Die politischen Lehren aus den französischen Präsidentschaftswahlen 2022

Die Wiederwahl des unpopulären französischen Präsidenten Emmanuel Macron gegen die neofaschistische Kandidatin Marine Le Pen hat keine der politischen Fragen gelöst, die sich Arbeitern und Jugendlichen bei der Wahl gestellt haben. Sie wird weder die wachsende Gefahr einer rechtsextremen Diktatur stoppen, noch die Bewegung der Arbeiterklasse nach links und in den Kampf hinein aufhalten.

Le Pens Stimmenanteil von 42 Prozent ist ein Indikator für die antidemokratische Entwicklung des französischen Kapitalismus und haben weit mehr Gewicht als das „liberale“ Etikett, das Macron von den Medien verliehen wird. Le Pen gewann für die extreme Rechte die meisten Stimmen in der französischen Geschichte, fast 9 Prozent mehr als bei den letzten Wahlen im Jahr 2017 gegen Macron. Wenn sie ihren Stimmenanteil in Macrons zweiter Amtszeit genauso stark steigern würde wie in seiner ersten Amtszeit, würde sie 2027 gewählt werden.

Vor allem stützt sich Macron – wie Le Pen – letztlich auf die gleichen rechtsextremen Kräfte im Bankensektor und dem Polizei- und Militärapparat. Macron – der erste französische Präsident, der öffentlich den mit den Nazis kollaborierenden Diktator Philippe Pétain unterstützte, als er die Bereitschaftspolizei gegen die Proteste der „Gelbwesten“ einsetzte – ernannte Gérald Darmanin, einen Sympathisanten der rechtsextremen Action française, zu seinem Innenminister, um sein antimuslimisches „Anti-Separatismus“-Gesetz umzusetzen.

Während er die drakonischen Sparmaßnahmen fortsetzt, die er für seine zweite Amtszeit vorsieht, wird Macron versuchen, Nationalismus und rechtsextreme Kräfte weiter zu stärken. Er will das Rentenalter um drei Jahre auf 65 Jahre anheben, Sozialhilfeempfänger zur Arbeit zwingen, die Studiengebühren erhöhen und die Arbeitslosenversicherung kürzen. Die Zeitungen berichten bereits, dass sich die Bereitschaftspolizei auf eine gewaltsame Konfrontation mit den Maiprotesten am Sonntag vorbereitet. Die Polizeipräfekten erhalten die Direktiven für einen gewaltsamen Angriff auf die Arbeiterklasse in Originalfassung direkt aus dem Elysée-Palast des Präsidenten.

Dies bestätigt den Aufruf der Parti de l'égalité socialiste (PES), der französischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI), zu einem aktiven Boykott der Stichwahl. Die PES erklärte: Nur die unversöhnliche Ablehnung Macrons und Le Pens sowie die Mobilisierung von Arbeitern und Jugendlichen gegen die toxische Wahl zwischen zwei extrem rechten Kandidaten wird die Arbeiterklasse auf die Kämpfe gegen die nächste Präsidentschaft vorbereiten – sei es Macron oder Le Pen. Macron bereitet sich nun darauf vor, den Angriff auf die Arbeiterklasse zu beginnen.

Die PES schlug dutzenden Millionen Wählern, die sowohl Macron als auch Le Pen hassen, eine aktive Politik und einen Weg vorwärts vor, der an die weit verbreitete Stimmung unter Arbeitern appelliert. Es ist bezeichnend, dass am 24. April über 3 Millionen Wähler in die Wahllokale gingen, um leere oder ungültige Stimmzettel abzugeben.

In der Arbeiterklasse wächst eine tiefverwurzelte soziale Wut heran, die aus der internationalen Krise des kapitalistischen Systems resultiert. Sozialer Kahlschlag und der verheerende weltweite Anstieg der Inflation; die faschistische Wende in der offiziellen Politik; die unkontrollierten Verwüstungen durch Covid-19 und nun die wachsende Angst vor einem Atomkrieg angesichts der Nato-Intervention gegen Russland in der Ukraine treiben Arbeiter nach links. Die Schlüsselfrage ist, wie Arbeiter in Frankreich mit ihren internationalen Klassenbrüdern und -schwestern gegen die Klassenkräfte, die in Frankreich sowohl von Macron als auch von Le Pen vertreten werden, vereint werden können.

In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 10. April haben 22 Prozent der Wähler versucht, linke Opposition gegen das politische Establishment kundzutun, indem sie für Jean-Luc Mélenchon stimmten. Mélenchon kam knapp hinter Le Pens Stimmenanteil von 23 Prozent zum Liegen und schied in der Stichwahl aus. Es war jedoch offensichtlich, dass seine Stimmen – die vor allem von Jugendlichen und Geringverdiener stammten und in den Arbeiterbezirken der Großstädte abgegeben wurden – Mélenchon und seine Partei Unbeugsames Frankreich (LFI) objektiv in eine sehr starke Position brachten.

Als in ganz Frankreich an Universitäten und Gymnasien Proteste gegen die Stichwahl zwischen Macron und Le Pen ausbrachen, unterbreitete die PES eine linke Politik. Mélenchon hätte seine Wähler zu Protesten und Streiks aufrufen können – gegen die Stichwahl zwischen Macron und Pen, gegen das brutale Vorgehen der Polizei gegen Jugendproteste, und gegen die drohende Kriegsgefahr. Da die LFI in den Arbeitervierteln der Großstädte vertreten ist, hätten solche Streiks nicht nur die französische Wirtschaft zum Erliegen bringen, sondern auch Arbeiter international gegen Inflation und Krieg mobilisieren können.

