Es hat bisher kaum eine Wahl gegeben, bei der die Kluft zwischen den Interessen der Bevölkerung und der Politik der etablierten Parteien so offensichtlich war, wie bei der Berliner Wiederholungswahl vom vergangenen Sonntag.
Die SPD, die Grünen und Die Linke, die die Hauptstadt seit 2016 gemeinsam regieren, verloren seit der ursprünglichen, vom Berliner Verfassungsgericht annullierten Wahl im September 2021 zusammen fast eine Viertelmillion Wähler – die SPD 111.000, Die Linke 71.000 und die Grünen 65.000. Das ist ein Viertel ihrer damaligen Wählerschaft. Auch die FDP, die im Bund mit SPD und Grünen regiert, verlor 60.000 Stimmen und damit fast die Hälfte ihrer Wähler. Sie verfehlte die Fünf-Prozent-Hürde und ist nicht mehr im Abgeordnetenhaus vertreten.
Diese hohen Verluste sind nur zum Teil auf die niedrigere Wahlbeteiligung zurückzuführen, die mit 63 Prozent deutlich unter dem Niveau von 2021 lag, als auch der Bundestag neu gewählt wurde. Damals hatten sich 75,4 Prozent an der Wahl beteiligt. Auch bei der letzten gültigen Abgeordnetenhauswahl 2016 waren noch knapp 67 Prozent zur Urne gegangen.
Die SPD von Bundeskanzler Olaf Scholz und der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey erzielte mit 18,4 Prozent das bisher schlechteste Ergebnis in ihrer einstigen Hochburg, in der sie seit 22 Jahren die Regierung führt. Die SPD lag nur 105 Stimmen vor den Grünen und blieb damit um Haaresbreite zweitstärkste Partei.
Die einzige Partei, die sowohl in absoluten wie in relativen Zahlen Wähler hinzugewann, ist die CDU, die mit 28,2 Prozent stärkste Partei wurde und gegenüber der ursprünglichen Wahl 10,2 Prozent zulegte. Sie verdankt diesen unverhofften Wahlerfolg nicht eigener Popularität, sondern dem Widerwillen gegen die anderen Parteien.
Alle Umfragen, die im Rahmen der Wahl gemacht wurden, bestätigen, dass von der CDU kaum jemand eine Lösung der dringenden Probleme Berlins erwartet – Wohnungsnot und unerschwingliche Mieten, Lehrermangel und zerfallende Schulen, marode Infrastruktur und überlastete Behörden sowie Niedriglöhne und weitverbreitete Armut.
Nur 31 Prozent der Befragten waren der Ansicht, dass ein CDU-geführter Senat die Probleme besser lösen würde. 52 Prozent verneinten die Frage. Bei der Frage nach der Direktwahl der Regierenden Bürgermeisterin und der Zufriedenheit mit der politischen Arbeit lag Giffey mit – für eine Amtsinhaberin miserablen – Werten von 32 und 36 Prozent deutlich vor dem Spitzenkandidaten der CDU, Kai Wegner, für den sich nur 27, bzw. 23 Prozent aussprachen.
Die CDU wurde also vor allem aus Opposition gegen die anderen Parteien gewählt. Auch die rechtsextreme AfD verlor Wähler, vor allem durch Stimmenthaltung, konnte sich aber gegenüber 2021 prozentual leicht auf 9,1 Prozent verbessern. Das ist deutlich weniger als 2016, als sie noch auf 14,2 Prozent gekommen war.
CDU und SPD erzielten bei Wählern über 60 die höchsten Ergebnisse, die CDU 38 und die SPD 26 Prozent. Bei den 18- bis 24-Jährigen erreichten sie dagegen nur 12, bzw. 11 Prozent. Hier waren die Grünen mit 22 Prozent stärkste Partei.
Insgesamt gaben von den 3,7 Millionen Menschen, die in Berlin leben, nur etwas mehr als 1,5 Millionen ihre Stimme ab. Jeder Fünfte ist nicht wahlberechtigt, weil er keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, und knapp ein Viertel enthielt sich der Stimme. Hinzu kommen 14 Prozent Minderjährige, die noch nicht wahlberechtigt sind. Von den Wahlteilnehmern stimmten außerdem knapp 14 Prozent für Parteien, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten und im Abgeordnetenhaus nicht vertreten sind.
