Am Sonntag, den 21. März, organisierte die International Amazon Workers Voice (IAWV) ein Online-Meeting, an dem außer Amazon-Beschäftigten auch Lehrer, Krankenschwestern und andere Arbeiter teilnahmen. Im Besonderen ging es um den Versuch der Gewerkschaft Retail, Warehouse and Department Store Union (RWDSU), im Amazon Fulfillment Center in Bessemer (Alabama) als Interessenvertretung anerkannt zu werden. Darüber stimmen noch bis zum 29. März über 5.800 Amazon-Beschäftigte per Briefwahl ab.
Die IAWV wurde 2017 von der World Socialist Web Site ins Leben gerufen. Sie hat das Ziel, Amazon-Beschäftigte dabei zu unterstützen, ihre brutalen Arbeitsbedingungen bekanntzumachen, unabhängige Aktionskomitees aufzubauen und die Kämpfe der Amazon-Beschäftigten weltweit zu koordinieren. An dem Treffen nahm das Amazon Workers Rank-and-File Safety Committee teil, das kürzlich im Fulfillment Center in Baltimore (BWI2) in Maryland gegründet wurde, wo sich Arbeiter gegen den fehlenden Covid-19-Schutz zur Wehr setzten.
Kayla Costa, Redaktionsmitglied der WSWS und der IAWV, leitete die Sitzung. Der Hauptbericht wurde von Tom Carter gegeben, der regelmäßig für die WSWS über die Kämpfe der Amazon-Arbeiter schreibt.
Wie Carter sagte, wurde die IAWV vor vier Jahren gegründet, weil „wir erkannt haben, dass Amazon ein wichtiges Schlachtfeld im internationalen Klassenkampf darstellt“. Wirtschaft und Politik fürchten das Wachstum der Militanz unter den Amazon-Arbeitern, die eine strategische Position in der amerikanischen und Weltwirtschaft einnehmen. Deshalb befürworten Biden und die Demokraten jetzt den Einzug der korporatistischen Gewerkschaften, die seit Jahrzehnten mit dem Management und der Regierung zusammenarbeiten, um den Widerstand der Arbeiterklasse zu brechen.
Carter erklärte: „Die Gewerkschaft RWDSU wird nicht als Instrument zur Durchsetzung von Arbeiterinteressen ins Spiel gebracht, sondern im Gegenteil: Biden, die Demokraten, Rubio und die New York Times unterstützen sie, weil die Gewerkschaften in ihren Augen ein Mittel sind, um die Arbeiterkämpfe zu kontrollieren und letztlich zu unterdrücken.“
Natürlich verteidigt die IAWV das Recht der Arbeiter in Alabama, bei der Abstimmung ihre freie Entscheidung zu treffen, ohne dass Amazon sich einmischt. Doch Carter warnte: „Wenn die Gewerkschaft in Bessemer etabliert wird, werden sich die Arbeiter schnell in einem Kampf nicht nur gegen das Unternehmen, sondern auch gegen die Gewerkschaft wiederfinden.“
Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung, so Carter, sei es „die wichtigste Aufgabe für die Amazon-Arbeiter, unabhängige Organisationen aufzubauen, die von den Arbeitern kontrolliert werden, und mit denen sie für all das kämpfen können, was sie benötigen und was ihnen zukommt, aber nicht für das, was Management, Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre für bezahlbar oder akzeptabel halten“.
Das Unternehmen hat während der gesamten Zeit der Pandemie Rekordumsätze erzielt, während es seine Arbeiter in unmittelbare Gefahr brachte, erklärte Carter weiter. Seit März letzten Jahres hat Amazon-CEO und -Gründer Jeff Bezos sein persönliches Vermögen um fast 80 Milliarden Dollar aufgestockt, was ihn zum zweitreichsten Menschen der Welt macht. Im Oktober gab Amazon zu, dass mindestens 20.000 seiner Mitarbeiter an Covid-19 erkrankt seien, und dies ist, wie Carter betonte, „zweifellos eine Untertreibung“.
Die IAWV setzt sich unter anderem für folgende Arbeiterforderungen ein: eine 40-prozentige Lohnerhöhung, das Ende der schikanösen Kontrollen, volle Transparenz bei Covid-19-Ausbrüchen, sowie Arbeiterkontrolle über die Arbeitsgeschwindigkeit und Fragen der Gesundheit und der Arbeitssicherheit.
