Perspektive

Das Abtreibungsverbot in Texas: Ein massiver Angriff auf demokratische Rechte

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, das Abtreibungsverbot in Texas zum 1. September in Kraft treten zu lassen, ist ein brutaler Angriff auf demokratische Rechte, der von der gesamten Arbeiterklasse zurückgewiesen werden muss. Mit einem Federstrich wurden Schwangerschaftsabbrüche illegalisiert – in einem Staat, in dem beinahe 10 Prozent der US-Bevölkerung leben. Nicht weniger als zwei Dutzend weitere Bundesstaaten haben signalisiert, dem Beispiel von Texas folgen zu wollen. Damit wird in der Hälfte der USA bereits jetzt ein Verbot der Abtreibung in die Wege geleitet, ohne dass der Oberste Gerichtshofs entschieden hätte, das Urteil im Präzedenzfall Roe vs Wade zu kippen, mit dem das Grundrecht auf Schwangerschaftsabbruch etabliert worden war.

Der Oberste Gerichtshof in Washington hat ein texanisches Gesetz bestätigt, das Abtreibungen weitgehend verbietet. Mit 5:4 Stimmen lehnten die Richter einen Eilantrag gegen das Inkrafttreten des Gesetzes am 1. September ab (AP Photo/J. Scott Applewhite) [AP Photo/J. Scott Applewhite]

Das texanische Gesetz, das im Mai letzten Jahres beschlossen wurde, setzt die so genannte „Fetal-Heartbeat“-Regel um, die bereits von einem halben Dutzend Bundesstaaten angenommen wurde. Demnach ist ein Schwangerschaftsabbruch nach etwa der sechsten Woche illegal, obwohl die meisten Frauen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind. Schon der Name der Regel („Herzschlag des Fötus“) ist medizinisch absurd, denn in der sechsten Woche hat sich noch kein Fötus, sondern erst ein Embryo gebildet. Dieser hat kein Herz, sondern nur eine Ansammlung von Zellen, deren elektrische Impulse mit hochmodernen Messgeräten zu erkennen sind.

Die Moral und Argumentation des Obersten Gerichtshof zeichnet sich durch Feigheit aus. Die fünf Richter, die die Mehrheit bilden, erklärten ihre Entscheidung in nur einem einzigen Absatz, der von keinem von ihnen unterschrieben war. Das Statement wurde 24 Stunden nach Inkrafttreten des Gesetzes veröffentlicht und gelangte kurz vor Mitternacht an die Öffentlichkeit. Und das, obwohl die Entscheidung unmittelbare Auswirkungen auf Tausende und langfristig böse Folgen für Millionen Frauen hat.

Die vier Richter, die dagegen gestimmt hatten, legten in eigenen Stellungnahmen dar, welche Widersprüche und juristischen Absurditäten im Spiel waren. Richterin Sonia Sotomayor bezeichnete das texanische Gesetz als „atemberaubende Missachtung der Verfassung, der Präzedenzfälle dieses Gerichts und der Rechte von Frauen in ganz Texas, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollen“. Das Gericht habe „die Versuche des Bundestaats belohnt, die föderale Überprüfung eines eindeutig verfassungswidrigen Gesetzes, das unter Missachtung der Präzedenzfälle des Gerichts erlassen wurde, durch verfahrensrechtliche Verwicklungen zu verzögern, die der Bundesstaat selbst herbeigeführt hat“.

Richterin Elena Kagan hob das undemokratische „Shadow-Docket“-Verfahren hervor, das der Oberste Gerichtshof nicht nur im Hinblick auf die aktuelle Rechtssache, sondern in einer ganzen Reihe von Fällen verwendet hatte. Dabei setzt das Gericht unter Hinweis auf die Dringlichkeit einer Entscheidung Anhörungen und andere wesentliche juristische Vorgehensweisen außer Kraft. Bei einem Urteil gegen das Verbot von Zwangsräumungen, das im Zuge der Coronakrise von den Gesundheitsbehörden erlassen worden war, hatte der Oberste Gerichtshof ebenfalls diese Verfahren angewendet.

