Die letzten zwei Tage lang haben die Lokführer und Zugbegleiter große Teile des Eisenbahnsystems lahmgelegt. Sie wehren sich dagegen, dass die Kosten der Corona-Pandemie auf sie abgewälzt werden. Sie sind nicht nur mit dem Bahnvorstand konfrontiert, sondern auch mit der Bundesregierung, der die Bahn zu 100 Prozent gehört, der Eisenbahn- und Verkehrs-Gewerkschaft (EVG) und letztlich auch der beschränkten Perspektive der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) selbst.
In Hessen trat am Mittwoch auch die S-Bahn Rhein-Main in den Streik. Zwei junge Lokführer, Sebastian und Damian, erklärten der World Socialist Web Site, was ihre Kollegen eigentlich leisten und welche Verantwortung auf ihnen ruht: „Im Alltag sind es oft gut und gern 1000 Passagiere in einem Zug, und jeder Zug wird nur von einem Lokführer allein geführt.“ Und die Schichten seien lang und aufreibend.
Damian erläutert: „Die Arbeit macht uns großen Spaß, aber die Übergänge im Schichtdienst – das ist schon anstrengend. Wir haben sehr gemischte Schichten, zum Beispiel einmal vier Tage Spätschicht, dann drei Tage Nachtschicht und dann zwei Tage frei. Auch die Uhrzeiten sind unterschiedlich, und jede Schicht fängt zu einer andern Uhrzeit an. Wir können uns nie auf einen festen Rhythmus einstellen.“
Bezeichnenderweise endete Damians letzte Schicht vor dem Streik um 01:54 in der Nacht, sechs Minuten vor Streikbeginn. Sebastian sagt: „Für die Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass morgens um drei oder um vier Uhr ein Zug kommt. Für uns bedeutet es, dass wir schon davor bei Wind und Wetter im Dunkeln über die Gleise gehen, um den Zug abzuholen und vorzubereiten. Angenommen, ich muss einen Zug um 04:15 starten, dann bin ich schon um 03:00 Uhr an der Dienststelle, um alles vorzubereiten, denn ich bin ja für die Sicherheit der Fahrgäste verantwortlich und muss alles prüfen, ob es funktioniert. Hinzu kommt noch meine Anfahrt, die nicht zur bezahlten Arbeitszeit gerechnet wird.“
„Corona ist auch jetzt noch nicht vorbei“, betont Damian. „Wir müssten in jeder Hinsicht besser unterstützt werden. Wir mussten ja auch im Lockdown fahren – eine Lok kannst du nicht vom Homeoffice aus führen. Wir hatten auch Lokführer, die sich infiziert haben, aber es sollte nicht an die Öffentlichkeit dringen. Man wollte nicht, dass der Fahrbetrieb stillgelegt wird.“
Die beiden weisen darauf hin, dass der Streik diesmal unbedingt zum Erfolg gebracht werden müsse. Eine massive Öffentlichkeitskampagne laufe gegen die GDL: „Es gab keine Verhandlung über die Forderungen, sondern alles lief auf den Streik hinaus, und die Bahn hat sich darauf offensichtlich gut vorbereitet. Jetzt heißt es: Die GDL ist schuld, das sind jetzt ‚die Bösen‘.“
Tatsächlich hat die Große Koalition der Bahn das Tarifeinheitsgesetz (TEG) an die Hand gegeben, das den DGB-Gewerkschaften praktisch ein Monopol einräumt und grundlegende Arbeiterrechte wie das Streikrecht und das Koalitionsrecht in Frage stellt. Für Lokführer bedroht die Anwendung des TEG bei der Bahn wichtige Errungenschaften, die sie sich in früheren, von der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) geführten Streiks erstritten haben. Allerdings ist die GDL selbst nicht bereit, den politischen Kampf gegen diese Angriffe zu führen und den Streik auszuweiten, weil sie den kapitalistischen Rahmen der Sozialpartnerschaft akzeptiert. Obwohl die Bahn bislang zu keinerlei Zugeständnissen bereit war, hat die GDL den Streik vorerst wieder beendet.
