lokale Ausbrüche mit insgesamt mehr als 1200 Neuinfektionen in den letzten sieben Tagen.

Andere Länder in Süd- und Westeuropa verzeichnen ebenfalls neue Anstiege. In Frankreich steigen die Infektionszahlen bereits die dritte Woche in Folge und in Österreich überschritt die Zahl der Covid-19-Erkrankten in den Krankenhäusern des Landes erstmals seit Ende Mai wieder das Niveau von hundert Patienten. Belgien verzeichnete in den vergangenen sieben Tagen im Durchschnitt 311 Neuinfektionen am Tag – Tendenz steigend. Wie in Spanien sah sich auch die belgische Regierung Anfang der Woche gezwungen, Beschränkungen des öffentlichen Lebens teilweise wieder zu verschärfen.

Besonders dramatisch ist die Lage in Osteuropa. Russland verzeichnet jeden Tag fast 6000 Neuinfektionen, und auch in Rumänien und der Ukraine infizieren sich um die 1000 Menschen täglich. Polen meldete gestern 512 Neuinfektionen mit Ausbrüchen in drei schlesischen Kohlebergwerken sowie in mehreren Unternehmen und einem Pflegeheim in der südlichen Region Malopolska. Die Zahl der neuen Fälle ist seit dem 17. Juli kontinuierlich gestiegen.

Viele der infizierten Osteuropäer sind Arbeiter, die unter Sklaverei-ähnlichen Bedingungen ausgebeutet werden. In Deutschland wurden vor wenigen Tagen auf einem Bauernhof im bayrischen Mamming 174 Wanderarbeiter positiv auf Covid-19 getestet – hunderte weitere haben sich in deutschen und niederländischen Fleischfabriken infiziert.

Wie in den USA ist auch in Europa die herrschende Klasse voll und ganz für die Covid-19-Katastrophe verantwortlich. Die erneute Ausbreitung des Virus ist die direkte Folge ihrer rücksichtslosen und verfrühten Öffnungspolitik, die darauf abzielt, Arbeiter so schnell wie möglich zurück in die Fabriken zu schicken, die Schulen und Kitas zu öffnen und den Tourismus wiederzubeleben. Nachdem die Lockdowns und sozialen Distanzierungsmaßnahmen zwischenzeitlich zu einem starken Rückgang der Fallzahlen geführt hatten, provoziert sie damit eine Situation wie im Frühjahr, als das Gesundheitssystem in Ländern wie Italien und Spanien auf Grund rapide steigender Fallzahlen kollabierte und Zehntausende unter fürchterlichen Bedingungen starben.

Obwohl die Pandemie nun noch mehr Menschenleben bedroht, haben sich die europäischen Regierungen darauf verständigt, dass es diesmal keine ernsthaften und umfassenden Maßnahmen zur Eindämmung des Virus geben wird.

„Wir werden keinen Lockdown wie im vergangenen März verhängen, weil wir gelernt haben, dass die wirtschaftlichen und menschlichen Folgen eines totalen Lockdowns katastrophal sind“, erklärte der neue französische Premierminister Jean Castex in einem Fernsehinterview am 8. Juli. Er brachte damit den Standpunkt der europäischen Eliten auf den Punkt, die bereit sind, Millionen Menschenleben dem Profit zu opfern.

Laut einer wissenschaftlichen Studie von Forschern des Imperial College in London verhinderten die Lockdowns alleine in Europa den Tod von über 3 Millionen Menschen. „Wir stellen fest, dass in elf Ländern seit Beginn der Epidemie 3.100.000 [2.800.000 – 3.500.000] Todesfälle abgewendet wurden“, schreiben die Forscher. Dazu gehörten schätzungsweise 690.000 Todesfälle in Frankreich, 630.000 in Italien, 560.000 in Deutschland, 470.000 in Großbritannien, 450.000 in Spanien und 110.000 in Belgien sowie Zehntausende in jedem der anderen fünf untersuchten europäischen Länder.