„Ohne vollständige Darlegung des Sachverhalts oder gründliche rechtliche Prüfung und nach weniger als 72 Stunden Bedenkzeit gibt das Gericht grünes Licht für die Anwendung des offensichtlich verfassungswidrigen texanischen Gesetzes, das einen Schwangerschaftsabbruch weitgehend verbietet“, schreibt Richterin Kagan. „Es hat die Einreichungen der Parteien nur ganz oberflächlich und eilig geprüft. Und es machte sich kaum die Mühe, zu erläutern, weshalb nach seiner Einschätzung die Anfechtung einer offensichtlich verfassungswidrigen Abtreibungsverordnung, die auf völlig neuartige Weise durchgesetzt wird, keine Aussicht auf Erfolg hat.“

Dies ist ein entscheidender Punkt, wie ein Rechtsexperte gegenüber der WSWS erläuterte: „Der vielleicht wichtigste Gesichtspunkt bei der Entscheidung über solche Anfechtungsklagen ist die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in der Sache. Das texanische Gesetz kann nur Bestand haben, wenn Roe vs Wade aufgehoben wird, wie die unterlegenen Richter betonen. Um zu beurteilen, was es heißt, dass die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs eine einstweilige Verfügung abgelehnt hat, ohne die Erfolgsaussichten in der Sache zu prüfen, muss man wissen, dass auf diese Weise das Urteil in der Sache Roe durch die Hintertür aufgehoben wird.“

Eine reaktionäre und antidemokratische Politik erfordert reaktionäre und antidemokratische Methoden. Fast ebenso bedeutsam wie die faktische Aufhebung des Rechts auf Abtreibung ist die Methode, mit der dieser Angriff durchgesetzt wird: Wer gegen eine Person klagt, die eine Abtreibung „anstrebt oder begünstigt“, dem winkt eine Belohnung von 10.000 Dollar und die volle Erstattung der Prozesskosten, wenn der Klage stattgegeben wird. Richterin Sotomayor schreibt dazu: „Damit macht der texanische Gesetzgeber die Bürger seines Staates zu Kopfgeldjägern und bietet ihnen Geldprämien für die zivilrechtliche Verfolgung ihrer Nachbarn wegen medizinischer Maßnahmen an.“

Presseberichten zufolge fordern die Abtreibungsgegner von „Texas Right to Life“ auf ihrer Website bereits zu anonymen Hinweisen auf und suchen Freiwillige, „die sich dem Team der Lebensschützer anschließen, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen“. Auf einem Online-Formular können Kliniken oder Ärzte denunziert werden, „damit diese Gesetzesbrecher zur Rechenschaft gezogen werden“.

Auch weitere neue texanische Gesetze sehen diese Art von Denunziantentum vor, beispielsweise das Gesetz zur Einschränkung der Wahlverfahren, das Gouverneur Abbott letzte Woche unterzeichnet hat. Es ermöglicht ein weitaus aggressiveres Verhalten von „Wahlbeobachtern“, die das Recht der Wähler auf Stimmabgabe in Frage stellen. In Kombination mit einem weiteren neuen Gesetz, das das uneingeschränkte Tragen von Schusswaffen ohne Lizenz oder Genehmigung erlaubt, dürften Wähler beim Urnengang bald auf Bewaffnete treffen, die ihre Papiere sehen wollen.

Präsident Biden gab am Mittwoch eine Erklärung ab, in der er die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs als „beispiellosen Angriff auf die verfassungsmäßigen Rechte der Frau nach Roe vs Wade“ bezeichnete. Er verurteilte das texanische Gesetz, weil es „ein verfassungswidriges Chaos stiftet und selbsternannte Vollstrecker zu Taten mit verheerenden Folgen ermächtigt“.

Als Antwort schlug er Konsultationen zwischen dem Weißen Haus und verschiedenen Bundesministerien vor, „um zu sehen, welche Schritte die Bundesregierung unternehmen kann, um Frauen in Texas Zugang zu sicheren und legalen Abtreibungen zu verschaffen ...“ Mit anderen Worten: Er hatte keine Antwort. Er forderte den Kongress nicht auf, ein Gesetz zur Kodifizierung von Roe vs Wade zu verabschieden. Damit müsste er sich gegen die Blockade („Filibuster“) der Republikaner im Senat durchsetzen. Aber viele Demokraten im Senat unterstützen diese Verschleppungstaktik oder sind selbst Abtreibungsgegner.