Mélenchon reagierte stattdessen, indem er die Arbeiter nicht zu mobilisieren sondern zu demobilisieren versuchte. Schockiert von seiner starken Unterstützung – die gerade in den letzten zwei Wochen sprunghaft angestiegen war – erklärte Mélenchon am Abend des ersten Wahlgangs, dass er nie wieder für das Präsidentenamt kandidieren werde. Stillschweigend unterstützte er Macron und skandierte, dass keine einzige LFI-Stimme an Le Pen gehen solle. Wenige Tage später legte er eine Kehrtwende hin und rief dazu auf, bei den Parlamentswahlen im Juni für die LFI zu stimmen, damit er entweder unter Macron oder Le Pen Premierminister werden könne. Er erklärte, er werde für eine fortschrittliche Politik gegen den Präsidenten kämpfen.

Die PES weist die politische Lüge kategorisch zurück, dass Arbeiter versuchen können, unter einer neofaschistischen Regierung eine progressive Agenda umzusetzen. Mélenchons Behauptung, eine fortschrittliche Agenda der „Volksrevolution“ entweder unter Macron oder Le Pen umzusetzen, schlägt dem Marxismus und den grundlegenden Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts ins Gesicht.

Die korrupten Institutionen der Fünften Republik, die Mélenchon in der Vergangenheit vorgegeben hat, abzulehnen, geben dem Präsidenten die alleinige Macht über die Außenpolitik. Doch man kann nicht Arbeiter auf nationalem Boden verteidigen und gleichzeitig eine reaktionäre Politik auf internationaler Ebene dulden. Die Verteidigung des Lebens und der Lebensgrundlagen der Arbeiter hängt davon ab, dass die massiven Bankenrettungen für die Superreichen, die stillschweigende offizielle Akzeptanz der Durchseuchung mit Covid-19 und der Drang zum Krieg gegen Russland – die international von allen imperialistischen Mächten verfolgt werden – gestoppt werden.

Ein Kampf für eine sozialistische Revolution, die die Finanzaristokratie enteignet, ist der einzige Weg, um die Arbeiter in Frankreich mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern international gegen diese Politik zu vereinen.

Die PES lehnt Mélenchons nationalistisches Programm der „Volksrevolution“ ab, das er an die Stelle eines Kampfes der internationalen Arbeiterklasse für den Sozialismus setzt. Es handelt sich um einen Versuch, die reaktionäre politische Tradition des Stalinismus und seiner Anhängsel gegen die heutige Bewegung der Arbeiterklasse in Stellung zu bringen. Diese Politik kommt heute nicht nur einem Entgegenkommen gegenüber Macron gleich, sondern auch gegenüber der chauvinistischen Sozialdemagogie von Le Pen.

Gegen Mélenchons Flirt mit den rechtsextremen Vertretern des französischen Kapitals drängt sich ein Zitat aus Trotzkis eindringlichen Warnungen vor den stalinistischen Kräften auf, die in der von Ernst Thälmann geführten Kommunistischen Partei Deutschlands in den Jahren vor der Machtübernahme des Naziregimes wirkten:

Es ist schwer, sich eine beschämendere prinzipielle Kapitulation vorzustellen als diejenige, die die stalinistische Bürokratie mit ihrer Ersetzung der Losung der proletarischen Revolution durch die der Volksrevolution vollzogen hat… Natürlich ist jede große Revolution eine Volksrevolution oder nationale Revolution in dem Sinne, dass sie alle lebensfähigen und schöpferischen Kräfte der Nation um die revolutionäre Klasse schart, die Nation um einen neuen Kern herum organisiert. Aber das ist keine Kampfparole, sondern eine soziologische Beschreibung der Revolution, die ihrerseits genaue und konkrete Begriffe erfordert. »Volksrevolution« als Slogan ist eine Leerformel, Scharlatanerie; macht man den Faschisten auf diese Art Konkurrenz, so ist der Preis, dass man die Köpfe der Arbeiter mit Verwirrung erfüllt… Der Faschist Strasser sagt: 95 Prozent der Bevölkerung haben Interesse an der Revolution, folglich ist das keine Klassen-, sondern eine Volksrevolution. Thälmann stimmt in den Chor ein.

Gegen die populistische Demagogie von Mélenchon ist die PES voll und ganz von den revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse in Frankreich und international überzeugt. Arbeiter, die – meist mit Misstrauen und Frustration – für Mélenchon oder Le Pen stimmen, trennt eine Klassenkluft von diesen und allen anderen Kandidaten. Die Hauptaufgabe in Frankreich besteht darin, die entscheidenden politischen und historischen Fragen zu klären, um Arbeiter und Jugendliche für den Kampf für den Sozialismus zu gewinnen und die PES als Alternative zu Mélenchon und pseudolinken Parteien wie der Neuen Antikapitalistischen Partei, die sich mit ihm verbünden, aufzubauen.

Vor diesem Hintergrund verweist die PES auf die Bedeutung der internationalen Online-Maikundgebung des IKVI am 1. Mai 2022. Redner aus Ländern auf der ganzen Welt werden die Grundlagen des Kampfes der trotzkistischen Bewegung gegen den imperialistischen Krieg und dessen Ursache, das kapitalistische System, diskutieren. Die PES appelliert an Arbeiter und Jugendliche in Frankreich und der ganzen Welt, daran teilzunehmen.

Diese Erklärung erschien erstmals am 27. April in französischer und englischer Sprache.

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