UN-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer über sein Buch: „Der Fall Julian Assange“

Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Professor Nils Melzer, gab der Foreign Press Association (FPA) letzten Freitag ein Online-Interview zu seinem Buch „Der Fall Julian Assange: Geschichte einer Verfolgung“.

Melzer lieferte in seinen Antworten eine vernichtende Anklage, nicht nur gegen die Art und Weise, wie Assange behandelt wird, sondern auch gegen die heutige kapitalistische Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, eine demokratische Herrschaft, gestützt auf Gewaltenteilung, zu führen. Melzer berichtete, er sei bei seinem Eintreten für einen humanen und legalen Umgang mit dem WikiLeaks-Gründer auf eine „Mauer des Schweigens“ gestoßen. Assange sei offensichtlich „der Unberührbare, an dessen Fall man nicht rührt“.

Der Sonderberichterstatter setzt sich seit 2019 mit Nachdruck für Assange ein. In seiner Einleitung zu dem Interview durch FPA erinnerte Melzer daran, dass er anfangs gezögert habe, sich für die Verteidigung des WikiLeaks-Gründers einzusetzen. „Jahrelang gab es über ihn skandalöse Schlagzeilen und voreingenommene Medienberichte“, schreibt Melzer in seinem Buch, weshalb auch er im Dezember 2018 ein erstes Hilfegesuch von Assanges Anwälten erst einmal ablehnt habe.

Im März 2019 habe er den Fall jedoch erneut untersucht, sagte Melzer. Er habe die Ergebnisse der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung geprüft und sich ein Bild über die Vorgeschichte der inzwischen völlig widerlegten schwedischen Beschuldigungen wegen sexueller Übergriffe gemacht. Auch hatte die Ärztin Sondra Crosby da schon medizinische Gutachten vorgelegt, die auf Verstöße gegen das Folterverbot hinwiesen. Im Licht all dieser Ergebnisse habe er beschlossen, seine eigenen Untersuchungen durchzuführen.

Was Melzer herausfand, „das hat mich wirklich schockiert“, wie er im Gespräch mit der FPA erklärte. Er kam zu dem Schluss, dass Assange „unmenschlich behandelt wurde“, und er stellte „massive Verstöße gegen ein ordnungsgemäßes Verfahren“ sowie eine „bewusste Verzerrung der Fakten“ durch den britischen und schwedischen Staat und die Medien fest. „Je tiefer ich in den Fall eindrang, desto mehr Schmutz kam zum Vorschein. Allerdings nicht auf Assanges Seite, sondern auf der Seite der Regierungen.“

Als er diese Schlussfolgerung gezogen hatte, konfrontierte Melzer die verantwortlichen Regierungen mit seinen Ergebnissen. Aber: „Alle vier beteiligten Staaten [die USA, Großbritannien, Schweden und Ecuador] weigerten sich, einen konstruktiven Dialog zu führen.“

Melzer stellte fest, dass diese Staaten zusammenarbeiteten, um „an Julian Assange ein Exempel zu statuieren und andere Journalisten abzuschrecken“.

Das Verfassen eines Buchs gehöre eigentlich nicht zum Aufgabenbereich eines Sonderberichterstatters, so Melzer. Er betrachte sein Buch jedoch als Reaktion darauf, dass es ihm nicht gelungen sei, das Unrecht, das Assange angetan werde, „über die mir zur Verfügung stehenden diplomatischen Kanäle oder durch die Benachrichtigung der UN-Generalversammlung oder des Genfer Menschenrechtsrats“ wiedergutzumachen.

Die Weigerung der britischen Regierung, auch nur auf seine Besorgnis einzugehen, bezeichnete Melzer am Freitag als „zutiefst schockierend“. Westminster habe lediglich mit einem einzigen, abweisenden Schreiben reagiert und ihm auf Ministerebene kein einziges Treffen gewährt.

Melzer erklärte, wenn er in einen Fall interveniere, treffe er sich normalerweise mit dem Außen- oder dem Justizminister. Aber das Vereinigte Königreich habe ein solches Treffen „nach unten delegiert, auf die Verwaltungsebene, wo keine Entscheidungen getroffen werden (…) Wenn man mir solche Gesprächspartner zuweist, dann ist das die klare Botschaft: ‚Sie werden hier nichts ändern‘.“

Er räumte ein, dass natürlich die USA Druck auf die britische Regierung ausübten, fügte jedoch hinzu: „Es geht nicht nur um die USA (…) Auch kein anderes Land ist daran interessiert, dass seine schmutzigen Geheimnisse veröffentlicht werden. Ich glaube also nicht, dass der Druck der USA auf diese Staaten der einzige Faktor ist, der zählt. Ich glaube, dass diese Staaten ganz freiwillig mit den USA zusammenarbeiten, weil sie sich alle einig sind, dass sie diese Art von Transparenz nicht wollen.“

Die UNO und Menschenrechtsexperten würden „sehr oft instrumentalisiert“, stellte Melzer fest. Er verwies auf die unterschiedliche Behandlung, die Julian Assange im Vergleich mit dem russischen Dissidenten Alexei Nawalny zuteilwird. „Da sieht man die Heuchelei der offiziellen Politik.“