Damian erläutert, was es bedeuten würde, wenn der EVG-Tarifvertrag für sie alle gelten würde: „Wir Lokführer haben heute einen Jahresplan, der uns voraussagt, wann die Ruhetage sind, an denen wir frei haben. Und auch ungefähr, was für eine Schicht wir an jedem Tag haben – wobei sich das kurzfristig immer ändern kann. Das war ein Erfolg der letzten Streiks. Aber wenn das TEG [Tarifeinheitsgesetz] zur Anwendung kommt, steht das alles wieder in Frage.“ Der Kollege ergänzt: „Dann werden womöglich die Schichten wieder wochenweise geplant, was viel schwieriger für uns wäre.“
„Sollte das tatsächlich kommen“, überlegt Damian, „dann wird ganz sicher noch heftiger gestreikt. Wenn wir diese Rechte verlieren, dann waren alle bisherigen Streiks umsonst. Das wäre ein gewaltiger Rückschritt, dann müssten wir wieder ganz von vorne anfangen.“
„Wir sind alle Teil eines großen Betriebs, auch wenn es durch die Privatisierung heute aus 250–300 verschiedenen GmbHs besteht.“ Den Vorschlag der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), unabhängige Aktionskomitees aufzubauen, um sich untereinander zu verständigen und den Kampf gemeinsam zu führen und auszuweiten, fanden beide Lokführer sehr gut. „Wir müssen als Eisenbahner alle zusammenhalten. Wir sind auch für einen gemeinsamen Kampf über die Grenzen hinweg, mit den französischen SNCF-Kollegen zusammen.“
Gespräche mit Lokführern und Zugbegleitern in Berlin
Auch in Berlin wird es vielen Lokführern und Zugbegleitern immer klarer, dass sie den Kampf nur gewinnen können, wenn sie ihn alle gemeinsam und politisch führen – und dass die GDL, genau wie die EVG, zu einem solchen politischen Kampf nicht bereit ist.
Im Gespräch mit dem WSWS-Reporter nach der Berliner Streikkundgebung sagt die Lokführerin Sonja, sie möchte den Frankfurter Eisenbahnern eine Botschaft übermitteln: „Haltet durch und kämpft weiter!“ Sie hält es für sehr wichtig, dass sich die Eisenbahner überregional zusammenschließen. Auch anderen fehlt der aktive Kontakt zwischen den verschiedenen Zentren, und dass es keine gemeinsamen Online-Veranstaltungen gibt, wo man die Probleme besprechen und Entscheidungen treffen könnte.
Lukas und Marcel, zwei Lokführer der DB Regio, die gerade ihre Ausbildung beendet haben, weisen darauf hin, dass die Deutsche Bahn sogar die Betriebsrente angreifen will. „Sie betrug bisher 150 Euro monatlich. Jetzt soll sie um 50 Euro gekürzt werden. Für neu eingestellte Eisenbahner soll sie sogar gänzlich entfallen“, sagt Marcel.
Die Deutsche Bahn hatte den Konflikt mit der GDL bewusst provoziert. „Bei den privaten Unternehmen ODEG, Transdev und Netinera, die regionale Strecken fahren, konnte die GDL die gleichen Forderungen einfach durchsetzen, die jetzt von der Deutschen Bahn abgelehnt werden“, sagt Lukas. Dabei ist die Forderung der GDL von 1,4 % Lohnerhöhung für dieses Jahr äußerst bescheiden und deckt noch nicht einmal die Inflation ab. Wie sie berichten, rechtfertige die GDL es damit, dass sie – um keinen unnötigen Konflikt zu provozieren – bloß die gleiche Erhöhung verlangt, die im Öffentlichen Dienst bezahlt wird.
„Die richtigere Entscheidung wäre allerdings“, wirft Martin, ein Lokführer im Fernverkehr, ein, „das Lohnniveau auch im Öffentlichen Dienst über die Inflationssteigerung anzuheben!“
Viele Probleme, erklären die Lokführer, seien dadurch entstanden, dass der Bahnkonzern in viele Teilbereiche aufgesplittert worden sei, die alle nach Profitgesichtspunkten personell geschrumpft würden. Als nächstes würden wohl die Teilbereiche privatisiert, darunter die Reparatur und Instandhaltung von Zügen. Schon seit der Wiedervereinigung sei ein rigoroser Sparplan eingeführt worden, ganze Strecken seien stillgelegt worden, wodurch jetzt auch viele Verspätungen entstünden. Bei der S-Bahn sei die Strecke Buch-Bernau nur noch eingleisig. Besonders im Fernverkehr entstehen Verspätungen, wenn ein ICE warten muss, weil ein Güterzug noch auf der gleichen Strecke unterwegs ist, weil die parallele Ausweichstrecke stillgelegt wurde.
