Der Krieg, der am 24. Februar 2022 ausbrach, ist ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung. Wie bei allen großen Konflikten ist die Frage, wer den ersten Schuss abgegeben hat, von völlig untergeordneter Bedeutung. Der rücksichtslose, stümperhafte und verzweifelte Charakter der russischen Invasion in der Ukraine entlarvt den politisch bankrotten und reaktionären Charakter des Putin-Regimes, erklärt aber nicht die tieferen Ursachen des Kriegs.
Der Ausbruch des Kriegs in der Ukraine war seit langem absehbar. Die unerbittliche Expansion der Nato nach der Auflösung der Sowjetunion war stets auf einen Krieg mit Russland ausgerichtet. Im Februar 2014 wurde die ukrainische Regierung unter Wiktor Janukowitsch durch einen Putsch gestürzt, der von den USA und den imperialistischen Mächten Europas organisiert und finanziert wurde. Der Putsch war ein unverhohlener Versuch, die Ukraine in den Einflussbereich der Nato zu ziehen und das Land zu einer Abschussrampe für einen künftigen Krieg gegen Russland zu machen. Wie das Internationale Komitee der Vierten Internationale bei seiner Maikundgebung im Jahr 2014 erklärte:
Dieser Putsch diente dazu, eine Regierung an die Macht zu bringen, die unmittelbar vom amerikanischen und deutschen Imperialismus gesteuert werden kann. Die Verschwörer in Washington und Berlin wussten genau, dass dieses Vorgehen zu einer Konfrontation mit Russland führen würde. Weit davon entfernt, eine Konfrontation nach Möglichkeit zu vermeiden, erachten sowohl Deutschland als auch die USA einen Zusammenstoß mit Russland als notwendig, um ihren weitreichenden geopolitischen Interessen Geltung zu verschaffen.
Dieser von den USA und der Nato angezettelte Krieg hat nun begonnen. Die überwältigende Mehrheit der Menschen, die jetzt ihr Obdach verloren haben, verwundet oder sogar getötet wurden, trägt keine Verantwortung für die Politik und die Entscheidungen, die zum Krieg geführt haben. Doch das Leid der unschuldigen Opfer wird zynisch ausgenutzt, um die politischen und wirtschaftlichen Interessen in dem Krieg zu verschleiern und den Hass gegen Russland zu schüren, der für die Eskalation des Konflikts erforderlich ist.
Die Propagandaorgane des amerikanischen und europäischen Imperialismus verbreiten folgende Erzählung: Der russische Einmarsch in der Ukraine hat das Gewissen der Welt erschüttert. Bis zum völlig unprovozierten Angriff des Kremls auf den schuldlosen Nachbarn habe die Welt in seligem Frieden gelebt.
Welch kolossale und heuchlerische Lüge! Seit 30 Jahren führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg und zetteln überall auf der Welt Konflikte an. Die USA haben – oft mit direkter Unterstützung ihrer Nato-Handlanger – Länder in Zentralasien, im Nahen Osten, in Afrika, auf dem Balkan und in der Karibik bombardiert und/oder überfallen.
Selbst wenn man alle Behauptungen der Biden-Administration und der korrupten amerikanischen Medien, die täglich die Argumente wiederkäuen, die sie von der CIA erhalten, für wahr hielte, so liegt die Zahl der zivilen und militärischen Todesopfer in der Ukraine dennoch um ein Vielfaches unter der Zahl der Toten, die auf das Konto der von den USA geführten Kriege gehen. In dem Buch The United States of War von David Vine, Professor für Anthropologie an der American University, ist dazu zu lesen:
Allein in Afghanistan, Irak, Syrien, Pakistan und dem Jemen sind schätzungsweise 755.000 bis 786.000 Zivilisten und Kämpfer auf allen Seiten gestorben, seit die US-Streitkräfte in diesen Ländern zu kämpfen begannen. Diese Zahl ist etwa fünfzigmal so hoch wie die Zahl der Toten aufseiten der USA.
