Armenisch-aserbaidschanischer Konflikt im Kaukasus birgt Gefahr eines größeren Kriegs

Am Sonntag kam es zu umfangreichen militärischen Zusammenstößen in der umstrittenen Kaukasusregion Nagorny Karabach, die von Armenien und Aserbaidschan beansprucht wird. Auf beiden Seiten wurden zahlreiche Soldaten und Zivilisten durch Artillerie-, Drohnen- und Panzerbeschuss getötet. Beide Seiten werfen sich vor, den Konflikt begonnen zu haben.

Armenien sprach von 16 Todesopfern und mehr als 100 Verletzten, und Aserbaidschan von beträchtlichen Verlusten, ohne genaue Zahlen zu nennen. Jerewan und Baku veröffentlichten Videos von Angriffen gegen die Streitkräfte des jeweils anderen und Bilder von einem Stromausfall in Nagorny Karabach. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium behauptete, das Militär habe sieben Grenzdörfer in der Region eingenommen; Armenien berichtete von der Zerstörung von vier Hubschraubern, zehn Panzern und 15 Drohnen.

Es handelt sich um die erbittertsten Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan seit dem Konflikt zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken von 1988 bis 1994, der noch vor der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion 1991 begann. Letzten Endes ist dieser Krieg das katastrophale Ergebnis der Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion und des reaktionären Charakters des Nationalstaatensystems. Er ist jetzt direkt in die globalen geopolitischen Rivalitäten eingebettet, die durch die imperialistischen Kriege im Irak, Syrien und Libyen geschürt wurden.

Ein Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan könnte schnell außer Kontrolle geraten und zu einem größeren Konflikt werden, in den Russland, die Türkei und die übrigen Nato-Mächte in Europa und Nordamerika ebenfalls hineingezogen werden.

Im Juli wurden bei armenisch-aserbaidschanischen Zusammenstößen bei Tawusch im Nordosten Armeniens und dem aserbaidschanischen Bezirk Tovuz zwölf aserbaidschanische und vier armenische Soldaten getötet.

Seither haben sich die militärischen Spannungen weiter verschärft. Die Türkei, ein Nato-Mitglied und wichtigster Verbündeter von Aserbaidschan, hat direkt nach den Zusammenstößen im Juli gemeinsame Militärübungen mit aserbaidschanischen Truppen in Baku, Nachitschewan, Ganja, Kurdamir und Jewlach abgehalten. Russland, das Armenien unterstützt, kündigte eine „Überraschungsprüfung der Kampfbereitschaft“ an, an der mehr als 150.000 Soldaten, mehr als 26.000 Waffensysteme, 414 Flugzeuge und 106 Kriegsschiffe beteiligt sein werden.

Die Nato-Kriege in Libyen und Syrien haben die Fähigkeit und Bereitschaft der USA, Frankreichs und Russlands beeinträchtigt, wie bei früheren Gelegenheiten Waffenruhen zwischen Armenien und Aserbaidschan auszuhandeln. Ihre Beziehungen zur Türkei sind zusammengebrochen: Russland führt einen Stellvertreterkrieg gegen Kräfte in Libyen, die von der Türkei unterstützt werden; Frankreich unterstützt Griechenland gegen die Türkei bei Ölkonflikten im östlichen Mittelmeer; die USA unterstützen in Syrien kurdisch-nationalistische Guerillagruppen, die die Türkei bekämpft. Armenien hat seine Unterstützung für Griechenland im östlichen Mittelmeer erklärt, und Aserbaidschan hat sich hinter die Türkei gestellt.

