Perspektive

Was steht hinter dem Versuch Bidens und des US-Kongresses, den Bahnstreik zu verbieten?

Das Weiße Haus und der US-Kongress versuchen, einen von der Biden-Regierung ausgehandelten Tarifvertrag gegen ein klares Votum der Eisenbahner durchzusetzen. Dieser Schritt ist nicht nur ein schwerer Angriff auf die demokratischen Grundrechte der Arbeiterklasse, sondern markiert auch eine strategische Erfahrung, aus der Arbeiter ihre Lehren ziehen müssen.

Drei Jahre dauerten die endlosen Schlichtungsrunden auf Regierungsebene, die den Eisenbahnern durch das arbeiterfeindliche Gesetz Railway Labor Act aufgezwungen wurden. Die Regierung und die Gewerkschaftsbürokratie versuchten schließlich, eine Vereinbarung über eine Abstimmung durchzusetzen, die von mehrfachen Verzögerungen und schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten überschattet war. Jetzt wollen die Beschäftigten am 9. Dezember endlich einen landesweiten Streik beginnen. Sie sind mit skrupellosen Arbeitgebern konfrontiert, die nicht einmal auf grundlegende Forderungen eingehen, wie bezahlte Krankentage (aktuell haben sie überhaupt keine) und eine Arbeitszeitgestaltung, die mehr Zeit mit der Familie ermöglicht.

Doch die Biden-Regierung und der Kongress setzen auf ein rasches Streikverbot und die Durchsetzung des Tarifabkommens. Der US-Präsident kündigte am Montagabend an, dass er sich um ein Eingreifen des Kongresses bemühen werde, und traf sich am Dienstagmorgen mit führenden Abgeordneten. Bereits am heutigen Mittwoch könnte eine Abstimmung im Kongress stattfinden, wo beide Parteien ein Streikverbot unterstützen.

Der Kampf der Eisenbahner hat zwei Grundprinzipien des Marxismus bewiesen, die den Kern der Theorie des Klassenkampfs bilden.

Erstens zeigt er die Richtigkeit der Arbeitswerttheorie. Während der gesamte gesellschaftliche Reichtum aus der Arbeit der Arbeiterklasse geschöpft wird, ist die Quelle der Profite der Mehrwert, der aus der Ausbeutung der Arbeiter gewonnen wird. Das ist die ökonomische Basis der Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft.

Bei einer Schlichtungsverhandlung Anfang des Jahres warfen die Bahnunternehmen den Eisenbahnern in arroganter Manier vor, ihre Arbeit würde „nicht zu ihren Gewinnen beitragen“. Aber am Montag forderten 400 Unternehmensgruppen in einem Schreiben den Kongress zum Handeln auf, um einen Streik zu verhindern. Sie warnten vor apokalyptischen wirtschaftlichen Folgen, wenn die Eisenbahner die Arbeit niederlegten.

Unter den fortgeschrittenen Volkswirtschaften sind die USA das Land mit der höchsten sozialen Ungleichheit. Hier hat sich ein regelrechter Personenkult um prominente Milliardäre entwickelt, die als „Arbeitsplatzbeschaffer“ angepriesen werden. Aber in Wirklichkeit tragen sie überhaupt nichts zur Gesellschaft bei. Das Land kann ohne sie funktionieren – aber nicht ohne die Eisenbahner.

Es ist kein Zufall, dass in der profitabelsten Branche der USA miserable Arbeitsbedingungen herrschen. Durch ständigen Stellenabbau, erzwungene Überstunden und andere Methoden wird von den Hedgefonds-Managern und Milliardären im Bahnbereich ein gewaltiger Mehrwert aus der Arbeit der Eisenbahner herausgepumpt. Mit diesem Gewinn werden wiederum Aktienrückkäufe und andere spekulative und parasitäre Aktivitäten finanziert.

Zweitens beweist die Auseinandersetzung den Charakter des Staats als Instrument der Klassenherrschaft. „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“, schrieb Marx vor mehr als 150 Jahren im Kommunistischen Manifest.

Beide etablierten Parteien – Demokraten und Republikaner – arbeiten zusammen, wenn es darum geht, ein von den Arbeitern abgelehntes Tarifabkommen in Rekordtempo durchzusetzen. Diese parteiübergreifende Einigkeit wird auch nicht durch die bürgerkriegsähnliche Atmosphäre in Washington getrübt, wo die meisten Republikaner den Putschversuch von Donald Trump im Januar 2021 unterstützt haben.

Kein anderes größeres Gesetz wurde in jüngster Zeit so schnell im Kongress verabschiedet, vielleicht mit Ausnahme des CARES-Gesetzes zur Rettung der Wall Street und der Großkonzerne in der Anfangsphase der Pandemie 2020 sowie der Finanzpakete für den Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine. Selbst wenn sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen, sind sich Demokraten und Republikaner bei kritischen Themen für den amerikanischen Imperialismus und die Kapitalistenklasse einig.

