Das zweite Jahr der Corona-Pandemie hat begonnen und in den Vereinigten Staaten steigt die gewaltige Zahl der Todesopfer täglich um 2.000. Über 530.000 Menschen sind in den USA bereits an dem Virus verstorben. Selbst wenn man nur die „geringere“ Rate von 60.000 bis 70.000 Neuinfektionen pro Tag berücksichtigt, wird die Gesamtzahl der Amerikaner, die sich mit Covid-19 infiziert haben, bis zum 15. März schwindelerregende 30 Millionen erreichen. Bis Ende April wird jeder zehnte Amerikaner mit dem Virus angesteckt worden sein.
Die amerikanische herrschende Klasse verhält sich aber so, als sei die Pandemie so gut wie vorbei. Besonders krass ist ihr Vorgehen in den Bundesstaaten Texas und Mississippi, wo alle Corona-Maßnahmen aufgehoben wurden, einschließlich der Maskenpflicht und der Einschränkungen für Geschäfte und Betriebe. „Menschen und Unternehmen brauchen keinen Staat, der ihnen vorschreibt, wie sie zu arbeiten haben“, erklärte der republikanische Gouverneur Greg Abbott bei einer Veranstaltung der texanischen Handelskammer, wo er natürlich tosenden Applaus von seinem Millionärspublikum erhielt.
Abbott ist aber nur ein besonders eklatantes Beispiel für die Verachtung, mit der Politiker der Gesundheit der Bevölkerung begegnen. In den letzten zwei Wochen haben sich Dutzende weitere Gouverneure – Demokraten und Republikaner – angeschlossen und die Corona-Beschränkungen gelockert.
Der Gouverneur von Virginia, Ralph Northam, hat die Beschränkungen für Bars, Restaurants, große Vergnügungsorte und sogar Sportarenen gelockert. Die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, ergriff am Mittwoch ähnliche Maßnahmen und sagte, sie wolle „den Menschen in Michigan ermöglichen, die einfachen Freuden des Lebens zu genießen“. Der Gouverneur von Pennsylvania, Tom Wolf, erhöhte die erlaubte Besucherzahl im Sport- und Unterhaltungsbereich. Alle drei Gouverneure sind Demokraten.
Die öffentlichen Gesundheitsbehörden, Centers for Disease Control and Prevention (CDC), haben das Vorgehen der Regierungen in Texas und Mississippi kritisiert, ohne sie dabei beim Namen zu nennen. CDC-Direktorin Rochelle Walensky warnte, dass sich die Infektionszahlen zwar auf einem Niveau stabilisieren, das deutlich unter den schrecklichen Opferzahlen von Dezember und Januar liegt, dies aber keine Lockerung der Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie rechtfertige.
„Bei diesem Level an Fallzahlen mit der Ausbreitung der Virusvarianten stehen wir kurz davor, den Boden wieder zu verlieren, den wir in hartem Kampf gewonnen hatten. Diese Varianten sind eine sehr reale Bedrohung für unsere Bevölkerung und unseren Fortschritt. Jetzt ist nicht die Zeit, die kritischen Schutzmaßnahmen zu lockern, von denen wir wissen, dass sie die Covid-19-Ausbreitung in unserer Gesellschaft stoppen können – jetzt, da wir so nah dran sind.“
Die CDC haben diese Bedenken jedoch nicht geäußert, als es um die wichtigste politische Maßnahme ging, die die Ausbreitung der Pandemie in der gesamten Bevölkerung zu beschleunigen droht: die Pläne von Präsident Biden, alle Schulen in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit – also bis zum 29. April – wieder für den Präsenzunterricht zu öffnen.
Biden selbst kritisierte die Öffnungsschritte in Texas und Mississippi am Mittwoch als „Neandertaler-Denken“. Doch trotz unzähliger wissenschaftlicher Studien, die belegen, dass volle Klassenzimmer ein wichtiger Übertragungsort in der Pandemie sind, forciert die Biden-Regierung die Schulöffnungen. Die US-Zeitung Politico spricht von einer „Blitzaktion, die die Schulen zur Wiederöffnung drängen soll“.
Bildungsminister Miguel Cardona, der am Dienstagabend offiziell vereidigt wurde, verkündete gleich als ersten Schritt die Einberufung eines „nationalen Gipfels zur sicheren Wiedereröffnung von Schulen“, der noch in diesem Monat geplant ist. Auch die Führer der Lehrergewerkschaft sollen daran teilnehmen, damit sie die Kampagne für Schulöffnungen mit vorgetäuschten Sorgen über die „pädagogischen, sozialen und emotionalen Bedürfnisse der Schüler“ vorantreiben kann.
Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt am Mittwoch besuchte Cardona in Begleitung der First Lady Jill Biden Schulen in Pennsylvania und Connecticut, die wieder geöffnet haben.
Biden kündigte am Dienstag an, dass er die Richtlinien für die Impfstoffverteilung überarbeiten wolle, um Lehrer als „systemrelevante Arbeitskräfte“ an der Pandemiefront einzustufen. Sie sollen in der Impfreihenfolge nach oben aufrücken, damit sie berechtigt sind, bis Ende März zumindest eine erste Impfung zu erhalten.