Die Analystin Olesja Wartanjan von der International Crisis Group schrieb auf Twitter: „Es gab zahlreiche Warnsignale. Alle haben sie gesehen und wochenlang nichts unternommen. Es wäre eine proaktive internationale Vermittlung notwendig gewesen. Viele haben Gründe vorgebracht, warum dieser Angriff in Ordnung war. Wenn sie jetzt schweigen, müssen wir mit einem wirklichen Krieg rechnen.“

Doch statt einen Frieden auszuhandeln, bereiten sich die Großmächte vielmehr auf einen Krieg gegeneinander vor. Entlang des Schwarzen Meers haben amerikanische und britische Truppen zusammen mit deutschen, polnischen und litauischen Beratern letzte Woche gemeinsame Manöver mit der Ukraine abgehalten. Das ukrainische Verteidigungsministerium erklärte: „Zum ersten Mal werden Militäreinheiten der Streitkräfte der Nato-Mitgliedsstaaten an den strategischen Kommando- und Stabsübungen beteiligt sein.“

Daneben hat auch das russische Militärmanöver Kavkaz-2020 (Kaukasus 2020) im nördlichen Kaukasus, am Schwarzen Meer und am Kaspischen Meer begonnen, an dem 80.000 Soldaten beteiligt sind. Darunter befinden sich bis zu 1.000 Soldaten aus China, Armenien, Belarus, dem Iran, Myanmar und Pakistan sowie 250 Panzer, 450 Transportpanzer und 200 Artillerie- oder Raketenwerfersysteme.

Stellungnahmen von armenischen und aserbaidschanischen Regierungsvertretern machen deutlich, dass ein offener regionaler und sogar globaler Krieg im Südkaukasus eine reale und akute Gefahr ist.

Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan erklärte: „Eine offene militärische Konfrontation im Südkaukasus, die jederzeit ausbrechen könnte, kann höchst unvorhersehbare Folgen haben. Sie kann sich über die Region hinaus ausdehnen, ein viel größeres Ausmaß annehmen und die internationale Sicherheit und Stabilität gefährden.“ Er forderte die „internationale Staatengemeinschaft“ auf, „alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um die Türkei von einer möglichen Einmischung abzuhalten“.

Wenige Stunden zuvor hatte er jedoch das Kriegsrecht verhängt und die Generalmobilmachung in Armenien ausgerufen: „Aufgrund einer Entscheidung der Regierung wurden in der Republik Armenien das Kriegsrecht verhängt und die Generalmobilmachung ausgerufen. Diese Entscheidungen treten sofort nach der offiziellen Bekanntgabe in Kraft. Ich rufe alle mit dem Militär in Verbindung stehenden Personen auf, sich bei ihren Territorialkommandos zu melden.“

Die genauso kriegerisch auftretende aserbaidschanische Regierung rief für mehrere Städte und Regionen den Belagerungszustand aus. Laut der türkischen staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu verabschiedete das aserbaidschanische Parlament eine „Maßnahme, die teilweise und vorübergehend die verfassungsgemäßen Rechte und die Eigentumsrechte und Freiheiten aserbaidschanischer Bürger und Ausländer für die Dauer der Kriegssituation einschränkt“.

Die herrschenden Eliten beider Länder verfolgen angesichts der scharfen sozialen Spannungen in Folge der Corona-Pandemie eine aggressive militaristische Politik. In Armenien gibt es fast 50.000 Infizierte und 951 Todesfälle bei einer Bevölkerung von weniger als drei Millionen. Obwohl diese Todesrate die höchste in Asien ist, erklärte Paschinjan am Donnerstag, Armenien müsse „mit dem Coronavirus leben“. Aserbaidschan hat bei einer Bevölkerung von zehn Millionen offiziell mehr als 40.000 Fälle und 586 Todesfälle gemeldet.

Beide Länder haben ihre Militärausgaben zu Lasten der Arbeiterklasse drastisch erhöht. Im Jahr 2019 stiegen die Militärausgaben in Aserbaidschan auf den Höchststand von fast 1,8 Milliarden Dollar und in Armenien auf fast 650 Millionen Dollar – mit fast fünf Prozent des BIP eine der weltweit höchsten Raten.