Doch das ist nur die Zahl der Kombattanten und Zivilisten, die im Kampf gefallen sind. Viele weitere sind an den Folgen von Krankheiten, Hunger und Unterernährung gestorben, die durch die Kriege und die Zerstörung des Gesundheitswesens, von Arbeitsplätzen, sanitären Einrichtungen und anderen Teilen der lokalen Infrastruktur verursacht wurden. Auch wenn diese Todesfälle von den Forschern noch berechnet und diskutiert werden, könnte die Gesamtzahl mindestens 3 Millionen betragen und damit etwa das 200-fache der Zahl der Toten auf Seiten der USA. 4 Millionen Tote könnte den tatsächlichen Dimensionen näher kommen, wobei dies noch immer eine konservative Schätzung ist.
Gleichzeitig sind ganze Stadtteile, Städte und Gesellschaften durch die von den USA geführten Kriege zerstört worden. Die Gesamtzahl der Verletzten und Traumatisierten geht in die zweistellige Millionenhöhe. In Afghanistan haben Umfragen ergeben, dass zwei Drittel der Bevölkerung unter psychischen Problemen leidet – rund die Hälfte unter Angstzuständen und jeder Fünfte unter PTBS [Posttraumatische Belastungsstörung]. 2007 waren im Irak 28 Prozent der jungen Menschen unterernährt, die Hälfte der Einwohner Bagdads hatte ein schwerwiegendes traumatisches Ereignis erlebt und bei fast einem Drittel wurde eine PTBS diagnostiziert. Bis 2019 wurden wahrscheinlich mehr als 10 Millionen Menschen allein aus Afghanistan, dem Irak, dem Jemen und Libyen vertrieben und zu Flüchtlingen im Ausland oder zu Binnenvertriebenen in ihren Ländern.
Neben diesen Folgen für die Menschen sind auch die finanziellen Kosten der US-geführten Kriege nach 2001 so hoch, dass sie kaum vorstellbar sind. Bis Ende 2020 haben die US-Steuerzahler bereits mindestens 6,4 Billionen Dollar für die Kriege nach 2001 bezahlt. Zu den Kosten gehören auch zukünftige Leistungen für Veteranen und Zinszahlungen für das zur Finanzierung der Kriege geliehene Geld. Die tatsächlichen Kosten werden sich wahrscheinlich auf Hunderte von Milliarden oder Billionen mehr belaufen, je nachdem, wann diese schier endlosen Kriege tatsächlich enden. [Aus dem Englischen, S. xvii-xix.]
Tatsächlich ist kein Ende in Sicht. Bidens Ankündigung vom April 2021, den „ewigen Krieg“ in Afghanistan zu beenden, war ein zynisches Tarnmanöver für die strategische Umgruppierung der amerikanischen Streitkräfte für den direkten Konflikt mit Russland und China.
Alle Kriege der letzten drei Jahrzehnte wurden mit unverschämten Lügen gerechtfertigt, von denen die Behauptung, der Irak verfüge über „Massenvernichtungswaffen“, lediglich die bekannteste ist. Zudem verstoßen die Kriege direkt gegen das Völkerrecht.
Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess von 1946 wurden die Naziführer wegen „Verbrechen gegen den Frieden“ angeklagt und verurteilt. Diese Verbrechen bestanden darin, Krieg als Instrument der Staatspolitik und nicht als Reaktion auf einen unmittelbaren oder unmittelbar drohenden militärischen Angriff geführt zu haben. Die Kriege des amerikanischen Imperialismus fallen in die juristische Kategorie der Verbrechen gegen den Frieden, d. h. von Kriegen, die zur Erreichung politischer Ziele begonnen und geführt werden.
Der historische und weltpolitische Kontext des globalen Amoklaufs des amerikanischen Imperialismus ist für das Verständnis des gegenwärtigen Kriegs von entscheidender Bedeutung.
Mit der Auflösung der stalinistischen Regime in Osteuropa und schließlich der Sowjetunion zwischen 1989 und 1991 wurden selbst jene geringen Hürden beseitigt, die der amerikanischen Militärmacht nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt worden waren. Wie US-Präsident George H. W. Bush verkündete, als er 1991 den ersten Krieg gegen den Irak begann, waren die Vereinigten Staaten entschlossen, eine „neue Weltordnung“ zu schaffen. Dies geschah mit Unterstützung von Michail Gorbatschow, während die Sowjetunion in die letzte Phase ihrer Auflösung und der kapitalistischen Restauration eintrat.