Mit dieser Einstufung als „systemrelevante Arbeitskräfte“ tun sie den Lehrern keinen Gefallen, sondern setzen sie potenziell der gleichen Bedrohung aus wie Arbeiter in der Fleischindustrie oder anderen Bereichen, die von der Regierung unter dem Defense Production Act zur Arbeit gezwungen werden. Außerdem wird eine noch größere Gefahr des Präsenzunterrichts ignoriert: Die Schüler, die noch nicht geimpft werden können, werden sich anstecken – entweder untereinander oder über die Lehrer und andere Mitarbeiter, die auch nach einer Impfung noch infektiös sein können. Die Kinder werden das Virus dann nach Hause zu ihren Eltern und Großeltern schleppen.
Die Finanzierung der Kampagne für Schulöffnungen ist ein wichtiger Teil des US-Konjunkturpakets, das letzten Freitag im Repräsentantenhaus verabschiedet wurde und jetzt im Senat debattiert wird. 170 Milliarden Dollar von den insgesamt 1,9 Billionen Dollar des Pakets sollen für diese landesweite Kampagne eingesetzt werden. Das Bildungsministerium will jetzt nachverfolgen, wie die Schulöffnungen in den einzelnen Bundesstaaten und Schulbezirken vorangehen. Die Trump-Administration hatte es abgelehnt, solche Informationen zu sammeln.
Berichten zufolge erwägt die Biden-Regierung auch, einen „Beauftragten für die Schulöffnungen“ einzusetzen, der die Kampagne leiten soll. Randi Weingarten, die Präsidentin der Lehrergewerkschaft American Federation of Teachers, erklärte: „Ich freue mich, dass das Weiße Haus tatsächlich sagt, dass die Schulen innerhalb der ersten 100 Tage wieder öffnen sollen. Alle Bundesstaaten hätten das schon seit Monaten priorisieren sollen.“ Weingarten scheint sich damit wohl selbst auf den neuen Posten bewerben zu wollen.
Die Demokraten und Republikaner verfolgen im Grundsatz die gleiche Politik und verteidigen die gleichen sozialen Interessen des Großkapitals, der Wall Street und der Banken, die die Wiederherstellung der „normalen“ kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiterklasse fordern. Kinder müssen wieder zur Schule gehen, damit ihre Eltern zur Arbeit gezwungen werden können – ungeachtet der Gefahr für Gesundheit und Leben in der Pandemie.
Am Mittwoch erschien ein vielbeachteter Artikel in der New York Times, der deutlich macht, um welche Profitinteressen es geht. Im Fokus stehen die „Back-to-Office“-Pläne großer Konzerne, von denen derzeit nur ein Viertel der Mitarbeiter in die Büros gehen. Die Times schreibt: „Viele Unternehmen, die für die Anmietung leerer Büroräume bezahlen, wollen unbedingt, dass diese Zahl steigt.“ Weiter heißt es: „Eine weitere wichtige Überlegung dreht sich um die Kinder der Beschäftigten. Die Unternehmen sagen, dass sie keine festen Entscheidungen treffen können, bis sie wissen, wann die örtlichen Schulen wieder in Präsenz geöffnet werden.“
Das ist die Kernfrage: Die Konzerne brauchen ein festes Datum für die Wiedereröffnung der Schulen, weil sie ihre Arbeiter zurück zum Arbeitsplatz holen wollen. Das ist die Klassenbasis für die fanatische Schulöffnungsagenda der Regierung. Biden gibt Amerikas Konzernen, was sie wollen – und zwar in seinen ersten 100 Tagen.
Der historische Kontext der „ersten 100 Tage“ einer neuen Regierung geht auf den New Deal des früheren US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt zurück, der damals inmitten der schlimmsten Phase der Großen Depression umfassende Sozialreformen durchsetzte. Bidens „erste 100 Tage“ haben hingegen nichts mit Sozialreformen oder irgendwelchen Verbesserungen für die Arbeiterklasse tun. Er setzt das Diktat der Wall Street um, mit unermesslichen Kosten für Millionen Arbeiter und ihre Familien.
Im Licht der fortschreitenden Massenimpfungen ist es umso krimineller, dass Menschen überhaupt noch derGefahr einer Infektion ausgesetzt werden, ganz zu schweigen von Millionen Lehrern und zig Millionen Schulkindern. Diese Durchseuchungspolitik ist doppelt verbrecherisch und verantwortungslos, wenn man bedenkt, dass dadurch noch mehr Virusmutationen entstehen können, die infektiöser und sogar resistent gegen die Impfung sein können.
Die Socialist Equality Party führt den Widerstand gegen die mörderische Politik der Demokraten und Republikaner an. Wir rufen Lehrer und andere Beschäftigte im Bildungswesen auf, mit Unterstützung von Eltern und Schülern unabhängige Aktionskomitees in ihren Schulen zu bilden, um für eine vollständige Schließung aller Schulen zu kämpfen, bis die Corona-Pandemie unter Kontrolle ist.
Die Schulschließungen müssen mit riesigen Investitionen in die Weiterentwicklung des Distanzunterrichts einhergehen, der für alle Kinder zugänglich und produktiv gestaltet werden muss. Dieser Kampf erfordert die sozialistische Umwälzung der bestehenden Eigentumsverhältnisse, eine gigantische Umverteilung des Reichtums und den Umbau der Gesellschaft im Interesse der Arbeiterklasse.