„Es gibt genug Geld, um alle diese Forderungen und noch mehr zu erfüllen“, sagte Carter. „Amazon kann sich das leisten, aber die Firma wird die Forderungen nicht gewähren, wenn Arbeiter bloß höflich darum bitten. Auch die RWDSU wird diese Forderungen nicht durchsetzen. Sie hat es bisher unterlassen, überhaupt irgendwelche Forderungen zu erheben, für die sie zu kämpfen verspricht.“
Er schloss: „Die einfachen Arbeiter müssen sich in Aktionskomitees zusammenschließen, die sie selbst aufbauen und kontrollieren, völlig unabhängig von den Demokraten, Republikanern und Gewerkschaften.“
Nach Carters Beitrag erfuhren die Teilnehmer von der Amazon-Arbeiterin Christina Brown erschütternde Einzelheiten über den Tod ihrer Schwester Poushawn Brown, die aus unbekannter Ursache im Schlaf gestorben war. Sie hatte während ihrer Schicht in einem Amazon-Logistikcenter im Washingtoner Stadtteil Springfield, Virginia, einen plötzlichen Anfall von Kopfschmerz erlitten. Poushawn hatte dort beim Covid-19-Testen gearbeitet, und Christina und ihre Familie sind davon überzeugt, dass sie sich dort mit Corona angesteckt hat.
„Meine Schwester verstarb Ende Januar, und ich wandte mich an Amazon, um eine Autopsie und die Kosten für eine Beerdigung zu bekommen. Man antwortete mir, dass Amazon sich bei mir zurückmelden werde. Das haben sie aber nie getan“, sagte Christina. Bis heute ist sie nicht in der Lage, die genaue Todesursache ihrer Schwester festzustellen, da exorbitante Gebühren für eine Autopsie verlangt werden. Sie trägt nun die alleinige Verantwortung für Poushawns 12-jährige Tochter sowie für ihre eigene Familie.
Christina sprach über die Kämpfe, die ihre Familie seit dem Verlust ihrer Schwester auszufechten hat. „Das einzige, was ihrer Tochter, meiner Mutter und mir angeboten wurde, waren zwei Monate Trauerbegleitung, die nächste Woche ausläuft“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob sie [die Amazon-Chefs] schon jemals einen geliebten Menschen verloren haben, aber manche Menschen brauchen dafür ein Leben lang Beratung.“
Dann sprach Marc, ein Initiator des Sicherheitskomitees im Amazon-Werk von Baltimore. Er sagte, dass Amazon „Sicherheitsprotokolle“ führe, die „eher einer PR-Kampagne gleichen. Sie wollen uns irgendwie das Gefühl geben, dass wir unter sicheren Bedingungen arbeiten würden.“
Er fuhr fort: "Ich finde es schon erstaunlich, wie ein Multimilliarden-Dollar-Unternehmen über so lange Zeit so viele unsichere Bedingungen, unsichere Ausrüstung und defekte Werkzeuge haben kann, mit denen wir arbeiten sollen. Das geht so einfach nicht mehr weiter.“ Marc ermutigte die Arbeiter, sich mit der WSWS und der IAWV in Verbindung zu setzen, um selbst Sicherheitskomitees auf betrieblicher Ebene aufzubauen.
In der Diskussion sprachen mehrere Arbeiter aus verschiedenen Berufen und mit unterschiedlichen Hintergründen. Lisa, eine Krankenschwester in New York City, hielt einen starken Beitrag. Sie sagte: „Wir alle müssen solche Sicherheits- und Aktionskomitees aufbauen, denn die Gewerkschaften helfen uns nicht. Sie wollen jeden Kampf von uns im Keim ersticken.“ Lisa fügte hinzu: „Derselbe Biden, der eine Gewerkschaft bei Amazon fordert, sagt gleichzeitig, die Faschisten, die am 6. Januar unsere demokratischen Rechte mit Füßen traten, seien seine 'Kollegen'. Das sind außerdem genau die Leute, die sich auf der ganzen Welt auf Krieg gegen China vorbereiten.“
Von dieser militanten und solidarischen Stimmung unter Arbeitern ist die RWDSU meilenweit entfernt. Ihre Mutterorganisation, die Gewerkschaft United Food and Commercial Workers, hat Arbeiter in denselben Geflügel- und Schweineschlachthöfen gezwungen, am Arbeitsplatz zu bleiben, in denen sogar ihre eigenen Mitglieder an Covid-19 starben.
