Die 72. Berlinale begann am vergangenen Donnerstag mit der Erklärung von Co-Festivaldirektor Carlo Chatrian, es sei ein willkommener „Schritt in Richtung Realität“, in diesem Jahr ein Filmfestival in Präsenz abzuhalten. Tatsächlich bestand die Realität am 10. Februar vor allem darin, dass nach Angaben des Robert-Koch-Instituts eine Rekordzahl von 247.862 neuen Corona-Infektionen in Deutschland gemeldet wurde – ein Anstieg um 11.742 im Vergleich zum vergangenen Donnerstag. Darüber hinaus wurden 238 Todesfälle im Zusammenhang mit Sars-CoV-2-Infektionen registriert. Seit einiger Zeit warnen führende Mediziner, dass diese Zahlen wahrscheinlich zu niedrig angesetzt sind, da die Labore im ganzen Land nicht mit der Zahl der täglich eingehenden Coronatests Schritt halten können.
Indem die Festivalleitung darauf besteht, die diesjährige Berlinale als Präsenzveranstaltung durchzuführen, riskiert sie im Herzen der Hauptstadt eine massenhafte Übertragung – zu einer Zeit, in der die Infektionszahlen Rekordwerte erreichen und führende Epidemiologen vor einer verfrühten Aufhebung der Pandemiebeschränkungen warnen.
In ihrer eigenen Rede vor einem stark reduzierten Pressepublikum – die Zahl der anwesenden Pressevertreter hat sich im Vergleich zu den Vorjahren halbiert – zeigte sich Co-Direktorin Mariette Rissenbeek vorsichtiger und hob die Vorsichtsmaßnahmen hervor, die die Leitung der Berlinale getroffen hat. Gleichzeitig machte sie deutlich, dass der Anstoß, das Festival ausschließlich in Präsenz durchzuführen, in erster Linie bei der Regierung und ihrer Kulturstaatsministerin Claudia Roth lag. Rissenbeek schloss ihre Ausführungen mit einem „Dank an Claudia Roth“.
Die langjährige Spitzenpolitikerin der Grünen, die sich erst kürzlich wegen einer Corona-Infektion in Isolation befand, beklagte in ihrem Eröffnungsbeitrag die gesundheitspolitischen Einschränkungen des Festivals und erklärte anschließend die Tatsache, dass es als Präsenzveranstaltung stattfinde, zu einem wichtigen Signal für die deutsche Kultur. Sie beendete ihren Beitrag mit einem Slogan, der auch auf einer Corona-Demonstration Platz finden könnte: „Wir lassen uns von Corona nicht unterkriegen“. Auffallend beim 72. Festival war das Fehlen von Filmen, die sich mit der seit über zwei Jahren wütenden Corona-Pandemie auseinandersetzen.
Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush
Ein großes Ereignis der diesjährigen Berlinale war die Vorführung des Films „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“, der einen ernsthaften Versuch darstellt, sich mit der zeitgenössischen Realität auseinanderzusetzen. Ein Höhepunkt der letztjährigen Berlinale war die Deutschlandpremiere des Guantanamo-Films „Der Mauretanier“. Das diesjährige Festival griff das Thema mit einem herausragenden Beitrag des Regisseurs Andreas Dresen auf, dessen Werk der letzten zwei Jahrzehnte zu den bemerkenswertesten unter Filmemachern in Deutschland zählt.
Dresen begann seine Filmkarriere in der DDR als Student für Spielfilme an der DEFA unter seinem Dozenten Günter Reisch. In seinen Filmen seit dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands hat Dresen mit führenden Drehbuchautoren wie Wolfgang Kohlhaase und Laila Stieler zusammengearbeitet, um drängende soziale Fragen und Probleme sowohl in der ehemaligen DDR als auch in der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland zu behandeln. Laila Stieler, die mit Dresen in der ehemaligen DDR studiert hat, schrieb das Drehbuch zu Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush.
Der Film hat die Form eines Tagebuchs und beginnt mit den Vorbereitungen des 19-jährigen Murat Kurnaz auf seine Reise nach Pakistan im Dezember 2001. Kurnaz hat eine Verlobte in der Türkei und will vor der Hochzeit eine Koranschule in Pakistan besuchen, um seine religiösen Überzeugungen zu stärken. Im Rahmen ihrer Kriegsvorbereitungen gegen Afghanistan hatten die USA Kopfgelder für die Auslieferung von Terrorverdächtigen in Pakistan ausgesetzt. Murat Kurnaz wurde daraufhin in Pakistan verhaftet und von der Polizei gegen die Zahlung von 3.000 Dollar an die US-Streitkräfte in Afghanistan ausgeliefert.
Bereits im Januar 2002 wurde die deutsche Regierung – eine Koalition aus SPD und Grünen – darüber informiert, dass sich Murat Kurnaz im Gewahrsam der US-Streitkräfte befand, die den jungen Mann einige Wochen später nach Camp X-ray in Guantanamo schickten. In dem berüchtigten Lager wurde er fünf Jahre lang gefangen gehalten und gefoltert. Tag eins im Filmtagebuch weicht Tag zwei, dann Tag 120, 248, 572, 782, usw. usw. – Meilensteine in einem scheinbar endlosen Kampf von Murats Mutter Rabiye, einer Hausfrau aus der Arbeiterklasse, um die Befreiung ihres Sohnes.