Der Orientierung auf eine „neue Weltordnung“ lagen mächtige objektive wirtschaftliche und geostrategische Notwendigkeiten zugrunde. Entgegen der Darstellungen nach 1991, die Vereinigten Staaten seien als unvermeidlicher und triumphierender Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen, waren die Jahrzehnte vor der Auflösung der UdSSR eine Zeit des beschleunigten amerikanischen Niedergangs.
Die globale wirtschaftliche Vormachtstellung, die die Vereinigten Staaten 1945 noch innehatten, hatte sich in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren erheblich verschlechtert. Die dominierende Rolle der USA in der Weltwirtschaft basierte auf der Goldbindung des Dollars, die auf der Konferenz von Bretton Woods im Jahr 1944 mit dem Umtauschkurs von 35 US-Dollar pro Unze Gold festgelegt wurde. Doch mit der Verschlechterung der amerikanischen Handelsbilanz wurde das Bretton-Woods-Abkommen unhaltbar und im August 1971 von den Vereinigten Staaten einseitig aufgekündigt.
Zum Niedergang der Position der USA in der Weltwirtschaft kamen militante Ausbrüche des Klassenkampfs im Inland hinzu, besonders die Massenbewegung der schwarzen Arbeiterklasse für Bürgerrechte. Gleichzeitig führte der blutige Versuch des amerikanischen Imperialismus, die antikoloniale Bewegung der Massen in der ganzen Welt zu unterdrücken – am brutalsten geschah dies in Vietnam –, zur Radikalisierung breiter Teile der Studenten und Jugend und zum Entstehen einer gewaltigen Antikriegsbewegung.
In den Vereinigten Staaten waren die Jahre zwischen 1960 und 1990 durch politische Instabilität und soziale Polarisierung gekennzeichnet. Unruhe in den Städten, Massenproteste, politische Morde und gewaltsame und anhaltende Streiks prägten die amerikanische Realität zwischen 1960 und 1990.
Parallel zur Krise des amerikanischen Imperialismus entwickelte sich auch die Krise des stalinistischen Regimes in der UdSSR. Es steht außer Frage, dass die Sowjetunion nach ihrem unter gewaltigen menschlichen Opfern errungenem Sieg über Nazi-Deutschland erhebliche Fortschritte gemacht hat. Das grundlegende und unausweichliche Paradoxon der Sowjetunion bestand jedoch darin, dass das Wachstum und die zunehmende Komplexität ihrer Wirtschaft die Krise des gesamten stalinistischen Systems verschärfte, das auf dem nationalistischen Programm des „Sozialismus in einem Land“ beruhte.
Trotz der beeindruckenden Wachstumsraten, die die Sowjetunion in den beiden Nachkriegsjahrzehnten erzielte, stand die Vorstellung von einem nationalen Weg zum Sozialismus im Widerspruch zur objektiven Realität des Weltmarkts und der internationalen Arbeitsteilung. Die Unausgewogenheit und das niedrige Produktivitätsniveau, unter denen die sowjetische Wirtschaft litt, veranschaulichten in extremster Form den Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem nationalstaatlichen System, von dem letztlich alle Länder betroffen waren.
Die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft erforderte den Zugang zu den Ressourcen der Weltwirtschaft. Dieser Zugang konnte jedoch nur auf zwei Arten erreicht werden: 1) durch die Aufgabe des Planungsprinzips, die Wiedereinführung des Kapitalismus und die Auflösung der UdSSR sowie die Integration ihrer Bestandteile in das kapitalistische Weltsystem oder 2) durch die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse, vor allem in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, und auf dieser Grundlage die Überwindung der nationalen Grenzen sowie die Entwicklung einer wissenschaftlich geleiteten demokratischen Wirtschaftsplanung im Weltmaßstab.
Letztere Alternative war im Rahmen des stalinistischen Regimes unmöglich. Die nationalistische Politik der Sowjetunion war untrennbar mit den materiellen Interessen der Kreml-Bürokratie verbunden. Sie sicherte sich durch den systematischen Machtmissbrauch ihren privilegierten Zugang zu den Ressourcen der Sowjetunion. Der Kreml blickte mit Schrecken auf das Entstehen einer revolutionären Arbeiterbewegung in der UdSSR und auf internationaler Ebene, die die Machtposition der Bürokratie bedrohte.