Die massenhafte Wahlenthaltung und die Ablehnung sämtlicher Regierungsparteien sind Ausdruck der tiefen Kluft zwischen der Kriegs- und Sozialkürzungspolitik der Regierung und den Interessen der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Der Konfrontationskurs gegen Russland ist ebenso verhasst wie die Kürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich und die massiven Reallohnverluste.
Auch wenn noch nicht abzusehen ist, ob die rot-grün-rote Koalition fortgesetzt oder von einer schwarz-roten oder schwarz-grünen Koalition abgelöst wird, ist schon klar, dass die nächste Regierung den Konfrontationskurs mit der Arbeiterklasse fortsetzen und verschärfen wird.
Die Auseinandersetzungen um Löhne, die die Inflation decken, und um erträgliche Arbeitsbedingungen in Kliniken, öffentlichem Nahverkehr und Müllabfuhr, die schon während des Wahlkampfs zu zahlreichen Streiks und Protesten geführt hatten, werden sich zuspitzen. Ebenso der Kampf um Wohnraum und bezahlbare Mieten.
Vor allem aber bringen der Stellvertreterkrieg, den die Nato in der Ukraine gegen Russland führt, und die damit verbundene militärische Aufrüstung und Gefahr eines Atomkriegs immer breitere Schichten in Konflikt mit den Regierungsparteien, die alle den Militarismus unterstützen. Auch der Berliner Spitzenkandidat der Linken, Klaus Lederer, sprach sich ausdrücklich für Waffenlieferungen an die Ukraine aus und attackierte Kriegsgegner.
Hierin liegt die Bedeutung des Wahlkampfs der Sozialistischen Gleichheitspartei. Die SGP war die einzige Partei, die den Kampf gegen Krieg in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs stellte und ihn mit einem sozialistischen Programm zur Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse verband.
Die SGP konnte ihren Stimmenanteil trotz des vollständigen Boykotts durch die Medien mit 801 Wählern mehr als verdoppeln. Vor allem erreichte sie mit ihren Kundgebungen, ihrem Wahlaufruf, ihren Flugblättern und ihren Videos Zehntausende und setzte der Kriegstreiberei der Herrschenden die Perspektive des internationalen Sozialismus entgegen. In ihrem Wahlaufruf hieß es:
Die einzige gesellschaftliche Kraft, die einen weiteren Weltkrieg verhindern kann, ist die internationale Arbeiterklasse – also die große Mehrheit der Weltbevölkerung, die heute größer und vernetzter ist als je zuvor. Die SGP baut zusammen mit ihren Schwesterparteien in der Vierten Internationale eine weltweite sozialistische Bewegung gegen Krieg und seine Ursache, den Kapitalismus auf. Der Krieg kann nicht gestoppt werden, ohne die Macht der Banken und Konzerne zu brechen und sie unter demokratische Kontrolle zu stellen.
Diese Perspektive ist jetzt von entscheidender Bedeutung. Weltweit und in ganz Europa – von Frankreich über Großbritannien und Spanien bis nach Deutschland – entwickelt sich die größte Welle von Klassenkämpfen seit den 1970er Jahren, die Millionen Arbeiter in Konflikt mit dem kapitalistischen System bringen.
Die Wahlkampagne der SGP hat ein wichtiges Zeichen gesetzt, um diese Kämpfe in eine sozialistische Richtung zu lenken, den Einfluss der Gewerkschaften und politischen Parteien, die sie zurückhalten und ausverkaufen, zu durchbrechen und den Kampf für die Rechte der Arbeiter mit dem Kampf gegen Krieg zu verbinden.
Diese Arbeit muss nach der Wahl fortgesetzt und vertieft werden. Sie trifft zunehmend mit den Erfahrungen von Arbeitern und Jugendlichen zusammen, die feststellen, dass sie durch Druck auf die Herrschenden weder ihre Löhne und Arbeitsplätze verteidigen, noch den Krieg stoppen oder die Umweltzerstörung verhindern können und eine unabhängige Perspektive brauchen. Die zentrale Aufgabe besteht darin, die SGP als neue Massenpartei der Arbeiterklasse aufzubauen. Der Wahlkampf hat dafür eine wichtige Grundlage gelegt.