Sie wendet sich an den Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke, der schockiert ist, als er erfährt, dass ein Einwohner Deutschlands in einem US-Gefangenenlager sitzt, und das Mandat übernimmt. Wir sehen den Film aus der Sicht von Murats Mutter und ihrem Anwalt, zwei einfachen Bürgern, die sich dem Goliath der Vereinigten Staaten, Deutschland und Türkei gegenübersehen (auch der türkische Staat verweigerte Murat jede Hilfe, obwohl er die türkische Staatsbürgerschaft besaß). Im Laufe des Films erfahren wir, dass bereits im Herbst 2002 drei Beamte der deutschen Inlands- und Auslandsgeheimdienste Murat Kurnaz in Guantanamo verhörten und seine Unschuld an jeglicher Form von Terrorismus bestätigten.
Die USA waren bereit, Kurnaz freizulassen, doch seine Rückkehr nach Deutschland wurde vom Bundeskanzleramt und den deutschen Sicherheitsbehörden abgelehnt. Stattdessen leiteten Anwälte der Regierung ein Verfahren ein, um Kurnaz das Aufenthaltsrecht zu entziehen und so seine Rückkehr nach Deutschland zu verhindern. Sie argumentierten, dass Kurnaz sich seit mehr als sechs Monaten außerhalb Deutschlands aufhielt – aufgrund seiner illegalen Inhaftierung in Guantanamo! – und es versäumt habe, eine Verlängerung seines Aufenthaltsrechts zu beantragen – eine unmögliche Aufgabe angesichts der Bedingungen im Gefangenenlager.
Als Bernard Docke dies erfährt, sagt er im Film zu Staatsanwalt Marc Stocker: „Sie meinen, meine eigene rot-grüne Regierung, die ich gewählt habe, hat ihm absichtlich die Rückkehr verwehrt.“ Daraufhin stößt er ein Schimpfwort aus.
Es ist notwendig, Namen zu nennen. Der deutsche Außenminister, der sich weigerte, zu Murats Gunsten zu intervenieren, war der grüne Parteichef Joschka Fischer. Seine Parteikollegin und jetzige Kulturstaatsministerin Claudia Roth war während der langen Zeit, in der Murat Kurnaz im Gefängnis saß, die Menschenrechtsbeauftragte der rot-grünen Regierung. An der Spitze des Innenministeriums der gleichen Regierung stand Otto Schily (SPD). Es war Schilys Ressort, das für die Koordinierung der Aktivitäten der deutschen Geheimdienste zuständig war und damit sicherstellte, dass Murat Kurnaz nicht nach Deutschland zurückkehren konnte, und es war Schily, der im selben Zeitraum Hans Georg Maaßen zum Referatsleiter in seinem Ministerium beförderte. Maaßen übernahm später die Leitung des deutschen Inlandsgeheimdienstes, bis seine aktive Unterstützung rechtsextremer Gruppen seine weitere Beschäftigung als Regierungsbeamter nicht mehr haltbar machte. Der Fall Murat Kurnaz landete schließlich im Bundeskanzleramt unter der Leitung von Frank Walter Steinmeier, dem heutigen Bundespräsidenten.
Andreas Dresen nutzte die Pressekonferenz im Anschluss an seinen Film, um Steinmeier offen für seine unterlassene Unterstützung von Murat Kurnaz zu kritisieren – nur einen Tag, bevor Steinmeier als Bundespräsident wiedergewählt werden sollte.
Was ein trockener Bericht über die Qualen von Murat Kurnaz und seiner Familie hätte sein können, wird durch die großartige Leistung der Schauspieler Meltem Kaptan und Alexander Scheer, die Rabiye Kurnaz bzw. Bernhard Docke spielen, zu einem durch und durch bewegenden und einnehmenden Erlebnis. Murats wirkliche Mutter hätte sich keine bessere Schauspielerin wünschen können, um ihren intensiven und leidenschaftlichen Kampf um die Befreiung ihres Sohnes darzustellen. Sowohl Scheer als auch Kaptan sind in der Lage, dem erbitterten Kampf ihrer Figuren um Gerechtigkeit Momente von echter Wärme und Humor zu verleihen. Rabiye kommt stets zu spät zu Terminen mit ihrem Anwalt und fährt dann in ihrem Auto einen verängstigten Docke mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zum nächsten Termin.
Am Ende des Films werden Rabiye und ihre Familie in einer sehr emotionalen Szene wieder mit Murat vereint. Gemeinsam fahren sie in der Nacht vom Flughafen nach Hause. Murat fragt, ob das Auto anhalten kann. Er möchte in den Nachthimmel schauen, den er nach fünf Jahren Dauerneonlicht in seiner Gefängniszelle nicht mehr gesehen hat. Bevor er aus dem Auto steigt, fragt er seine Mutter, ob es in Ordnung ist, wenn er allein ist. Rabiye, die nicht aufhören kann, eine Mutter zu sein, antwortet: „Ich verstehe dich voll und ganz. Ich komme mit dir.“
Dresens Film endet mit der Feststellung, dass Murat und seine Familie nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis und seiner Rückkehr nach Deutschland keine Entschädigung und kein Wort der Entschuldigung für seine Behandlung von den amerikanischen, türkischen oder britischen Behörden erhalten haben. Im Abspann des Films wird auch darauf hingewiesen, dass 20 Jahre später immer noch 39 Gefangene in Guantanamo festgehalten werden.
Trotz der vom Berlinale-Festival auferlegten Restriktionen konnten Reporter der WSWS Zugang zu einer Reihe von weiteren Filmen erhalten, die wir zu besprechen beabsichtigen.
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