Infolge von Corona-Pandemie, Inflation und Ukraine-Krieg:

Kinder- und Jugendarmut in Deutschland stark angestiegen

Ende Januar veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung ihr Factsheet zu Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. Im Jahr 2021 galten demzufolge 2,88 Millionen Kinder unter 18 Jahren sowie 1,55 Millionen junge Erwachsene unter 25 Jahren als arm bzw. „armutsgefährdet“. Das bedeutet, dass mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene von Armut betroffen sind. Die jungen Erwachsenen haben das höchste Armutsrisiko aller Altersgruppen.

Jugendliche an einer Demonstration in Berlin gegen Mietwucher und Sozialkahlschlag, April 2018

Insgesamt ist die Armut in Deutschland auf ein Rekordniveau gestiegen. Auch bei den Rentnern ist die Armut in den letzten Jahren besonders stark angestiegen. 20 Prozent der älteren Menschen oder jeder Fünfte von ihnen bezieht inzwischen eine Armutsrente.

Die Forscherinnen Antje Funcke und Sarah Menne, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung das Factsheet erstellt haben, stützen sich bei ihrer Studie auf aktuelle Zahlen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Die Studie enthält eine detaillierte Aufstellung über das Ausmaß der Kinder- und Jugendarmut in den einzelnen Bundesländern sowie in den jeweiligen Kreisen und kreisfreien Städten.

Als „arm“ definiert die Studie diejenigen Personen, die über so wenig Einkommen verfügen, „dass es nicht möglich ist, den Lebensstandard zu haben, der in unserer Gesellschaft als selbstverständlich bzw. normal gilt“. Die offiziellen Armutsschwellen lagen laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2021 für einen Ein-Personen-Haushalt bei 1.148 Euro und für einen Paar-Haushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.410 Euro im Monat. Für eine Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren lag die Schwelle bei 1.492 Euro und bei einer Alleinerziehenden mit drei Kindern, davon zwei unter und eins über 14 Jahren, bei 2.410 Euro im Monat.

Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um zu sehen, dass Alleinerziehende und Familien mit Kindern mit diesen niedrigen Monatseinkommen große Schwierigkeiten haben, um finanziell über die Runden zu kommen. Seit dem Anstieg der Inflation auf rund 10 Prozent wird es mehr und mehr unmöglich.

Zu den wichtigsten Erkenntnissen zählt, dass viele junge Menschen SGB II-Leistungen (früher Sozialhilfe) benötigen, um über die Runden zu kommen. Im Juni 2022 betraf dies 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Zahl ist im Juni 2022 zum ersten Mal in fünf Jahren wieder deutlich angestiegen. Grund dafür sind auch Kinder, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind und seit Juni 2022 SGB II-Leistungen beziehen können.

In Wirklichkeit liegt die Zahl armer Kinder und Jugendlicher in Deutschland noch sehr viel höher und die Dunkelziffer ist hoch, denn viele werden von der Statistik nicht erfasst. Dies betrifft zum Beispiel Kinder von Eltern, die im Niedriglohnbereich arbeiten und mit ihrem Einkommen knapp über der Höhe der SGB II-Leistungen oder des Bürgergeldes (früher Hartz IV) liegen.

Auch Kinder und Jugendliche, die in Heimen und Jugendhilfeeinrichtungen aufwachsen oder in Studentenwohnheimen leben, tauchen in der Statistik nicht auf; genauso wenig wie die Kinder und Jugendlichen, die als Flüchtlinge aus den von den Kriegen der USA/Nato verwüsteten Ländern wie Afghanistan, Irak, Syrien und anderen Ländern kommen. Sie werden ebenfalls nicht mitgezählt, weil sie teilweise allein, teilweise mit ihren Eltern monate- und jahrelang in Flüchtlingseinrichtungen („Erstaufnahmezentren“) ausharren müssen, bis über ihren Asylantrag und Aufenthaltsstatus in Deutschland entschieden worden ist, und sie sich eine eigene Wohnung suchen können.

Aus dem Factsheet geht außerdem hervor, dass 7 Prozent der jungen Erwachsenen Sozialleistungen beziehen; das sind 432.000 junge Menschen unter 25 Jahren. Es zeigt sich, dass die Unterstützungssysteme, die für diese Altersgruppe eigentlich vorgesehen sind – neben dem SGB II-System beispielsweise noch das Bafög oder das Wohngeld – „nicht gut ineinandergreifen und Armut offensichtlich nicht vermeiden“, wie es in der Studie heißt.

Spitzenreiter bei der Kinder- und Jugendarmut ist Bremen mit einem Anteil von 41,1 Prozent aller Kinder und Jugendlichen. Aber auch in allen anderen Bundesländern ist sie mindestens zweistellig. Auf Bremen folgt Sachsen-Anhalt mit einer Kinder- und Jugendarmutsquote von 25,2 Prozent und Nordrhein-Westfalen mit 24,6 Prozent.

Besonders oft sind Kinder und Jugendliche arm, wenn sie in alleinerziehenden Familien oder in Familien mit drei oder mehr Kindern aufwachsen, heißt es in dem Bericht. Bei Paarfamilien mit drei und mehr Kindern betrug die Armutsquote 31,6 Prozent. Bei Alleinerziehenden, wo nicht nach Kinderzahl unterschieden wird, betrug die Armutsquote 41,6 Prozent und näherte sich in jedem zweiten Alleinerziehenden-Haushalt einer Armutssituation.

