Neue Studie wirft Licht auf die Nazi-Vergangenheit des „Berlinale“-Gründers

Die Berlinale, die jährlichen Internationalen Filmfestspiele Berlin, wurden 1951 inmitten der Ruinen der deutschen Hauptstadt nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Veranstaltung zu einem der weltweit führenden Schauplätze des internationalen Kinos – und ist es bis heute geblieben.

Eine neu veröffentlichte Studie legte offen, dass die Persönlichkeit, die die Gründung des Festivals vorschlug und es ein Vierteljahrhundert lang in der Nachkriegszeit leitete, eine führende Rolle in der nationalsozialistischen Filmindustrie gespielt hatte.

Alfred Bauer (1911–1986) war der erste Direktor der Berliner Filmfestspiele und hatte dieses Amt von 1951 bis 1976 inne. Einer der Hauptpreise des Festivals, der „Silberne Bär“, erhielt den Zusatz „Alfred-Bauer-Preis“. Er wurde von 1987 bis 2019 verliehen. Der Alfred-Bauer-Preis wurde jedes Jahr an einen Film verliehen, der „neue Perspektiven auf die Filmkunst eröffnet“. Zu den Regisseuren, deren Werke mit diesem Preis ausgezeichnet wurden, gehören Zhang Yimou, Tsai Ming-Liang, Andrzej Wajda, Alain Resnais und Agnieszka Holland.

Anfang 2020 legte ein Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit offen, dass Bauer entgegen seiner eigenen Darstellung und der offiziellen Berlinale-Historie im Nazireich keineswegs nur auf untergeordneter Ebene eingesetzt, noch halbwegs ein Gegner des Hitler-Regimes war. Vielmehr war er stellvertretender Leiter der Reichsfilmintendanz und rechte Hand des berüchtigten Reichspropaganda- und Kulturministers Joseph Goebbels.

Die jüngste Untersuchung des Historikers Dr. Tobias Hof im Auftrag des Leibniz-Instituts für Zeitgeschichte zeichnet Bauers politische Karriere auf der Grundlage von Rechercheergebnissen aus Archiven in Deutschland und den USA nach.

Bauer trat dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) der NSDAP bei und wurde nur wenige Monate nach der Übergabe der Macht an Hitler1933 Mitglied der Sturmabteilung (SA), dem paramilitärischen Nazi-Flügel. Im Jahr 1937 beantragte er die Mitgliedschaft in der NSDAP und wurde aufgenommen. In seiner kurzen „Vorstudie über ein historisches Porträt von Dr. Alfred Bauer (1911–1986)“ schildert Hof den Ablauf der Ereignisse so: „Bauer beantragte die Aufnahme in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) am 9. Juni 1937 und erhielt am 15. November 1937 seinen Mitgliedsausweis mit der Nummer 4401355. Sein Eintrittsdatum wurde, wie dies in der Anordnung 18/37 (20. April 1937) festgelegt worden war, auf den 1. Mai 1937 zurückdatiert.“

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Bauer in die Flak der Wehrmacht eingezogen, jedoch 1942 aufgrund gesundheitlicher Probleme vom Militärdienst entbunden. Im selben Jahr übernahm er eine leitende Position in der Reichsfilmintendanz, einer Schlüsselinstitution für die Leitung der deutschen Filmproduktion während der Naziherrschaft. Während das Hitlerregime den „totalen Krieg“ entfesselte, kontrollierte, plante und überwachte das Direktorium den Vertrieb, die Zensur und die Produktion deutscher und europäischer Filme.

In seiner leitenden Position war Bauer auch für den Einsatz von Zwangsarbeitern in der Filmproduktion verantwortlich. Zu diesem Zweck wurde auf dem Gelände der Deutschen Filmakademie Babelsberg in Potsdam ein Lager mit rund 600 Insassen, darunter Frauen und Kinder, eingerichtet.

Hof schließt daraus: „Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung der Reichsfilmintendanz innerhalb des NS-Filmwesens, so kann auf der gesichteten Quellenlage festgehalten werden, dass Bauer einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Funktionieren des deutschen Filmwesens innerhalb der NS-Diktatur und damit zur Stabilisierung und Legitimierung der NS-Herrschaft leistete.“

Hofs Bericht erklärt auch, wie Bauer seine Verbindungen zum Hitlerregime im Zuge der Verhöre während seines Entnazifizierungsverfahrens nach dem Krieg vertuscht hat. Bauer war einer von vielen führenden Nazis, der seine Spuren mit einer Kombination aus Halbwahrheiten und gezielten Falschaussagen verwischte, um zu beweisen, dass er ein aktiver Gegner der Nazis gewesen sei.