Stalins Tod im Jahr 1953 weckte die Illusion, dass das Kreml-Regime weitreichende Reformen durchführen würde, die die Erneuerung des Sozialismus in der UdSSR und seinen internationalen Triumph ermöglichen würden. Das war das theoretische und politische Markenzeichen der pablistischen Revisionisten, die Trotzkis Analyse des konterrevolutionären Charakters des Stalinismus und der Notwendigkeit einer politischen Revolution zurückwiesen.
Doch die brutale sowjetische Niederschlagung des Arbeiteraufstands in der DDR 1953 und der Ungarischen Revolution von 1956, das Massaker an den Arbeitern in Nowotscherkassk 1962 und der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 haben unmissverständlich gezeigt, dass die Kreml-Bürokratie eine revolutionäre sozialistische Herausforderung ihrer Herrschaft nicht dulden würde.
Es zeigte sich – vor allem im Zuge der polnischen Solidarność-Bewegung 1980/81, die anfangs ein echtes revolutionäres Potenzial hatte –, dass die Bewegung gegen die Bürokratie nicht unterdrückt werden konnte. Der Kreml begann daraufhin, die konterrevolutionäre Lösung für die Systemkrise der sowjetischen Wirtschaft aktiv zu verfolgen: die Auflösung der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus.
Die Wahl Gorbatschows zum Parteivorsitzenden im Jahr 1985 und die Einführung der Perestroika markierten den Beginn der letzten, entscheidenden Phase der stalinistischen Konterrevolution gegen die Oktoberrevolution.
Ein wesentliches Element von Gorbatschows Politik war die ausdrückliche Abkehr von einer auch nur formalen Identifizierung der Sowjetunion mit dem Klassenkampf und dem Widerstand gegen den Imperialismus. Im Jahr 1989 erklärte das Internationale Komitee in einem Buch mit dem Titel Perestroika gegen Sozialismus:
Die herausragenden Kennzeichen der neuen sowjetischen Außenpolitik sind die bedingungslose Zurückweisung des internationalen Sozialismus als langfristiges Ziel der sowjetischen Politik, die Absage an jede politische Solidarität zwischen der Sowjetunion und den antiimperialistischen Kämpfen auf der ganzen Welt, und die ausdrückliche Ablehnung des Klassenkampfs als relevanten Faktor der Außenpolitik. Die Veränderungen in der sowjetischen Außenpolitik sind untrennbar mit der Integration der Wirtschaft in die Struktur des Weltkapitalismus verbunden. Die wirtschaftlichen Ziele des Kreml erfordern, dass die Sowjetunion sich ausdrücklich und bedingungslos von jeder verbliebenen Verbindung zwischen ihrer Außenpolitik und dem Klassenkampf und Antiimperialismus in jeglicher Form lossagt. Das ist der Grund, weshalb Gorbatschow im letzten Dezember [1988] die Vereinten Nationen als Forum wählte, um zu verkünden, dass die Oktoberrevolution von 1917 ebenso wie die Französische Revolution von 1789 einer anderen historischen Ära angehöre und für die moderne Welt nicht von Bedeutung sei.
Regelmäßig erscheinen Artikel in der sowjetischen Presse, in denen die früheren Kremlführer an den Pranger gestellt werden – nicht für ihren Verrat an den Interessen des internationalen Proletariats, sondern weil sie gegenüber den USA eine viel zu feindliche Haltung bezogen hätten. Insoweit die sowjetische Außenpolitik irgendwie einen Gegensatz zum Imperialismus zum Ausdruck brachte, wird sie als politische Verrücktheit verhöhnt. Der Ausbruch des Kalten Krieges wird mittlerweile nicht mehr der imperialistischen Aggression zugeschrieben, sondern dem Festhalten der UdSSR an einer dogmatischen antikapitalistischen Ideologie.
