Trotz überfüllter Krankenhäuser: Macron verteidigt seine Politik der „Herdenimmunität“

Das Journal du dimanche (JDD) hat am Sonntag ein Interview mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron veröffentlicht, in dem er das katastrophale Krisenmanagement der Europäischen Union (EU) in Bezug auf die Corona-Pandemie verteidigt und trotz der völlig überfüllten Krankenhäuser einen Lockdown ausschließt.

Nur ein paar Seiten weiter erfuhren die Leser des JDD, dass die Krankenhäuser in der Region Paris beginnen auszuwählen, welche Patienten lebensrettende Intensivbehandlungen erhalten und welche nicht. Angesichts der zahlreichen schweren Fälle müsse das Pflegepersonal die Entscheidung treffen, wer behandelt wird, sodass Patienten zum Tode verurteilt werden, die andernfalls hätten gerettet werden können. Europaweit sind mehr als 900.000 Menschen an Covid-19 gestorben, Frankreich hat Russland und Großbritannien inzwischen überholt und ist zum Land mit den europaweit meisten Fällen (4,5 Millionen) geworden. Trotzdem erklärt Macron, er werde nichts an seiner gescheiterten Gesundheitspolitik ändern.

In dem Artikel mit dem Titel „Ich übernehme alles“ zeigte Macron seine offene Missachtung für das Leben der französischen Bevölkerung: „In den nächsten Tagen werden wir die Effektivität der Eindämmungsmaßnahmen auswerten und notfalls die notwendigen Maßnahmen treffen. Doch bisher ist noch nichts entschieden.“

Eine Krankenschwester hält einem Covid-19-Patienten das Telefon, während er mit seiner Familie spricht. Aufgenommen in der Intensivstation des Joseph-Imbert-Krankenhauszentrums im südfranzösischen Arles am 28. Oktober 2020 (AP Photo/Daniel Cole)

Doch diese so genannte „Eindämmung“ hat sich als Debakel erwiesen. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen ist innerhalb eines Monats von 25.000 auf über 40.000 gestiegen. In Frankreich sind bereits 95.000 Menschen an Covid-19 gestorben, nur 3,8 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft. Doch Macron will der Bevölkerung einen neuen Höhepunkt der Pandemie aufzwingen, der aufgrund der allgemeinen Verbreitung der britischen Variante von Wissenschaftlern schon lange vorausgesagt wurde.

Macron betonte, er lehne trotz der prognostizierten Todeszahlen selbst eine vorübergehende Schließung der Schulen und von nicht systemrelevanten Arbeitsplätzen ab: „Wir tun alles, um die Gesundheitsprotokolle zu stärken, damit wir die Schulen offen halten können.“ Obwohl ein entsetzlicher Anstieg der Todeszahlen droht, beharrte Macron darauf, dass die Schließung der Schulen – der Mittelpunkt aller ernsthaften Versuche, das Virus durch einen Lockdown einzudämmen – das „letzte Mittel“ bleiben müsse.

Allerdings hätte das „letzte Mittel“ spätestens im September 2020 eingesetzt werden müssen, als das Wiederaufleben des Virus nach der verfrühten Aufhebung der Eindämmungsmaßnahmen vom März 2020 bereits bestätigt worden war. Jetzt, wo das Virus außer Kontrolle geraten ist und die akute Gefahr eines Zusammenbruchs des Gesundheitssystems besteht, lehnt Macron Eindämmungsmaßnahmen ab, um die Dynamik der Ansteckung zu brechen.

Das JDD veröffentlichte außerdem einen offenen Brief von 41 Pariser Krankenhausärzten mit dem Titel „Wir werden zur Triage gezwungen sein“, in dem die völlige Überlastung der Krankenhäuser „innerhalb der nächsten zwei Wochen“ angekündigt wird.

Darin heißt es: „Wir möchten transparent erklären, welche Situation uns bevorsteht und wie wir damit umgehen werden. In dieser katastrophalen medizinischen Lage, in der es eindeutig ein Missverhältnis zwischen den Bedürfnissen und den verfügbaren Ressourcen gibt, werden wir zur Triage gezwungen sein, um so viele Menschen wie möglich zu retten. Von dieser Triage werden alle Patienten betroffen sein, ob sie an Covid erkrankt sind oder nicht, vor allem beim Zugang zu lebenswichtiger Versorgung erwachsener Patienten.“

Sie weisen darauf hin, dass die Triage bereits durchgeführt wird, da „uns bereits umfangreiche medizinische und chirurgische Programmänderungen aufgezwungen wurden ... Wir haben so eine Situation noch nie erlebt, nicht einmal in den schlimmsten Zeiten der letzten Jahre.“

Eine weitere Kolumne eines Ärztekollektivs trägt den Titel „Die Regierung stiehlt sich scheinheilig aus der Verantwortung, wenn sie die Pflegekräfte zu der Entscheidung zwingt, welche Patienten weiterleben dürfen“. Sie warnt vor der sozialen und moralischen Katastrophe, die durch die Regierung ausgelöst wird. Sie schreiben, die Triage „als Folge der derzeitigen Strategie gesundheitspolitischer Reaktion ... ist weit entfernt von den elementaren Regeln der Ethik, laut denen die Aufnahme in Intensivstationen fallweise im alleinigen Interesse des Patienten entschieden werden sollte.“