Ein Zuhörer äußerte in einem Kommentar Zweifel, ob man „mit Sicherheit“ sagen könne, dass die RWDSU die Arbeiter verraten würde. Darauf antwortete der WSWS Labor Editor Jerry White, dass die WSWS und die Socialist Equality Party ihre Ansicht „auf die historischen Erfahrungen der Arbeiterklasse in den USA und weltweit aus vier Jahrzehnten“ gründen.
„Wenn Arbeiter allgemein über Gewerkschaften sprechen, dann stellen sie sich vielleicht Organisationen vor, die die Arbeiter zusammenschließen und den Unternehmern Widerstand leisten, und mit denen sie bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen können“, sagte White. In Wirklichkeit habe dies „nichts mit dem zu tun, was die Gewerkschaften heute darstellen und in den letzten 40 Jahren geworden sind“.
White bezog sich auf Argumente, die das ehemalige Regierungsmitglied unter Bill Clinton; Robert Reich, bei einer Anhörung im Kongress in der vergangenen Woche vorgebracht hatte. Eine zentrale Behauptung dieser Anhörung war, dass amerikanische Arbeiter ihren Lebensstandard seit den 1970er Jahren vor allem deshalb einbüßten, weil die Gewerkschaften so viele Mitglieder verloren hätten. „Allerdings hat Reich nicht gesagt, dass die Gewerkschaften ab den späten 1970er Jahren freiwillig die Löhne gesenkt haben“, und zwar in Übereinstimmung mit den Konzernen. White wies auf die Rolle der United Auto Workers (UAW) hin, deren Führer 1979, „während der ersten Rettungsaktion der Regierung in den Vorstand von Chrysler berufen worden sind“. Infolgedessen durfte der Autokonzern Arbeitsplätze abbauen und die Löhne (inflationsbereinigt) um 30.000 Dollar pro Jahr senken.
White betonte, dass die Gewerkschaften, die schon seit langer Zeit bei Lohnkürzungen mitwirkten, heute „auch das Leben der Arbeiter opfern. Warum soll es nötig sein, einen Apparat einzuschalten, der doch nur versucht, die Arbeiter am Kämpfen zu hindern? Warum organisieren wir Arbeiter uns nicht selbst? Genau das ist das Ziel der IAWV und der Socialist Equality Party“, schloss White.
Michael Hull, ein Mitglied des Rank-and-File-Sicherheitskomitees der Lehrer in Texas und Gründer der Social-Media-Gruppe „Teachers Against Dying“, bekräftigte diese Aussagen. Anstatt Arbeiter in einem gemeinsamen Kampf zu vereinen, seien die Lehrergewerkschaften eine „von der Wirtschaft kontrollierte Opposition“, sagte er.
„Die Gewerkschaft sollte eigentlich gegen die Eliten kämpfen. Sie sind aber über die Demokratische Partei in die Eliten eingebunden“, sagte er. Hull selbst, der eine Krebserkrankung überlebt hat, war gezwungen, seinen Arbeitsplatz aufzugeben, weil die Schulen von Texas geöffnet wurden und er nicht zum persönlichen Unterricht zurückkehren konnte. In einem öffentlichen Online-Forum forderte Hull die Präsidentin der Lehrergewerkschaft American Federation of Teachers, Randi Weingarten, dazu auf, über ihre Absprachen bei der Wiedereröffnung der Schulen Auskunft zu geben. Daraufhin erklärte die AFT-Sekretärin: „Wir werden bestimmt nicht dafür kämpfen, dass die Schulen geschlossen bleiben.“
Hull warnte alle Amazon-Arbeiter: „Wenn Joe Biden verspricht: 'Ich werde die Amazon-Beschäftigten und die Gewerkschaften unterstützen' – dann seid auf der Hut!“ Er sagte: „Wir brauchen eine Alternative (...) Wir Arbeiter müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen.“
Die International Amazon Workers Voice ruft alle Logistik- und Amazon-Arbeiter, die daran interessiert sind, unabhängige Aktionskomitees zu gründen, dazu auf, mit uns in Kontakt zu treten.