Das Gorbatschow-Regime ersetzte die grundlegende konterrevolutionäre Revision des Marxismus durch den Stalinismus – die Behauptung, der Sozialismus könne im nationalen Rahmen aufgebaut werden – durch das nicht weniger betrügerische und ignorante Argument, dass Russland, sobald es seine sozialistischen Ansprüche aufgegeben habe, mit Reichtümern überschüttet und friedlich in die Strukturen des kapitalistischen Weltsystems integriert werde. Russland habe vom Imperialismus nichts zu befürchten, der eine ideologische Ausgeburt des Marxismus sei. Zu denjenigen, die derartige Argumente am lautesten vorbrachten, gehörte ein junger Apparatschik in der sowjetischen Bürokratie, Andrei Kosyrew. Er schrieb 1989:
Wenn man sich die monopolistische Bourgeoisie der Vereinigten Staaten als Ganzes ansieht, so sind nur sehr wenige Gruppen innerhalb der Bourgeoisie – und keine von den wichtigsten – mit dem Militarismus verbunden. Es ist nicht länger nötig, von einem militärischen Kampf um Märkte oder Rohstoffe oder um die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt zu sprechen.
Liest man diese Worte heute, inmitten der Katastrophe des Kriegs der USA und Nato gegen Russland, kann man über das Ausmaß an Täuschung und Selbsttäuschung nur staunen, das in der sowjetischen Bürokratie und Nomenklatura herrschte, als sie die UdSSR rücksichtslos zerschlugen. Doch entsprangen die Täuschung und die Selbsttäuschung den materiellen Interessen der Bürokratie, die das Ziel verfolgte, sich von einer privilegierten Kaste in eine herrschende Klasse zu verwandeln. Was Kosyrew betrifft, so wurde er unter Jelzin Außenminister und fungierte damit von Amts wegen als Agent des amerikanischen Imperialismus.
Die Vereinigten Staaten sahen in der Auflösung der Sowjetunion eine historische Chance, ihre nunmehr unbestrittene militärische Vormachtstellung auszunutzen, um ihren anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang auszugleichen. Sie würden den „unipolaren Moment“ – die Abwesenheit eines ernsthaften militärischen Konkurrenten – nutzen, um die unanfechtbare globale Hegemonie der Vereinigten Staaten zu etablieren.
Doch dieses Projekt hat sich als problematischer erwiesen, als das Weiße Haus und die Pentagon-Strategen es erwartet hatten. Das Scheitern der angezettelten Kriege hat die Vereinigten Staaten gedemütigt. Keines der strategischen Ziele der USA wurde durch die blutigen Konflikte im Nahen Osten und in Zentralasien erreicht. Und darüber hinaus entwickelte sich China, während sich die USA in ihren „ewigen Kriegen“ verzettelten, zu einem bedeutenden wirtschaftlichen und potenziell militärischen Konkurrenten der Vereinigten Staaten.
Das Streben nach Hegemonie wurde durch eine Reihe verheerender Wirtschaftskrisen weiter untergraben. Der Wall-Street-Crash von 2008 brachte das gesamte kapitalistische Weltsystem an den Rand des Zusammenbruchs, der nur durch eine verzweifelte Rettungsaktion verhindert werden konnte, bei der Billionen von Dollar ins Finanzsystem gepumpt wurden. Doch angesichts dessen, dass die grundlegenden Probleme, die zum Crash von 2008 geführt hatten, nicht gelöst wurden, war im Jahr 2020 eine noch größere Rettungsaktion erforderlich, um einen weiteren Marktcrash zu verhindern, der durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie ausgelöst worden war.
Die Pandemie, die in den Vereinigten Staaten eine Million und weltweit etwa 20 Millionen Todesopfer gefordert hat, hat den dysfunktionalen Charakter des kapitalistischen Systems offenbart, das zu einer fortschrittlichen Antwort auf eine große soziale Krise nicht in der Lage ist. In dieser Hinsicht gibt es keinen grundlegenden Unterschied zwischen den Regimen in Washington und Moskau. Die entzündeten Geschwüre in der amerikanischen Gesellschaft – der ungleichsten der Welt – haben das gesamte politische System an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Am 6. Januar 2021 wurde die bestehende verfassungsmäßige Struktur der Vereinigten Staaten durch einen faschistischen Putsch, der vom Präsidenten der Vereinigten Staaten organisiert wurde, beinahe gestürzt. Während sich die USA arrogant als Anführerin der „Freien Welt“ aufspielen, ist das Überleben auch nur eines Anscheins von Demokratie in den Vereinigten Staaten, wie Biden selbst kürzlich zugab, in Frage gestellt.
