Ukrainischer Präsident Selenskyj widerspricht USA: Russischer Angriff steht nicht unmittelbar bevor

Washington und seine Nato-Verbündeten schüren seit Wochen eine globale Kriegskrise mit der Behauptung, Washington müsse bereit sein, die Ukraine gegen einen drohenden russischen Überfall zu verteidigen. Am Freitag wies der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Behauptung zurück, ein russischer Einmarsch stehe unmittelbar bevor. Mit dieser erstaunlichen Zurechtweisung forderte er die Nato auf, ihre Kriegsrhetorik zurückzufahren.

Am Freitagmorgen erklärten hochrangige ukrainische Regierungsvertreter gegenüber CNN, ein Telefonat zwischen Selenskyj und Biden sei „nicht gut verlaufen“. Sie erklärten, laut CNN habe Biden „behauptet, ein russischer Angriff stehe unmittelbar bevor, ein Einmarsch sei jetzt praktisch sicher“. Selenskyj hingegen „bekräftigte seine Position, die Bedrohung durch Russland sei ‚gefährlich, aber unklar‘ und es ist nicht sicher, ob es zu einem Angriff kommen wird“. Laut CNN forderte er Biden auf, „die Rhetorik zurückzufahren“.

Der Nationale Sicherheitsrat (NSC) der USA wies diese Darstellung anfangs zurück. Seine Sprecherin Emily Horne erklärte: „Anonyme Quellen verbreiten Falschbehauptungen. Präsident Biden erklärte, es bestehe eine klare Möglichkeit, dass die Russen im Februar die Ukraine überfallen könnten. Er hat das öffentlich erklärt, und wir haben seit Monaten davor gewarnt. Berichte über mehr oder etwas anderes sind völlig falsch.“

Danach bekräftigte Selenskyj jedoch auf einer Pressekonferenz öffentlich die Behauptungen gegenüber Biden, die Horne geleugnet hatte. Er forderte die Nato-Staatschefs dazu auf, aufzuhören, Panik zu schüren, indem sie über einen unmittelbar drohenden Krieg zwischen der Nato und Russland um die Ukraine reden und erklärte: „Ich habe angefangen, mit den Staatschefs dieser Länder zu reden und ihnen zu erklären, dass wir die Wirtschaft stabilisieren müssen. Sie sagen ‚ab morgen ist Krieg‘. Das bedeutet Panik.“

Er fuhr fort: „Die Möglichkeit eines Angriffs besteht, sie ist nicht gebannt, und sie ist nicht weniger ernst als im Jahr 2021... [aber] wir sehen keine größere Eskalation [als letztes Jahr]“. Er könne mit dieser Gefahr gut umgehen.

Weiter erklärte er: „Wir sind dankbar für die Unterstützung, aber wir haben gelernt, damit zu leben und uns zu entwickeln. ... Wir haben gelernt, uns zu schützen und zu verteidigen, und unsere Leben selbst zu führen.“

Angesichts der Tatsache, dass Russland der Ukraine militärisch deutlich überlegen ist, deutet diese Äußerung darauf hin, dass Selenskyj keine massive russische Invasion befürchtet.

Selenskyj nahm eine Einladung von Putin zu Gesprächen an: „Ich habe keine Angst vor einem Treffen, egal welches Format, bilateral, okay, mir egal, ich bin bereit. ... Ich bin für ernsthaften Dialog.“

Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bestritt die Gefahr eines russischen Überfalls: „Die Zahl der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine... reicht nicht für eine Offensive entlang der gesamten ukrainischen Grenze. Es fehlen außerdem einige wichtige militärische Indikatoren und Systeme, die für eine so große Offensive notwendig wären... Wir können hundertmal am Tag sagen, eine Invasion steht bevor, aber das ändert nichts an der Lage vor Ort.“

Die Nato-Kriegspropaganda ist damit als Ansammlung von Lügen entlarvt. Unter Washingtons Führung haben die Nato-Mächte wochenlang kriegerische Planspiele abgehalten und neue Stationierungen in Osteuropa angekündigt. Zahllose Experten wie Colonel Alexander Vindman von MSNBC, der an Spitzengesprächen zwischen der USA und der Ukraine beteiligt war, bezeichneten einen Nato-Krieg zur Verteidigung der Ukraine angesichts der russischen Aggression als nahezu unvermeidlich.

Vindman erklärte, die Nato sei „praktisch zu einem Kurs gezwungen“ und betonte, Amerika müsse zu einem Krieg gegen Russland bereit sein: „Warum ist das für die amerikanische Öffentlichkeit wichtig? Es ist wichtig, weil wir kurz vor dem größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg stehen. Es wird zu einer massiven Stationierung von Luftstreitkräften, Langstreckenartillerie, Marschflugkörpern und anderen Dingen kommen, wie wir sie seit mehr als 80 Jahren auf dem europäischen Kontinent nicht mehr erlebt haben. Es wird kein sauberes oder steriles Umfeld sein.“

Jetzt macht das US-gestützte ukrainische Regime selbst deutlich, dass die Kriegsdrohungen der Nato keine Reaktion auf russische Vorbereitungen für einen Einmarsch in der Ukraine oder ein Hilfsgesuch der Ukraine sind. Vielmehr sind sie eine Provokation der Biden-Regierung, die von den europäischen imperialistischen Mächten unterstützt wurde. Der Aggressor ist nicht Russland, sondern die Nato.