Bauer behauptete, er sei damals in den führenden Filmkreisen als einziger Antifaschist bewusst gegen den Strom geschwommen. Aber, wie Hof bemerkt: „Auch wenn seine Argumentations- und Verteidigungsstrategien dabei zahlreiche Ähnlichkeiten zu vergleichbaren Fällen aufweisen, so sticht die Dreistigkeit und Penetranz seines Vorgehens doch hervor. Sie offenbaren Bauers ehrgeizigen, fast schon skrupellosen Opportunismus, der womöglich auch seine Nähe zum NS-Regime beeinflusste.“

Nachdem sein Entnazifizierungsverfahren abgeschlossen war, konnte Bauer seine Karriere in der deutschen Filmindustrie ungehindert fortsetzen.

1950 schickte er dem Bürgermeister von West-Berlin, Ernst Reuter, einem führenden Sozialdemokraten und ehemaligen KPD-Mitglied, ein Memo, in dem er die Gründung eines Filminstituts in Berlin und eines jährlichen Filmfestivals vorschlug. Während des Kalten Kriegs war die deutsche Regierung bestrebt, ihre US-Verbündeten für sich einzunehmen, und die Berlinale wurde als Schaufenster für „westliche Werte“ in Opposition zum „diktatorischen, kommunistischen“ Osten gegründet.

Auch Dieter Kosslick – Direktor des Festivals von 2001 bis 2019 und ehemaliger Pressesprecher von Hans-Ulrich Klose, dem SPD-Bürgermeister von Hamburg –, zeigte keine Neigung, dem Renommee seines prominenten Vorgängers auf den Zahn zu fühlen.

Nach Bauers Enttarnung im Januar dieses Jahres stimmte die neue Festivalleitung zu, den Alfred-Bauer-Preis zu streichen, und gab bekannt, dass es bei der nächsten Berlinale einen neuen Preis geben werde. Darüber hinaus gab die neue Leitung eine Untersuchung von Bauers Nazi-Vergangenheit in Auftrag.

Rainer Rother, künstlerischer Leiter der Deutschen Kinemathek und seit 2006 Leiter der Retrospektive der Berliner Filmfestspiele, erklärte, dass der Fall Bauer bestätige, dass es auch im Film keine „Stunde Null“ gegeben habe. Auch dort konnten ehemals einflussreiche Nationalsozialisten ihre Karriere nach dem Krieg fortsetzen.

Die Geschäftsführerin des Festivals, Mariette Rissenbeek, erklärte in einer Pressemitteilung, die neuen Erkenntnisse seien „überraschend“, und räumte ein, es gebe noch zahlreiche Forschungslücken in der historischen Analyse der Filmindustrie der Nachkriegszeit.

Bauer war nicht die einzige prominente Persönlichkeit des deutschen Films, die ihre Verbindungen zum Nazi-Regime vertuschte. Der Autor Willi Winkler beleuchtet in seinem Buch Das braune Netz (2019) die Hintergründe des ersten deutschen Nachkriegsfilms Die Mörder sind unter uns (Regie: Wolfgang Staudte, 1946), der einen wichtigen anfänglichen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus darstellt und aufzeigt, wie in der Nachkriegszeit Nazi-Verbrecher wieder zu Wohlstand, Amt und Würden kamen.

Die Hauptfigur in Die Mörder sind unter uns ist eine junge Frau und KZ-Überlebende. Hildegard Knef, die diese Rolle übernahm, wurde im Nachkriegsdeutschland eine der bekanntesten und angesehensten Schauspielerinnen. Bei Kriegsende hatte auch Knef ihre Biografie verfälscht: Sie hatte ihre Beziehung zu Ewald von Demandowsky, einem Dramatiker, geleugnet, der sich schon 1931 den Nazis anschloss und ein Schützling von Goebbels war. Gegen Kriegsende hatte Demandowsky Hildegard Knef ihre ersten Rollen in deutschen Filmen gesichert.