Die Vereinigten Staaten sind weit davon entfernt, als Reaktion auf die Misserfolge der Vergangenheit von ihrem Streben nach globaler Hegemonie abzulassen. Sie werden vielmehr zu immer extremeren und gefährlicheren Aktionen getrieben. In der Tat ist die Schwere ihrer inneren Probleme zu einem wichtigen Faktor geworden, der die Vereinigten Staaten zu Maßnahmen treibt, die zuvor als undenkbar galten, einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen.
Warum haben die Vereinigten Staaten diesen Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine angezettelt? Lenin analysierte den Ersten Weltkrieg als einen Versuch der imperialistischen Mächte, die Welt neu aufzuteilen. Diese Definition ist ein wesentlicher Ausgangspunkt, um zu verstehen, warum die Vereinigten Staaten, die ein Bündnis der imperialistischen Nato-Mächte anführen, einen Krieg gegen Russland führen. Im Kontext der Gegenwart bedeutet die Neuaufteilung der Welt, die riesigen Gebiete Russlands, des größten Landes der Welt, unter direkte imperialistische Kontrolle zu stellen.
Insoweit sich die Sowjetunion auch nur formal mit dem Sozialismus und dem Widerstand gegen den Imperialismus identifizierte, beseitigte ihre Auflösung die wahrgenommene Herausforderung für die ideologische und wirtschaftliche Legitimität des von den Vereinigten Staaten dominierten kapitalistischen Weltsystems. Nach 1991 öffnete das neue Regime die russische Wirtschaft für ausländische kapitalistische Investitionen. Doch der russische Staat dehnte sich immer noch über die strategisch wichtigen Gebiete Eurasiens aus. Darüber hinaus konnten die russischen Oligarchen, die die Kontrolle über die nationale Wirtschaft erlangt hatten, den Zugang des amerikanischen und europäischen Imperialismus zu den Ressourcen Russlands begrenzen.
Für die Verwirklichung des amerikanischen Hegemonieprojekts sind der unbegrenzte Zugang zu den strategischen Ressourcen Russlands und die Kontrolle über sein Territorium in zweierlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung.
Erstens wird der tatsächliche Wert der Ressourcen Russlands auf mehrere Billionen Dollar geschätzt. Neben dem monetären Wert dieser Metalle und Mineralien sind viele dieser Ressourcen als strategische Rohstoffe eingestuft, die für die fortgeschrittenen Industrienationen des 21. Jahrhunderts unerlässlich sind.
Russland ist eine wahre Fundgrube wertvoller natürlicher Ressourcen mit riesigen – und in einigen Fällen den größten – Reserven an Öl, Erdgas, Holz, Kupfer, Diamanten, Gold, Silber, Platin, Zink, Bauxit, Nickel, Zinn, Quecksilber, Mangan, Chrom, Wolfram, Titan und Phosphaten. Etwa ein Sechstel der weltweiten Eisenerzvorkommen befindet sich in der Magnetanomalie von Kursk nahe der ukrainischen Grenze. Andere seltene Metalle, die in Russland in großen Mengen vorkommen, sind Kobalt, Molybdän, Palladium, Rhodium, Ruthenium, Iridium und Osmium. Russland ist auch eine wichtige Quelle für Uran und seltene Erden. Letztere sind zu einem wichtigen Gegenstand des weltweiten geopolitischen Wettbewerbs geworden.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Tatsache, dass es einen heftigen Konflikt um den Zugang zu diesen kritischen Ressourcen gibt, ist den Experten für globale Geostrategie wohl bekannt. Aber die Diskussion über Rohstoffe und die Kontrolle über den Reichtum Russlands findet keinen Eingang in die Massenmedien. Sie ziehen es vor, die Öffentlichkeit glauben zu machen, dass der amerikanische und der europäische Imperialismus einen edlen und uneigennützigen Kampf für die ukrainische Demokratie führen, selbst wenn dies – bedauerlicherweise – die Bewaffnung der Faschisten des Asow-Bataillons erfordert.