Neben ihren geopolitischen Zielen in Eurasien reagieren die Nato-Mächte auch auf die tiefe Krise, ausgelöst durch die Pandemie, die in ihren Ländern mehr als zwei Millionen Covid-19-Tote gekostet hat. Angesichts einer massiven neuen Welle – verursacht durch die Omikron-Variante – sind die Nato-Mächte dabei, die letzten öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen zur Eindämmung des Virus abzuschaffen. Da diese Politik in Nordamerika und Europa zunehmend auf Widerstand stößt, versuchen die Nato-Mächte, die Klassenspannungen nach außen zu lenken, in eine völlig rücksichtslose Kampagne für einen Krieg gegen Russland.

Durch die Entlarvung der Lügen der Nato wird es noch dringlicher, die internationale Arbeiterklasse gegen die Gefahr eines Atomkriegs zu mobilisieren.

Washington, das in Kiew 2014 einen rechtsextremen Putsch gegen die pro-russische Regierung unterstützt und das jetzige Regime an die Macht gebracht hat, wird seine Pläne gegen Russland nicht wegen Selenskyj aufgeben. Falls der Widerstand in der ukrainischen Bevölkerung und international gegen den Krieg zu einem Hindernis wird, so wird Washington seine rechtsextremen Kriegspläne und Putsche nur noch weiter intensivieren.

Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen dafür, dass der Kreml aus Angst vor einer militärischen Einkesselung und finanzieller Strangulierung durch die Nato eine Militäraktion erwägt. Er erhält außerdem ungewöhnlich offene Unterstützung von China, das befürchtet, dass Washington ähnlichen Druck auf China wegen Taiwan und anderen Krisenherden ausüben könnte.

Die Global Times, die für ihre engen Beziehungen zum chinesischen Militär bekannt ist, sprach in einer Kolumne ihres ehemaligen Herausgebers Hu Xijin eine offene Warnung an Washington aus.

„Die USA zwängen China und Russland gleichzeitig strategisch ein... Sie drängen China und Russland dazu, zusammen zurückzuschlagen... Aber wenn es um Widerstand gegen das brutale Vorgehen der USA geht, ist Russland nicht alleine. Ein Großteil der chinesischen Bevölkerung wird Russland unterstützen und sie wird wollen, dass Russland durch die chinesische Regierung in dieser Hinsicht unterstützt wird. Wir wissen, dass es für China nichts Gutes bedeutet, wenn Russland von den USA vernichtet wird.“

Der Kreml denkt außerdem über eine Reaktion auf das Ultimatum von US-Außenminister Antony Blinken von letzter Woche nach, laut dem Russland Nachbarstaaten wie der Ukraine, Georgien und Moldawien erlauben soll, der Nato beizutreten und Nato-Militärbasen zu unterhalten.

Der russische Außenminister Sergei Lawrow erklärte am Freitag eindeutig, Moskau erwäge eine militärische Reaktion: „Wenn es nach Russland geht, wird es keinen Krieg geben. Wir wollen keinen Krieg. Aber wir werden auch nicht zulassen, dass unsere Interessen grob verletzt oder ignoriert werden.“

Zu den Diskussionen der Nato über mögliche Sanktionen und der Unterbrechung der russischen Gasexporte erklärte Lawrow: „Was die Drohung mit Sanktionen angeht, so haben wir den Amerikanern – auch auf der Ebene des Präsidenten – erklärt, ... wenn es mit einer vollständigen Blockade der vom Westen kontrollierten Finanz- und Wirtschaftssysteme einhergeht, dass dies einem Abbruch der Beziehungen [zu Russland] gleichkommt.“ Er erklärte, der Kreml würde in diesem Fall zu Vergeltungsmaßnahmen greifen: „Diese Maßnahmen können sehr unterschiedlich sein. Ich werde meine Entscheidungen auf der Basis der Vorschläge fällen, die unsere Militärführung vorlegen wird.“

Russland organisiert bereits eine höchst ungewöhnliche totale Mobilmachung seiner Marine. Etwa 140 Schiffe aller vier russischen Flotten – der Nordflotte, der Ostseeflotte, der Schwarzmeerflotte und der Pazifikflotte – werden sich an Übungen in der Arktis, im Mittelmeer, im Atlantik, im Pazifik und dem Ochotskischen Meer beteiligen.

Ina Holst-Pedersen Kvam von der königlichen norwegischen Marineakademie erklärte, dass diese Übungen vermutlich der Absicherung von Meeresteilen dienen, in denen sich russische Raketen-U-Boote verstecken können: „Es ist eine Tatsache, dass diese U-Boote in einem potenziellen Konflikt von so genannten Bastionen unter dem Eis des Arktischen Ozeans operieren werden. Nuklear betriebene Angriffs-U-Boote und andere Kräfte agieren dabei als „Torwächter“, um die operative Freiheit dieser U-Boote zu gewährleisten.“

Der Zweck davon wäre, der Nato mit Russlands Fähigkeit zu drohen, einen verheerenden strategischen Schlag zu führen, d.h. mit der Auslöschung der USA und ihrer Nato-Verbündeten in einem Hagel von Atomraketen.

Dass solche Operationen zweifellos von der Nato und Russland sowie deren Verbündeten in Erwägung gezogen werden, verdeutlicht die tödliche Krise des Weltkapitalismus und des Nationalstaatensystems. Es ist eine dringliche Aufgabe, die internationale Arbeiterklasse vor der wachsenden Kriegsgefahr zu warnen und sie in einer internationalen Bewegung gegen die Corona-Pandemie und die Gefahr eines neuen Weltkriegs zu mobilisieren.

Loading