Sie fügen hinzu, dass Pflegekräfte „gezwungen sind, unethisch zu handeln und werden daraus mit Sicherheit nicht unbeschadet hervorgehen. Viele von ihnen werden vermutlich dauerhafte psychische Schäden davontragen.“

Als im März 2020 die Krankenhäuser in Norditalien überlastet waren und mit der Anwendung der Triage begannen, erschütterte die Barbarei dieses Verfahrens die ganze Welt. In Italien kam es zu spontanen Arbeitsniederlegungen in der Auto-, Stahl- und Werkzeugmaschinen-Industrie, die sich über ganz Europa und die USA ausbreiteten und die Regierungen zur Verhängung von Lockdowns zwangen. Der französische Arbeitgeberverband war beunruhigt über die „äußerst brutale Änderung in der Einstellung der Arbeiter“. Macron führte einen strengen Lockdown ein und erklärte dem Corona-Virus „den Krieg“.

Während die Arbeiter für den Schutz von Menschenleben kämpften, reagierten die Finanzaristokratie und ihre politischen Repräsentanten mit krimineller Gleichgültigkeit und einer Politik der Profite und des Todes. Die EU überschüttete Banken und Konzerne durch Rettungspakete mit Billionen Euro Steuergeldern, während die Finanzaristokratie auf eine schnellstmögliche Rückkehr an Arbeitsplätze und Schulen drängte, damit weiterhin Profite an die Finanzmärkte fließen.

Wenn das der „Krieg“ ist, den Macron angeblich gegen das Corona-Virus führt, wie wird dann erst die Kapitulation und die Kollaboration aussehen?

Wissenschaftler haben bereits seit Monaten vor den Risiken für die Öffentlichkeit gewarnt, die von Macrons Untätigkeit ausgehen. Im Januar hatte der Präsident des Nationalen Wissenschaftsrats, Jean-François Delfraissy, vor der Gefahr gewarnt, die von den damals in Großbritannien kursierenden Varianten ausging: „Wir stellen fest, dass wir uns ab Mitte März in einer äußerst schwierigen Lage befinden werden, wenn wir weiterhin nicht mehr tun.“

Die Epidemiologin Dominique Costagliola, die im Januar ebenfalls für strenge Lockdowns eingetreten war, erklärte im März: „Es ist naiv, so zu tun, als sei Macron Epidemiologe. ... Warum hat er nicht auf Jean-François Delfraissy gehört, der am 24. Januar erklärt hatte, die neuen Varianten würden die Lage ändern?“

Die Macron-Regierung hat die Wissenschaftler jedoch monatelang ignoriert. Sie verfolgte ganz eindeutig eine Politik der Herdenimmunität, die Trump und Johnson offener vertreten haben; sie selbst leugnet dies jedoch vor den Medien.

Am 22. März erklärte Gesundheitsminister Olivier Véran, die Regierung habe kaltblütig damit gerechnet, dass in Krankenhäusern wochen- und monatelang Menschen sterben werden: „Ich bin weiterhin sehr beunruhigt über die Lage im Gesundheitswesen. ... Uns droht eine sehr große Welle in den Krankenhäusern, die sich erst nach Wochen abschwächen wird. Wir werden in den Krankenhäusern einige schwierige Bilder ertragen müssen.“

Macron gestattete sich in dem Interview mit dem JDD den Luxus einiger Krokodilstränen über das Schicksal der Patienten, denen seine Regierung den Zugang zur Behandlung verwehren will: „Es wird nicht oft genug gesagt, aber viele Menschen auf den Intensivstationen kommen aus bescheidenen Verhältnissen. Die Krankheit schlägt mit großer Ungerechtigkeit zu.“

Dass das Corona-Virus die Arbeiterklasse am stärksten trifft, ist jedoch genau der Grund, warum Macron die Patienten ihrem Schicksal überlassen will. Bei seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Pandemie folgt der „Präsident der Reichen“ dem gleichen Klassenhass, der seine ganze Amtszeit charakterisiert hat.

Diese Tatsache bestätigt die zentrale Lehre aus allen Kämpfen der Arbeiter gegen Macron: Mit ihm gibt es nichts zu verhandeln. Die Gewerkschaftsapparate und ihre politischen Verbündeten, die dieses Spiel spielen, sind mitverantwortlich für seine politische Kriminalität. Die Mobilisierung der Arbeiter in ganz Europa und der Welt unabhängig von den Gewerkschaften ist notwendig, um wissenschaftliche Maßnahmen gegen das Corona-Virus zu ermöglichen. Das Ziel dieser Bewegung muss die Übertragung der politischen Macht an die Arbeiter und die Enteignung der Finanzaristokratie sein, die diese Katastrophe organisiert hat.

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