Zweitens ist die physische Kontrolle des russischen Territoriums von entscheidender Bedeutung für den von Washington als unvermeidlich betrachteten Showdown mit China. Wenn die Zeit für einen offenen Krieg gekommen ist, wird die Verteidigung der Uiguren gegen die „völkermörderische“ Verfolgung durch China ebenso angeführt werden wie heute der Vorwurf des russischen „Völkermords“ an den Ukrainern.
Die Betonung der Bedeutung von Rohstoffen als wichtiger Faktor für einen Krieg gegen Russland wird sicher als Beispiel für „Vulgärmarxismus“ abgetan werden. Aber Lenin legte in seiner Studie über den Imperialismus großen Wert auf den Kampf der imperialistischen Mächte um die Kontrolle der Rohstoffquellen. Er schrieb: „Je höher entwickelt der Kapitalismus, je stärker fühlbar der Rohstoffmangel, je schärfer ausgeprägt die Konkurrenz und die Jagd nach Rohstoffquellen in der ganzen Welt sind, desto erbitterter ist der Kampf um die Erwerbung von Kolonien.“
Lenin brachte das Streben nach Zugang zu und Kontrolle von Rohstoffen mit der Eroberung von Territorien in Verbindung und betonte die Bedeutung von Annexionen als wesentliches Element des Imperialismus.
Natürlich gibt es außer der offenen Annexion viele Formen, die eine territoriale Kontrolle durch die Imperialisten bei Aufrechterhaltung der Illusion der Unabhängigkeit des unterworfenen Landes ermöglichen. Aber das Trugbild wird nicht der Realität entsprechen. Der US-Imperialismus und seine Nato-Verbündeten erwarten, dass das Endergebnis des Konflikts – wie langwierig er auch sein mag – die Zerstörung Russlands in seiner jetzigen Form sein wird.
Über den Wechsel zu einer äußerst aggressiven Politik schrieb die Washington Post am 16. April unter dem Titel „U.S., allies plan for long-term isolation of Russia“:
Fast zwei Monate nach Wladimir Putins brutalem Angriff auf die Ukraine haben die Biden-Administration und ihre europäischen Verbündeten begonnen, eine ganz andere Welt zu planen, in der sie nicht mehr versuchen, mit Russland zu koexistieren und zu kooperieren, sondern es im Rahmen einer langfristigen Strategie aktiv zu isolieren und zu schwächen.
In der Nato und der Europäischen Union, im Außenministerium, im Pentagon und in den Ministerien der Verbündeten werden Pläne ausgearbeitet, um in praktisch jedem Aspekt der westlichen Haltung gegenüber Moskau eine neue Politik zu entwickeln, von der Verteidigung und den Finanzen bis hin zum Handel und der internationalen Diplomatie.
Welche strategischen Auswirkungen hat die Aufgabe der Bemühungen um „Koexistenz und Kooperation“ mit Russland? Wenn die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten glauben, dass es nicht möglich ist, mit Russland zu „koexistieren“, folgt daraus, dass sie entschlossen sind, das Land zu zerstören. Die „andere Welt“, die den imperialistischen Mächten vorschwebt – und für die sie bereit sind, einen Atomkrieg und das Leben von Hunderten von Millionen Menschen zu riskieren – ist eine Welt, in der Russland in seiner jetzigen Form nicht existiert.
Der Krieg in der Ukraine offenbart nun die katastrophalen Folgen des stalinistischen Verrats an der Oktoberrevolution. Dieser Verrat begann mit der Ablehnung des Programms des sozialistischen Internationalismus, auf das Lenin und Trotzki die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse im Oktober 1917 und die anschließende Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Jahr 1922 gründeten. Das antimarxistische Programm des „Sozialismus in einem Land“, das Stalin 1924 vorstellte, führte zum Wiederaufleben des großrussischen Chauvinismus, der die Einheit der sozialistischen Republiken untergrub und reaktionäre, antisowjetische und offen faschistische Elemente stärkte. Dies geschah insbesondere in der Ukraine, einer Nation, die unter dem Zarismus brutal unterdrückt worden war und aus der viele der größten Führer der revolutionären Arbeiterbewegung, darunter Leo Trotzki, hervorgegangen waren.