Nach Altersgruppen sind die jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren diejenigen mit der höchsten Armutsquote, nämlich 25,5 Prozent. Jeder vierte junge Erwachsene ist von Armut betroffen. In Ostdeutschland sind es 32,5 Prozent im Vergleich zu 24,2 Prozent im Westen. Insgesamt gelten in Deutschland 4,43 Millionen unter 25-Jährige als arm. Dabei bewegen sich die Anteile der armen Kinder und Jugendlichen und auch der jungen Erwachsenen seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau.

Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, sind in jeder Hinsicht benachteiligt, sowohl was ihre Bildung und Gesundheit als auch ihre gesellschaftliche Teilhabe betrifft. Es ist ein Teufelskreis, aus dem sie in der Regel nicht mehr herauskommen.

In einem besonderen Teil der Studie diskutieren die Forscherinnen die Folgen von Armut und zeigen dafür viele Beispiele auf. Sie weisen nach, dass arme junge Erwachsene, die schon in der Jugend Armutserfahrungen gemacht hatten, auch als Erwachsene benachteiligt sind und unter einer schlechteren psychischen Gesundheit leiden.

Und die Situation wird infolge der aktuellen Krisen und der damit einhergehenden Preissteigerungen noch deutlich verschärft. Der Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020 und die Entwicklung seither haben zu einem weiteren starken Anstieg der Armut geführt. Wenn die Politik der kapitalistischen Regierungen aller Länder unter der Maxime „Profite vor Leben“ gefasst werden kann, so ist das wörtlich zu nehmen: Weit mehr als 20 Millionen Menschen weltweit, fast 170.000 allein in Deutschland sind der Pandemie zum Opfer gefallen. Gleichzeitig haben die  „Rettungsmaßnahmen“ und „Hilfspakete“ der Regierungen die Lage für die unteren Schichten verschlimmert.

Erst wurden während der Pandemie den Banken und Konzernen Milliarden Euros, Dollars und andere Währungen in den Rachen geworfen, und die Reichen konnten sich an der Not und dem Elend von Milliarden Menschen bereichern. Gleichzeitig gab es für die Unterstützung derjenigen, die durch die Pandemie ihre Arbeit und Einkommen verloren, nur Almosen. Seither ist mit Ausbruch des USA/Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine die Inflation auf Rekordhöhen angestiegen, mit dramatischen Auswirkungen auf alle, die vorher schon kaum über die Runden kamen. Am härtesten und stärksten betroffen waren auch hier wieder die Millionen von Menschen, die gezwungen sind, im Niedriglohnbereich zu arbeiten, und ihre Familien.

Infolge der Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind vor allem die Strom- und Gaspreise unverhältnismäßig angestiegen. Die Ausgleichszahlen, die die Regierung für die hohen Energiekosten gewährte, erwiesen sich als Tropfen auf den heißen Stein. Die Inflation ist praktisch der Mechanismus, mit dem die Kosten für die massive Aufrüstung und den Krieg, sowie für die Rettungspakete für die Reichen aus der Arbeiterklasse herausgepresst werden.

Wie im Fall vieler anderer Studien zu Armut und sozialer Ungleichheit bietet auch das Factsheet der Bertelsmann-Stiftung wichtige Informationen und viel nützliches Zahlenmaterial. Wie all die Jahre vorher, werden die Forderungen, die sie daraus an die Regierung ableiten, auf taube Ohren stoßen. Während die Ampel-Koalition über Nacht ein 100-Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr und weitere zig Milliarden für Aufrüstung und Krieg auf den Weg bringen kann, ist für soziale Bedürfnisse angeblich kein Geld da. Während der Verteidigungshaushalt steigt und steigt, sind die Ausgaben für Gesundheit und Bildung im jüngsten Bundeshaushalt massiv gekürzt worden.

Auch der Kinderschutzbund hat zum Ende letzten Jahres vor einem weiteren Anstieg der Kinderarmut gewarnt. Die Inflation treffe vor allem ärmere Familien und besonders Kinder, sagte der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers. „Die Inflation trifft Familien, die nur wenig Geld zur Verfügung haben, besonders hart“, sagte Hilgers. Die Kinderarmut werde deshalb zwangsläufig weiter zunehmen. Hilgers wies auch warnend darauf hin, dass Familien mit Kindern 2023 mit den Regelsätzen im Bürgergeld nicht auskommen werden. Die Erhöhung komme zu spät und werde von der Inflation direkt wieder aufgefressen.

Während die große Mehrheit der Bevölkerung unter der Inflation und dem hohen Preisanstieg bei Lebensmitteln und Energie zu leiden hat, gibt es eine kleine Minderheit an der Spitze der Gesellschaft, die sich an den Folgen der Krise enorm bereichert. Hier sei nur das kürzlich bekannt gewordene Beispiel von Hapag Lloyd genannt.

Am 8. Februar 2023 berichtete das Handelsblatt, dass die Reederei Hapag-Lloyd nach einem „Fabel-Rekordjahr“ mehr als elf Milliarden Euro an seine Aktionäre ausschütten werde. Hapag-Lloyd hat vom Boom in der Containerschiffart profitiert. Der Vorstand will daher die Dividende auf 63 Euro je Aktie im Vergleich zum Vorjahr (2021: 35 Euro) fast verdoppeln. Während der Coronakrise waren infolge der gestörten Lieferketten die Frachtraten für den Gütertransport auf hoher See regelrecht explodiert.

Hauptnutznießer des Dividendensegens ist der Hamburger Milliardär Klaus-Michael Kühne, einer der reichsten Deutschen. Er erhält als Großaktionär von Hapag-Lloyd allein 3,3 Milliarden Euro Dividende. „Innerhalb von zwei Jahren summieren sich die Gewinnausschüttungen der Reederei damit auf mehr als 17 Milliarden Euro“, schreibt das Handelsblatt.

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