Die sogenannte „Gewaltnacht von Stuttgart“ dient der herrschenden Klasse als Legitimation für den Ausbau des Polizeistaats. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni war es nach einer Drogenkontrolle eines 17-Jährigen vor der Staatsoper Stuttgart zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei gekommen. Letzte Woche wurden die ersten öffentlichen Urteile gesprochen. Die völlig übertriebene Höhe der verhängten Urteile muss als Warnung verstanden werden, dass die herrschende Klasse entschlossen ist, jede Opposition in der Arbeiterklasse gegen ihren repressiven Staatsapparat mit voller Härte zu unterdrücken.
Bereits in den letzten Wochen hatten Medien und Politik die Ereignisse massiv aufgebauscht, um sie für eine rassistische Polizeistaatskampagne zu instrumentalisieren. Nun wurden am vergangenen Dienstag ein 18- und ein 19-Jähriger zu jeweils zweieinhalb Jahren Haft nach dem Jugendstrafrecht verurteilt – ohne Bewährung.
Albert Scherr, Leiter des Instituts für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Experte für Gesellschaftsforschung, Rassismus und Jugend, kommentierte die Dutzende Haftbefehle im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in Stuttgart bereits Ende September gegenüber der Stuttgarter Zeitung: „Unter normalen Umständen müssten die Täter zur Strafe die Wände im Jugendzentrum streichen. Aber hier will die Politik maximale Härte demonstrieren.“
Bereits am 20. Oktober war ein 16-Jähriger unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu einem Jahr Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Bei den beiden ersten öffentlichen Urteilen am letzten Dienstag war Bewährung keine Option für die Richter. Ein 19-Jähriger aus Geislingen im Kreis Göppingen erhielt zweieinhalb Jahre Jugendhaft ohne Bewährung – wegen besonders schwerem Landfriedensbruch. Er hatte bei einem Polizeiauto die Frontscheibe demoliert und einen Seitenspiegel abgetreten.
Ein 18-Jähriger aus Gaildorf im Kreis Schwäbisch Hall wurde ebenfalls zu zweieinhalb Jahren Jugendgefängnis ohne Bewährung verurteilt. Er absolviert aktuell eine Lehre zum Industriemechaniker und kommt aus einer Arbeiterfamilie – sein Vater ist Lastwagenfahrer, seine Mutter Reinigungskraft. Sein Anwalt Marc Reschke nannte den Rechtsspruch gegenüber der Stuttgarter Zeitung „ein politisches Urteil“ und verwies darauf, dass das Jugendstrafrecht eine abschreckende Wirkung untersagt. „Es soll auch berücksichtigen, welche Auswirkungen es auf den Lebenslauf hat. Und bei meinem Mandanten wäre dann der Ausbildungsplatz weg.“
Das Urteil liegt deutlich über den sowohl von der Verteidigung als auch von der Staatsanwaltschaft geforderten Bewährungsstrafen. Die Anklagepunkte gegen den Azubi lauteten besonders schwerer Landfriedensbruch und versuchte schwere Körperverletzung. Besonders schwerer Landfriedensbruch, weil er mit einem Windlicht drei Scheiben eines Polizeiwagens zerstört, und versuchte schwere Körperverletzung, weil er eine halbvolle Getränkedose Richtung Polizei geworfen hatte.
Die Urteile sind deshalb so drakonisch ausgefallen, weil sie Bestandteil einer rechten politischen Kampagne sind. Sie zielt darauf ab, jegliche Opposition gegen die rechte und arbeiterfeindliche Politik der herrschenden Klasse einzuschüchtern und einen Polizeistaat zu errichten. Daran lassen Aussagen führender Politiker und Kommentatoren in den Medien keinen Zweifel.
Thomas Strobl (CDU), Innenminister der grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg, erklärte: „Der Rechtsstaat zeigt Zähne. Das möchte sich der Mob hinter die Ohren schreiben, dass Randale und Gewalt bei uns kein Spaß sind. Das erste Urteil zur Stuttgarter Krawallnacht zeigt, dass die Polizei und die Justiz konsequent Straftaten ermitteln und auch hart ahnden.“
Der innenpolitische Sprecher der CDU im Landtag, Thomas Blenke, stieß ins gleiche Horn: „Es ist gut, dass das Gericht hier ein Zeichen gesetzt hat. Wer selber keine Gnade kennt, wenn es gegen die Polizei geht, darf nicht auf Milde hoffen.“
Der Landesvorsitzende der deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer, begrüßte die Härte der Urteile und erklärte gegenüber der DPA: „Diese Urteile sind klare und deutliche Signale und werden zur Abschreckung beitragen.“
Sein Kollege Hans-Jürgen Kirstein, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), forderte, zukünftig sogar noch härter vorzugehen und junge Erwachsene nicht mehr nach dem Jugendstrafrecht zu bestrafen: „Unabhängig von Person und Straftat fordern wir grundsätzlich, dass volljährige Straftäter nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden. Alles andere ist für uns nicht nachvollziehbar und legt die Vermutung nahe, dass Urteile nach dem Jugendstrafrecht möglicherweise zu mild ausfallen können.“
Die „Law and Order“-Kampagne, die auf der Linie der rechtsextremen AfD liegt, wird vor allem auch von den Grünen forciert. Sie stellen in Baden-Württemberg mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten und in der Landeshauptstadt Stuttgart mit Fritz Kuhn den Oberbürgermeister. „Die wilden Ausschreitungen haben uns alle erschreckt. Wir tun alles, damit sich so etwas nicht wiederholt. Wir erarbeiten neue Beleuchtungskonzepte und wollen temporäre Videoüberwachung an zentralen Plätzen“, verkündet Kuhn in einem aktuellen Interview mit dem Spiegel. Eine „freiheitliche Stadt“ könnte es „ohne Sicherheit nicht geben“.
Ebenfalls mit drastischen Urteilen endete am 10. Juli diesen Jahres der sogenannte Elbchaussee-Prozess, der angebliche Gewaltexzesse am Rande des G20-Gipfels in Hamburg vor drei Jahren aufarbeiten sollte. Der 17 Monate dauernde Hamburger Mammutprozess kann nur als Justizskandal bezeichnet werden. Die Hamburger Richterin hat fünf Jugendliche, die persönlich überhaupt keine oder nur geringfügige Straftaten begangen haben, zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Gleichzeitig ist bis heute kein einziger Beamter auch nur angeklagt worden – obwohl die Polizei immer wieder mit brutalster Gewalt gegen friedliche Demonstranten vorgegangen war.
Am deutlichsten wird der Klassencharakter der Urteile, wenn man sie mit der Reaktion von Justiz und Politik auf die faschistischen Terrornetzwerke vergleicht. Während das Werfen einer halbvollen Getränkedose und der Einsatz eines Windlichts gegen ein Polizeifahrzeug mit zweieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung bestraft wird, werden rechtsradikale Terroristen wie Franco A., Maximilian T., Marco G. (Nordkreuz), André S. (Hannibal) und andere auf freien Fuß gesetzt. Die von der herrschenden Klasse geschützten faschistischen Kräfte sollen als Rammbock gegen die wachsende Opposition in der Arbeiterklasse eingesetzt werden, um die Vermögen der Wirtschafts- und Finanzoligarchie zu verteidigen, deren Grundlage die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiterklasse ist. Dem gleichen Zweck dienen letztlich die drastischen Urteile von Stuttgart.