Die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 war die Krönung der stalinistischen Konterrevolution. Die russische, ukrainische und internationale Arbeiterklasse, die nun mit den Folgen dieser Entwicklung konfrontiert ist, muss aus dieser immensen historischen Erfahrung die notwendigen politischen Lehren ziehen.
In einem Brief an einen russischen Sozialisten, der am 5. April auf der World Socialist Web Site veröffentlicht wurde, erläuterte das Internationale Komitee die prinzipielle Grundlage seiner Opposition gegen die russische Invasion in der Ukraine, ungeachtet dessen, dass der Konflikt durch die Vereinigten Staaten angestiftet worden war. Die trotzkistische Bewegung, so der Brief, „stützt ihre Strategie … nicht auf die pragmatischen, national basierten Konzeptionen, die die Politik des kapitalistischen Regimes in Russland bestimmen“. Im Brief heißt es weiter:
Die Verteidigung der russischen Massen gegen den Imperialismus kann sich nicht auf die nationalstaatliche Geopolitik der Bourgeoisie begründen. Der Kampf gegen den Imperialismus erfordert vielmehr, dass die proletarische Strategie der sozialistischen Weltrevolution zu neuem Leben erweckt wird. Die russische Arbeiterklasse muss das gesamte Unterfangen der kapitalistischen Restauration, das in eine Katastrophe geführt hat, als verbrecherisch zurückweisen und auf politischer, gesellschaftlicher und theoretischer Ebene wieder an ihre großen revolutionären Traditionen anknüpfen, die mit Lenin und Trotzki verbunden sind.
Das Programm des sozialistischen Internationalismus gilt für die Arbeiterklasse in allen imperialistischen und kapitalistischen Ländern.
Der Krieg in der Ukraine ist keine Episode, die bald überwunden sein wird und auf die eine Rückkehr zur „Normalität“ folgt. Er ist der Beginn eines gewaltsamen Ausbruchs einer globalen Krise, die nur auf eine von zwei Arten gelöst werden kann. Die kapitalistische Lösung führt zum Atomkrieg, auch wenn das Wort „Lösung“ kaum rational auf einen planetaren Suizid angewendet werden kann. Vom Standpunkt aus, die Zukunft der Menschheit zu sichern, ist die sozialistische Weltrevolution die einzig mögliche Antwort.
Unweigerlich stellt sich die Frage: Ist diese letztere Alternative eine Möglichkeit?
Die Antwort liegt im Verständnis der Widersprüche des modernen Weltkapitalismus. Lenins große Einsicht, die er zwischen 1914 und 1916 entwickelte, bestand darin, dass die sozioökonomischen Widersprüche, die den Weltkrieg auslösten, auch den Anstoß für eine sozialistische Weltrevolution gaben. Diese Einsicht bestätigte sich mit dem Ausbruch der Russischen Revolution 1917.
In der gegenwärtigen Krise wird Lenins Konzept – das von Trotzki und der Vierten Internationale weiterentwickelt wurde – durch die rasche Eskalation des Klassenkampfes in der ganzen Welt bestätigt. Die rücksichtslosen Maßnahmen der Vereinigten Staaten und ihrer Nato-Verbündeten zur Isolierung Russlands haben die bereits weit fortgeschrittenen wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die jedes kapitalistische Regime heimsuchen, immens verschärft. Massendemonstrationen und Streiks breiten sich auf der ganzen Welt aus. Die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen werden Verarmung und Hunger im Interesse des verbrecherischen Strebens der imperialistischen Führungseliten nach Weltherrschaft nicht hinnehmen.
Wie Trotzki erklärte, basiert die Strategie der Vierten Internationale nicht auf der Karte des Krieges, sondern auf der Karte des globalen Klassenkampfes.
Die Feierlichkeiten zum 1. Mai 2022 müssen der Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse in einem weltweiten Kampf gegen den imperialistischen Krieg und seine Hauptursache, das kapitalistische System, dienen.
Die Strategie und das Programm, auf deren Grundlage das Internationale Komitee der Vierten Internationale diese historische Bewegung entwickeln wird, werden Gegenstand der Online-Kundgebung sein, die am Sonntag, dem 1. Mai, stattfinden wird.
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