Melzer bezeichnete die UNO als „das Beste, was wir haben“, räumte jedoch ein: „Sie ist keine rechtsstaatliche Organisation. Rechtsstaatlichkeit spielt so lange eine Rolle, wie es der Machtpolitik nützt. Sobald die Machtpolitik in eine andere Richtung treibt, wird die Rechtsstaatlichkeit neutralisiert. Das ist die Realität, in der wir heute leben. Ich denke jedoch, angesichts der Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, ist es eine Realität, der wir schnell entwachsen müssen, wenn wir als menschliche Spezies überleben wollen.“

Melzer berichtete, er habe versucht, den Fall Assange innerhalb der UN-Strukturen zur Sprache zu bringen. Er sagte: „Ich habe den Menschenrechtsrat in meiner jährlichen Sitzung informiert (…)

Ich habe sogar die Generalversammlung in New York informiert. Aber es gab keine Reaktion. Ich habe sogar versucht, mich mit der Hochkommissarin für Menschenrechte [Michelle Bachelet] zu treffen. Bei mehreren Gelegenheiten habe ich schriftlich um ein Treffen gebeten, und sie hat es auf eine Ebene delegiert, auf der es wiederum nicht hilfreich ist.'

Die Reaktion in den Medien sei ebenso „larmierend“ gewesen, so Melzer. „Das Schweigen ist ohrenbetäubend.“ Unter Berufung auf die BBC erzählte er, wie der Sender ein Fernsehinterview mit ihm veröffentlichte, als er erstmals eine Erklärung zum Fall Assange abgab. „In der nächsten Stunde war es weg, offline genommen, so dass keine Spur davon mehr existiert.“

Melzer wandte sich an die BBC und argumentierte: „Was ich behaupte, ist so ungeheuerlich, dass ich entweder falsch liege und dann zurücktreten muss, oder ich habe Recht, und dann muss jemand anderes zurücktreten. Es ist unmöglich, dass ein Akteur wie die BBC in dieser Sache gleichgültig sein kann (...) Aber sie haben mir geantwortet, dass ‚das im Moment nicht berichtenswert‘ sei.“

Melzer kritisierte die Berichterstattung über die Auslieferungsanhörungen von Assange: „Ja, man berichtet über die gerichtlichen Anhörungen, aber es wird nur gesagt: ‚Der Richter hat dies gesagt; Julian Assange hat das gesagt.‘ Worum es wirklich geht, was hier passiert, wird nicht klargestellt: Die britischen Gerichte verletzen systematisch die Rechte dieser Person.“

Für Assanges Inhaftierung im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh gebe es „keine rechtliche Grundlage“, fuhr Melzer fort. 'Das zerstört nicht nur seine Gesundheit, sondern hindert ihn auch daran, seinen Fall und seine Verteidigung angemessen vorzubereiten.“

Er verglich die Behandlung des WikiLeak-Gründers mit der des chilenischen Diktators, Folterers und Massenmörders Augusto Pinochet, als dieser sich in Großbritannien aufgehalten hatte. Pinochet „stand unter Hausarrest und konnte so viele Besucher empfangen, wie er wollte, und hatte Zugang zur Öffentlichkeit.“

Auf die Frage, wie er Assanges Chancen einschätze, sich der Auslieferung zu widersetzen, sagte Melzer: „Wenn ich mir die Erfolgsbilanz der britischen Justiz in diesem Fall ansehe, bin ich leider nicht optimistisch.“ Dabei gebe es „juristisch gesehen keine Möglichkeit, diese Auslieferung jemals rechtmäßig durchzuführen“. Der britische Richter habe zentrale Elemente des internationalen Rechts auf „wirklich groteske Weise“ verzerrt.

Melzer äußerte die Hoffnung, dass der Europäische Gerichtshof „den Anstand haben wird, die Gesetze so anzuwenden, wie es sein sollte“, vorausgesetzt, Assange sei in der Lage, bis zu einem solchen Urteil mental durchzuhalten. Er fügte jedoch hinzu: „Die Frage stellt sich, ob das Vereinigte Königreich ein solches Urteil respektieren würde.“

Melzer wies auf die Bedeutung, die ein derartiger Rachefeldzug gegen Assange hat. Er erklärte, es gehe „nicht allein um Julian Assange als Person. Sehen Sie sich an, was er [durch WikiLeaks] enthüllt hat. Das sind besonders schwere Verbrechen, Kriegsverbrechen, und sie werden nicht strafrechtlich verfolgt. Aber diejenigen, die sie aufdecken, die Whistleblower, werden strafrechtlich verfolgt und sind Misshandlungen, willkürlicher Inhaftierung und psychologischer Folter ausgesetzt.“

Der Fall bedrohe „nicht nur Julian Assanges Menschenrechte, sondern auch die Menschenrechte von uns allen (...) Wenn es den USA gelingt, diesen Mann strafrechtlich zu verfolgen und ihn für den Rest seines Lebens in einem Hochsicherheitsgefängnis wegzusperren, wird dies eine gewaltige, abschreckende Wirkung auf die freie Presse haben.“

Sein Buch, so schloss er, sei geschrieben worden, um „die Fakten des Falls offenzulegen“, damit die Menschen „ihre Stimme erheben können“. Er bezeichnet es in seiner Schlussfolgerung als „Realitätsverweigerung“, dass der Rachefeldzug gegen Assange und seine Arbeit als Journalist systematisch totgeschwiegen wird. „Es ist, als würde man den Feueralarm im Haus unserer Zivilisation ignorieren. Den Preis, den wir dafür zu zahlen haben, können wir, unsere ganze Spezies, uns nicht mehr leisten.“

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