Nun erklärt die Finanzelite ganz offen, dass die Menschen besser gestorben wären. Der Lockdown sei die geretteten Leben „wirtschaftlich gesehen nicht wert“ gewesen, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichte Studie des ehemaligen Chefökonomen der Bank of England, David Miles. Eine perverse Rechenübung, die Menschenleben in Pfund aufrechnet, soll beweisen, dass die „geretteten Lebensjahre“ insgesamt weniger wert sind als die Schulden des britischen Staats. Gestützt darauf fordern Miles und seine Banker-Kollegen, alle „pauschalen Maßnahmen“ zur Bekämpfung des Virus zu beenden.

Diese Strategie der „Herdenimmunität“, die im Kern eine Politik des Massenmords ist, war in Wirklichkeit von Anfang an die Strategie der europäischen Regierungen. In atemberaubender Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Millionen hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits auf einer Pressekonferenz am 11. März verkündet, die deutsche Regierung gehe davon aus, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus CoV-19 infizieren werden.

Die WSWS kommentierte damals: „Solche Erklärungen zeigen nicht einfach Inkompetenz, sie sind politisch kriminell. 75 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs herrscht innerhalb der Finanzaristokratie eine faschistoide Haltung gegenüber der Arbeiterklasse, die an den Umgang mit den Galeerensklaven im antiken Rom erinnert: Arbeite bis du stirbst.“ Und wir prognostizierten: „Ohne Zweifel betrachten bedeutende Teile der herrschenden Klasse das Coronavirus als Geschenk Gottes. Der Tod von Millionen Alten und Kranken würde neue Kürzungsrunden im sozialen Bereich ermöglichen und weitere Milliarden in die Taschen der Wirtschaftseliten spülen.“

Genau das geschah. Als die schrecklichen Bilder aus Norditalien um die Welt gingen, sahen sich die europäischen Regierungen unter dem Druck der Bevölkerung und spontaner Streiks zwar gezwungen, Maßnahmen zur sozialen Distanzierung und Lockdowns anzuordnen. Diese wurden dann jedoch vor allem dazu genutzt, die größte Umverteilung von unten nach oben in der Geschichte zu organisieren. Innerhalb kürzester Zeit wurden in Form von sogenannten Corona-Rettungspaketen Billionen auf die Konten der Banken, Großkonzerne und Superreichen transferiert.

Sobald die Gelder überwiesen waren, begann eine im Kern faschistische Kampagne, die Wirtschaft möglichst schnell wieder zum Laufen zu bringen. Politik und Medien lancierten eine „Diskussion“ darüber, wie viele Leben den Interessen der Wirtschaft und dem Profit geopfert werden sollen.

In Deutschland stellte sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) mit der perfiden Behauptung an die Spitze der Kampagne, die Würde des Menschen schließe das Recht auf Leben nicht ein und sei damit auch nicht „absolut“ vom Grundgesetz geschützt. Anschließend unterstützten Vertreter aller Bundestagsparteien die rechtsextremen Corona-Demonstrationen, die im Gegensatz zur großen Mehrheit der Bevölkerung das sofortige Ende aller Einschränkungen und sozialen Distanzierungsmaßnahmen verlangten.

Welche reaktionären Ziele die herrschende Klasse mit ihrer rücksichtslosen Öffnungspolitik verfolgt, ist offensichtlich. Zum einen will sie die astronomischen Summen, die der Finanzoligarchie ausgehändigt wurden, wieder aus der Arbeiterklasse herauspressen. Ein zweiter Faktor sind die Bestrebungen des deutschen und europäischen Imperialismus, sich im Kampf der Großmächte zu positionieren. „Zudem gibt es geostrategische Interessen“, betonte Der Spiegel bereits im April in einem Artikel über den „Neustart der Autoindustrie“. Die Konzernchefs wollten „den europäischen Markt stärken, um einen Gegenpol zu den Wirtschaftsmächten USA und China zu bilden“.

Die WSWS hat die Pandemie als Trigger Event bezeichnet, als „auslösendes Ereignis“, das die bereits weit fortgeschrittene wirtschaftliche, soziale und politische Krise des kapitalistischen Weltsystems enorm beschleunigt. Weltweit hat die herrschende Klasse ihre Politik des sozialen Kahlschlags und der inneren und äußeren Aufrüstung, die sie bereits nach der Finanzkrise 2008/09 ständig verschärft hat, weiter zugespitzt.