Die Demokraten benutzen die fünfköpfige ultrarechte Mehrheit im Obersten Gerichtshof stets als Ausrede für ihr Nichtstun. Sie alle verdanken ihre Posten der Perfidie und Gleichgültigkeit der Demokratischen Partei.

Die Berufung von Richter Clarence Thomas wurde nach Anhörung des Justizausschusses unter dem Vorsitz des damaligen Senators Joe Biden bestätigt. Biden lehnte es ab, die Nominierung von Thomas zu blockieren. Richter Samuel Alito wurde bestätigt, nachdem 18 Demokraten gemeinsame Sache mit den Republikanern gemacht hatten, um eine Blockade im Parlament aufzulösen.

Richter Neil Gorsuch wurde nach dem Tod des Erzreaktionärs Antonin Scalia als dessen Nachfolger bestätigt, nachdem die Republikaner im Senat unter Mitch McConnell den Antritt des von Präsident Obama berufenen Nachfolgers blockiert hatten. Gegen diesen Coup leisteten weder das Weiße Haus noch die Senatoren der Demokraten ernsthaften Widerstand. Anschließend hob McConnell die Filibuster-Blockade für Nominierungen zum Obersten Gerichtshof auf. Die Demokraten weigern sich heute hingegen, dasselbe zu tun, um das Urteil im Präzedenzfall Roe vs Wade gesetzlich festzuschreiben.

Als Trump 2018 Brett Kavanaugh für den Obersten Gerichtshof nominierte, kümmerten sich die Demokraten nicht um dessen reaktionäre Vorgeschichte und Rechtsprechung (u.a. zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch). Stattdessen machten sie ihm in #MeToo-Manier sein Verhalten als Teenager, also dreißig Jahre vor seiner Nominierung, zum Vorwurf. Diese Vorgehensweise, ebenso wie die gesamte #MeToo-Kampagne, wurde von den Pseudolinken und Publikationen wie Jacobin begeistert unterstützt.

Zwei Jahre später, nach dem Tod von Ruth Bader Ginsburg knapp zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl 2020, setzte McConnell die Nominierung von Amy Coney Barrett durch. Es kümmerte ihn dabei wenig, dass üblicherweise im letzten Jahr der Präsidentschaft freie Stellen am Obersten Gerichtshof nicht neu besetzt werden. Als Frau war Barrett mit #MeToo-Methoden nicht angreifbar und außerdem für die identitätsbesessenen oberen Schichten der Mittelklasse akzeptabler als Kavanaugh.

Wie die World Socialist Web Site 2019 schrieb:

Die systematische Entkernung des Rechts auf Abtreibung, die in weiten Teilen des Landes vonstatten geht, hat nur einen winzigen Bruchteil der Energie, des Geldes und der Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen, die in die reaktionäre #MeToo-Kampagne der Demokraten geflossen ist. Diese Kampagne zielt darauf ab, das Schicksal von Frauen mit hohem Einkommen – Schauspielerinnen, Führungskräfte von Unternehmen, Professorinnen – durch die Entfernung ihrer männlichen Vorgesetzten und Kollegen durch weitgehend erfundene Behauptungen über sexuelles Fehlverhalten zu verbessern. Die Alyssa Milanos dieser Welt kümmern sich nicht um das Abtreibungsrecht für Arbeiterinnen in Alabama und Georgia. Selbst mit einem vollständigen Verbot, das für die gesamten Vereinigten Staaten gilt, wären sie stets in der Lage, etwa auf Toronto oder London auszuweichen.

Diese politische Bilanz zeigt, dass selbst in den Bereichen, in denen die Demokratische Partei angeblich unüberbrückbare Differenzen mit den Republikanern hat, wie z. B. beim Abtreibungsrecht, sie als Partei der Wirtschaft nicht in der Lage ist, den zunehmenden Angriffen auf die demokratischen Rechte der Arbeiterklasse ernsthaften Widerstand zu leisten.

Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch kann wie alle demokratischen Rechte nur von der Arbeiterklasse verteidigt werden. Sie braucht eine unabhängige Politik, um gegen die Demokratische Partei und das gesamte Zweiparteiensystem und für eine revolutionäre sozialistische Perspektive zu kämpfen.

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