Biden – der sich selbst das anmaßende Etikett des „arbeitnehmerfreundlichsten Präsidenten in der amerikanischen Geschichte“ verpasst hat – behauptet in abstoßender Heuchelei, dass er die Auferlegung des Tarifvertrags bedauere. Der Schritt sei aber notwendig, um „arbeitende Familien“ zu schützen, die durch einen Streik geschädigt würden. Diese angebliche Gefahr könnte aber genauso gut verhindert werden, indem Zugeständnisse an die Arbeiter durchgesetzt werden.

Stattdessen hat Biden ausdrücklich jede Änderung des Vertrags abgelehnt. Im Namen des „Schutzes der Arbeitnehmer“ zwingt er der arbeitenden Bevölkerung eine Diktatur der Unternehmer auf.

Wenn Biden und der Kongress vom Schutz der „Wirtschaft“ sprechen, meinen sie in Wirklichkeit den Schutz der Profite. Diese müssen um jeden Preis verteidigt werden. Auch nur der Anschein eines Rückzugs ist aus ihrer Sicht untragbar, weil er den Widerstand in der Arbeiterklasse weiter fördern würde.

Der bürgerliche Staat ist nicht, wie die Reformisten zu behaupten pflegen, ein neutraler Schiedsrichter in sozialen Konflikten. Er dient als Instrument, um die politische Diktatur der Kapitalistenklasse aufrechtzuerhalten.

Bei der Durchsetzung des Konzerndiktats verlässt sich die Biden-Administration auf die Dienste des Gewerkschaftsapparats, der ihr Komplize in der antidemokratischen Verschwörung gegen die Eisenbahner ist. Von Anfang an versuchten die Gewerkschaften, die Initiative der Arbeiter zu untergraben und einen Streik so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie waren es, die auf die Einsetzung der präsidialen Schlichtungsstelle (Presidential Emergency Board) gedrängt hatten. Auf der Grundlage wurde schließlich der Vertrag ausgehandelt, den Biden jetzt durchsetzen will.

Der Gewerkschaftsbürokratie gelang es aber nicht, die Vereinbarung durch eine Abstimmung durchzudrücken. Die Wahl, die ein Hohn auf demokratische Verfahren darstellte, sollte die Konfrontation hinauszögern, um die Position des Kongresses zu stärken. Die Drohung mit einer einstweiligen Verfügung des Kongresses wurde als Waffe gegen die Arbeiter eingesetzt, um sie davon zu überzeugen, die Vereinbarung zu akzeptieren. Als Begründung hieß es lediglich, dass nichts anderes möglich sei.

Der Gewerkschaftsapparat ist nicht nur ein verlängerter Arm des Managements, sondern auch die Betriebspolizei für den kapitalistischen Staat.

Zwar wäre es das erste Mal seit 1991, dass der Kongress gegen einen landesweiten Bahnstreik interveniert, doch handelt es sich nicht einfach um eine Wiederholung der Vergangenheit. Diesmal findet der Konflikt unter Bedingungen einer massiven sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise statt.

Bidens Forderung nach einem Eingreifen des Kongresses enthüllt, dass er seine Klassenpolitik kaum mehr tarnen kann. Seine Strategie, eine offene und verfrühte Konfrontation mit der Arbeiterklasse durch den Einsatz der Gewerkschaftsbürokratie zu vermeiden, gerät ins Wanken, weil die Feindschaft der Arbeiter sowohl gegenüber dem Gewerkschaftsapparat als auch der Regierung enorm zugenommen hat.

Die Bewegung für den Aufbau von Aktionskomitees, in denen die Arbeiter unabhängig vom Gewerkschaftsapparat für ihre Interessen kämpfen können, entwickelt sich weiter. Die Eisenbahner haben das Rail Workers Rank-and-File Committee gegründet, das den Widerstand gegen die Tarifverträge in allen Teilgewerkschaften und Bahnunternehmen angeführt hat.

Gleichzeitig gewann die Kampagne des Autoarbeiters Will Lehman für den Vorsitz der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) breite Unterstützung unter Arbeitern an der Basis. Lehman fordert die Abschaffung des UAW-Apparats und die Übertragung der Macht an die Belegschaft in den Betrieben.

Die Intervention des Kongresses zeigt jedoch, dass die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von entscheidender Bedeutung ist. Das heißt nicht nur, die Zwangsjacke der Gewerkschaftsbürokratie zu durchbrechen, sondern auch die politische Unabhängigkeit herzustellen. In dem heutigen politischen System, das als Instrument der Klassenherrschaft der Bourgeoisie fungiert, sind die Arbeiter völlig entmündigt. Sie brauchen ihr eigenes politisches Programm, das ihren historischen Interessen entspricht und die Profitlogik ablehnt und aufheben will.

Die Arbeiter sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, die politische Macht zu übernehmen und die Gesellschaft nach sozialistischen Prinzipien umzustrukturieren, orientiert an den Bedürfnissen der Bevölkerung und nicht dem Profitstreben einer kleinen Elite. Das ist die wichtigste Lehre aus der Intervention des Kongresses.

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