Nachdem das Blutvergießen am Sonntag eskalierte, riefen Regierungsvertreter weltweit zur Einstellung der Kämpfe auf. UN-Generalsekretär Antonio Guterres forderte Armenien und Aserbaidschan auf, „sofort die Kämpfe einzustellen, Spannungen zu deeskalieren und unverzüglich zu sinnvollen Verhandlungen zurückzukehren“. Die Nato erklärte, sie sei „zutiefst besorgt über Berichte von größeren militärischen Kampfhandlungen entlang der Kontaktlinie in der Konfliktzone Nagorny Karabach“ und forderte beide Seiten auf, „die Feindseligkeiten sofort einzustellen“.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte eine „sofortige Einstellung der Kampfhandlungen“, und die französische Regierung erklärte, sie sei „äußerst besorgt wegen der Konfrontation“.

Die Außenministerien von Russland und dem Iran riefen zur „Mäßigung“ auf. Moskau forderte außerdem „alle Parteien“ dazu auf, „sofort das Feuer einzustellen und Verhandlungen aufzunehmen, um die Situation zu stabilisieren“.

Türkische Regierungsvertreter bezeichneten Armenien als den Aggressor und erklärten ihre volle Unterstützung für Aserbaidschan. Während Präsident Recep Tayiip Erdoğan Armenien, eines der ärmsten Länder der Region mit nur drei Millionen Einwohnern, als „größte Bedrohung für den Frieden in der Region“ bezeichnete, rief der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar seinen aserbaidschanischen Amtskollegen an, um ihm mitzuteilen: „Die Türkei wird den aserbaidschanischen Türken in ihrem Kampf für den Schutz ihrer territorialen Integrität mit allen Mitteln beistehen.“

Ein türkisch-aserbaidschanischer Militärpakt von 2010 verpflichtet beide Seiten zur militärischen Reaktion, falls eine Partei von einem dritten Land angegriffen wird. Regierungsnahe türkische Medien arbeiten daran, einen Vorwand für eine türkische Militärintervention zu schaffen. Zu diesem Zweck verbreiten sie die unbewiesenen Behauptungen, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die von Ankara als „Terroristen“ bezeichnet werden, würden in Nagorny Karabach armenische Milizen ausbilden.

Die bürgerliche Opposition in der Türkei stellt sich erneut hinter die aggressive Politik der Regierung. Die Republikanische Volkspartei (CHP) verurteilte den „armenischen Angriff“. Ihr rechtsextremer Verbündeter, die Gute Partei, bezeichnete Armeniens Angriffe auf Aserbaidschan als unzumutbar und stellte sich „hinter Aserbaidschans legitime Sache“.

Während die Türkei Aserbaidschan energisch unterstützt, steht Russland traditionell auf der Seite Armeniens und hat in dem Land in Gyumri eine große Militärbasis. Falls es zu einem offenen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan käme, könnte eine Intervention Russlands oder der Türkei zur Abwendung einer Niederlage ihres jeweiligen Verbündeten zu einem offenen Krieg zwischen Moskau und Ankara führen. Daraus würde sich unweigerlich die Frage ergeben, ob die gesamte Nato an der Seite der Türkei gegen Russland kämpfen würde.

Die wachsende Kriegsgefahr im Kaukasus genauso wie in Syrien und dem östlichen Mittelmeer verdeutlicht, wie dringend der Aufbau einer internationalen Bewegung gegen den Krieg und gegen die Politik der Herdenimmunität in der Corona-Pandemie ist, um die Arbeiterklasse auf Grundlage eines sozialistischen Programms zu vereinen.

Siehe auch:

Nein zu einem griechisch-türkischen Krieg im östlichen Mittelmeer!
[15. September 2020]

Neue Kriegsgefahr im Kaukasus durch armenisch-aserbaidschanische Grenzkonflikte
[21. Juli 2020]

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