Drei ältere Lokführer der S-Bahn haben noch in der DDR gelernt und bei der Deutschen Reichsbahn gearbeitet. Andreas (seit 1987 bei der Bahn), Thomas (seit 1990) und Mario (seit 1996 S-Bahnfahrer) bestätigen, dass die Arbeitsbedingungen damals deutlich besser waren. Die Bahn war einer der wichtigsten Betriebe der DDR, die dafür sorgte, dass der Arbeitsplatz sicher und die Arbeitsbedingungen verlässlich waren, mit lange voraus festgelegten Schichtplänen und ausreichend Personal. „Nach der Wiedervereinigung wurde das Westsystem übernommen“, sagt Thomas.
Seit dem Börsengang haben sich die Arbeitsbedingungen drastisch verschlechtert. Bei der S-Bahn gibt es Schichtpläne von etwa 6 bis 8 Wochen mit der Aufteilung in Früh-, Spät- und Nachtschicht oder aber einer Tagschicht, die von 7 bis 18 Uhr dauern kann. „Dazwischen sind Pausen eingerechnet, aber darin kann man nicht viel machen“, erklärt Mario. „Wenn man noch den Weg von und zur Arbeit dazurechnet, ist das ein langer Tag. Manche Lokführer kommen aus Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern angereist, jeden Tag.“ – „Aber der meiste Stress kommt dadurch, dass wir als S-Bahnfahrer alleine dastehen“, wirft Andreas ein.
Zugbegleiter oder auch Bahnsteigpersonal wurden vor etwa 15 Jahren schon systematisch abgebaut. „Wenn ein Rollstuhlfahrer Unterstützung beim Ein- und Aussteigen braucht, muss ich den Zug festsetzen, aussteigen, das Bodenblech zurechtlegen und wieder abbauen. Dadurch kommt es oft zu Verspätungen, der folgende Zug wird dann auch beeinträchtigt, weil er noch nicht in den Bahnhof einfahren kann. Manchmal muss der verspätete Zug dann aus dem regelmäßigen Ringbahnverkehr in eine Strecke ausscheren, die aus Berlin raus führt. In dem Fall muss der Lokführer alle Fahrgäste auffordern, den Zug zu verlassen. An den Bahnsteigen gibt es keine Unterstützung durch einen Zugbegleiter oder Aufsichtsbeamten.“
Ein Zugchef im Fernverkehr erklärt: „Die große Personaleinsparung wurde vor wenigen Jahren damit begründet, dass man eine ‚DB App’ einrichte, die es den Passagieren erlaubt, selbst einzuchecken, wenn sie im Zug sitzen. Das Personal wurde schon abgebaut, bevor es die App gab, und das Ergebnis ist, dass die wenigsten Passagiere selbst einchecken. Ich habe zwei Kollegen, die als Zugbegleiter die 12 Wagen eines ICE betreuen. Wenn Passagiere Hilfe brauchen, sind sie völlig überfordert.“
„Herr Lutz, der Konzernchef, bekam jetzt zehn Prozent Gehaltsaufstockung, das sind etwa 90.000 Euro im Jahr. Dieser Zuwachs ist mehr als das Doppelte, was mancher Eisenbahner im Jahr verdient“, grollt einer der Streikführer der GDL. Thomas, der S-Bahnfahrer, bringt das Problem auf den Punkt: „Seit die Bahn in den 90er Jahren vom Westen übernommen wurde, wurde das System heruntergefahren bis auf die Knochen. Das Verkehrssystem, was die Bevölkerung braucht, was ein Teil der Daseinsvorsorge ist, wurde kaputtgespart. Denn es geht nur noch um Profit.“