Das gleiche gilt für die Kriegspolitik. Die US-Regierung beschuldigt China nicht nur, für die Pandemie verantwortlich zu sein, sondern bereitet sich immer offener auf einen militärischen Konflikt mit der Nuklearmacht vor. Auch die europäischen Mächte nutzen die Krise, um weiter aufzurüsten. Bereits Ende Mai haben die Verteidigungsministerien Frankreichs, Deutschlands, Italiens und Spaniens einen gemeinsamen Brief an Josep Borrell, den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, verfasst, in dem sie für die umfassende militärische Aufrüstung der EU als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie eintreten.

Während die europäischen Mächte in Fragen von Sozialabbau, Militarismus und Krieg allgemein übereinstimmen, sind sie völlig unfähig, ein gemeinsames Vorgehen zur Eindämmung der Pandemie zu organisieren. Als sich das Virus Anfang März dramatisch ausbreitete, verhängte die Bundesregierung ein Exportverbot für medizinische Schutzausrüstung. Auf dem letzten EU-Gipfel kamen die europäischen Regierungen zwar überein, den Banken und Konzernen weitere 750 Milliarden Euro in den Rachen zu schmeißen; gleichzeitig kürzten sie die Gelder für das europaweite Gesundheitsprogramm EU4Health auf lächerliche 1,67 Milliarden Euro zusammen.

Unter Arbeitern und Jugendlichen entwickelt sich weltweit der Widerstand gegen diese kriminelle Politik. In den USA mobilisiert Trump faschistische Paramilitärs gegen friedliche Demonstranten, weil er eine mächtige Bewegung der Arbeiterklasse gegen seine aggressive Öffnungs- und Kriegspolitik fürchtet, die auch von den Demokraten unterstützt wird. Zunehmend organisieren sich Arbeiter in unabhängigen Aktionskomitees, um sich gegen unsichere Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen, die ihnen vom Management und den Gewerkschaften aufgezwungen werden.

Auch in Europa brodelt es. Die gleichen Großkonzerne, die zig Milliarden aus der Staatskasse erhalten haben – darunter die großen Autokonzerne und Luftfahrtunternehmen – nutzen die Situation, um in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften Pläne für Massenentlassungen und Lohnkürzungen zu verwirklichen, die seit langem in den Schubladen liegen. In Frankreich traten Anfang der Woche tausende Beschäftige im Einzelhandel in den Streik, um gegen Angriffe auf ihre Boni und Löhne zu protestieren. Unter Lehrern und Schülern gibt es enormen Widerstand gegen die Rückkehr zum „Normalbetrieb“ an den Schulen.

Bereits im vergangenen Monat hatten im Zuge der weltweiten Massenproteste nach dem Mord an George Floyd auf dem ganzen Kontinent Hunderttausende demonstriert. Die Proteste zeigten nicht nur die weit verbreitete Wut über die Polizei, sondern auch die Opposition gegen die reaktionäre Politik der gesamten herrschenden Klasse. Dazu zählen pseudolinke Parteien wie Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, La France Insoumise in Frankreich und die Linkspartei in Deutschland, die überall die Öffnungs-, Kriegs- und Polizeistaatspolitik ihrer jeweiligen Regierung unterstützen.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine Sektionen in Europa und auf der ganzen Welt kämpfen dafür, die wachsende Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen mit einem sozialistischen Programm zu bewaffnen. Der drohende Tod von Millionen durch Pandemie und Krieg kann nur durch eine unabhängige Massenbewegung gegen den Kapitalismus und den Kampf für Arbeiterregierungen verhindert werden. Die großen Vermögen, Banken und Konzerne müssten enteignet und die Gesellschaft auf rationale, wissenschaftliche Weise im Interesse der Menschheit reorganisiert werden. Es ist höchste Zeit, sich diesem Kampf anzuschließen. Werdet noch heute Mitglied der Sozialistischen Gleichheitspartei bzw. ihrer internationalen Schwesterparteien.

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