Der Regisseur Wolfgang Staudte selbst, der 1933 zunächst Schauspielverbot wegen seiner Beteiligung an dem amerikanischen Film Im Westen nichts Neues erhalten hatte, passte sich an, wurde NSDAP-Mitglied und übernahm eine Nebenrolle in dem antisemitischen Propagandafilm Jud Süß (Regie: Veit Harlan, 1940). Sein gesellschaftskritisches Filmschaffen nach dem Krieg, darunter die Defa-Verfilmung von Heinrich Manns Der Untertan, ist auch eine Verarbeitung seines eigenen Verhaltens während der NS-Zeit.

Staudtes Kameramann Friedl Behn-Grund war ebenfalls in der Nazi-Filmindustrie tätig und stand hinter der Kamera für den Film Ich klage an (1941), der die Euthanasiekampagne der Nazis und die Ausrottung der als „unwertes Leben“ bezeichneten behinderten Menschen befürwortete.

Winkler zitiert auch das Beispiel der Fernsehkrimiserie Derrick, eine im deutschen Nachkriegsfernsehen beliebte Sendung, die in 100 weiteren Ländern ausgestrahlt wurde. Der Schauspieler Horst Tappert verkörperte darin von 1974 bis 1998 Stephan Derrick als einen grundanständigen, ehrlichen und etwas pedantischen Münchner Polizeibeamten, der immer seinen Mann zu Fassen kriegt. Derrick lebt das Leben eines Mönchs und ist, wie Winkler bemerkt, unfähig, einer Fliege was zuleid zu tun – das völlige Gegenteil eines skrupellosen Nazis.

Tatsächlich aber hatte sich der Hauptautor der Derrick-Folgen, Herbert Reinecker, 1932 im Alter von 17 Jahren der Hitlerjugend angeschlossen. Ab April 1935 arbeitete Reinecker hauptberuflich als Propagandist für die nationalsozialistische Jugendbewegung.

Seine Propagandaarbeit für die Faschisten setzte er während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsberichterstatter fort, als er im Zuge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion Hitlers mörderischer Waffen-SS zugeteilt wurde. Bis Kriegsende verfasste er Artikel für die SS-Zeitung Das Schwarze Korps.

Fünfzehn Jahre nach dem Ende der Derrick-Serie im deutschen Fernsehen wurde bekannt, dass auch Tappert selbst seine Verstrickung in das Hitler-Regime geheim gehalten hatte. Der künftige Fernsehschauspieler hatte behauptet, er habe während des Kriegs in der UdSSR lediglich Straßen gebaut und sich zum Sanitäter ausbilden lassen. In Wirklichkeit verbrachte Tappert nach seiner Einberufung zur Armee zu Beginn des Zweiten Weltkriegs den größten Teil seiner Zeit als Soldat der Waffen-SS bei der SS-Panzerdivision Totenkopf in der Sowjetunion. 1943 wurde Tappert in den Rang eines SS-Grenadiers befördert.

Winkler stellt fest, dass Tappert seine Fernsehkarriere als Derrick zur gleichen Zeit begann, als der Sozialdemokrat Helmut Schmidt (der auch Offizier der Wehrmacht war) 1974 das Kanzleramt übernahm. Die Figur Derrick hängte ihren Hut schließlich 1998 an den Nagel.

Der Fall Alfred Bauer und andere machen deutlich, dass es nicht nur Politiker, Akademiker und Juristen waren, die sich die giftige Ideologie des Nationalsozialismus aktiv zu eigen gemacht hatten, um dann im Nachkriegsdeutschland eine führende Rolle zu spielen. Viele Künstler und Kulturschaffende, die während des Kriegs für die Verbreitung der faschistischen Ideologie verantwortlich waren, gingen den gleichen Weg.

Zum Abschluss seines Berichts, sowie in einem Rundfunk-Interview, betonte Tobias Hof die Notwendigkeit, „die Person Alfred Bauers und die deutsche Filmindustrie der 1940er und 1950er Jahre“ viel genauer zu erforschen.

Das ist alles andere als eine nur akademische Frage. Heute stellt die rechtsextreme, rassistische Alternative für Deutschland (AfD) die wichtigste Oppositionspartei in Deutschland dar. Der Kultursprecher der Partei, Marc Jongen, nutzt das deutsche Parlament offen als Plattform für widerliche faschistische Propaganda und Hetze gegen Migranten, die angeblich „das Verschwinden Deutschlands als Nation“ befördern würden.

Die gründliche Klärung der Rolle der politischen und künstlerischen Elite Deutschlands unter dem Faschismus und nach dem Krieg bleibt eine dringende Aufgabe.

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