Leugnen, Verschweigen und Rufmord – das sind die Reaktionen der deutschen Medien, Politik und Justiz auf die Enthüllung des preisgekrönten Investigativjournalisten Seymour Hersh, dass die US-Regierung für die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines verantwortlich ist. Hersh hat am 8. Februar dieses Jahres eine Recherche veröffentlicht, die minutiös schildert, wie der Anschlag auf die Gaspipeline geplant, vorbereitet und durchgeführt wurde.
Demnach hatte US-Sicherheitsberater Jack Sullivan zwei Monate vor Kriegsbeginn eine Taskforce aus Vertretern des Militärs, der CIA und der Regierung gebildet, die sich in einem Bürogebäude in Nähe des Weißen Hauses traf und Pläne zur Zerstörung der Pipeline ausarbeitete.
Im Juni 2022 befestigten dann Spezialtaucher der US-Marine jeweils zwei Sprengladungen an jeder der vier Röhren der Pipeline. Die Aktion fand im Rahmen des Nato-Manövers BALTOPS statt, damit der Einsatz der Taucher nicht auffiel. Logistisch wurden die US-Taucher von Norwegen unterstützt. Nach anfänglichem Zögern wurden die Bomben dann am 26. September auf Befehl des Weißen Hauses mithilfe eines Sonars ferngezündet. Zwei versagten, deshalb blieb eines der vier Rohre intakt.
Man hätte erwarten können, dass Hershs Enthüllungen die Schlagzeilen beherrschen und von anderen Medien, die wie Spiegel oder Süddeutsche über entsprechende Mittel verfügen, weiterverfolgt werden. Schließlich handelt es sich um den größten Terrorakt gegen ein Objekt der europäischen Infrastruktur seit Jahrzehnten und – wenn Hershs Recherche zutrifft – um einen Kriegsakt der USA gegen Nato-Partner.
Nord Stream verbindet Russland direkt mit Deutschland und hätte – auch wenn die Pipeline zur Zeit der Explosion wegen des Ukrainekriegs nicht in Betrieb war – Westeuropa auf Jahrzehnte hinaus mit preisgünstigem Gas aus Russland versorgen können. Die Erstellungskosten von Nord Stream 1 und 2 in Höhe von rund 20 Milliarden Euro waren zur Hälfte von westeuropäischen Energieunternehmen getragen worden, die auch die Hälfte von Nord Stream 1 besaßen.
Doch nichts dergleichen geschah. Die meisten Medien widmeten Hershs Recherche nur eine kurze Notiz. Sie wiederholten unkritisch die Dementis der US-Regierung und konzentrierten sich darauf, Hershs Ruf zu zerstören. „Pulitzerpreisträger auf Abwegen“ (taz), „Die Schattenseiten eines Star-Reporters“ (Süddeutsche) und „Starreporter mit zweifelhaftem Ruf“ (t-online) lauteten typische Überschriften. Einzige Ausnahme bildete die Berliner Zeitung, die am 14. Februar ein ausführliches Interview mit Hersh veröffentlichte, in dem er über weitere Details sprach und Einwände beantwortete.
Auch die Justiz und die Regierungen Deutschlands, Dänemarks und Schwedens, in deren Hoheitsgewässern der Anschlag stattfand, mauern. Obwohl inzwischen fünf Monate seit dem Anschlag vergangen sind und der Tatort gründlich untersucht wurde, hüllen sie sich in Schweigen. Schweden und Dänemark haben sich aus Gründen der Vertraulichkeit aus dem Joint Investigation Team mit Deutschland zurückgezogen, das ursprünglich die Untersuchungen gemeinsam führen sollte. Seither ermittelt – und vertuscht – jedes Land für sich alleine.
Journalistische und parlamentarische Anfragen werden abgeschmettert. So antwortete das Bundeswirtschaftsministerium bereits drei Wochen nach dem Anschlag auf eine schriftliche Anfrage der Linken-Abgeordneten Sahra Wagenknecht, es sei „nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass weitere Auskünfte aus Gründen des Staatswohls nicht – auch nicht in eingestufter Form – erteilt werden können“.
Zur Begründung führte das vom Grünen Robert Habeck geleitete Ministerium die „Third-Party-Rule“ für die internationale Zusammenarbeit der Geheimdienste mit ihren strengen Geheimhaltungsauflagen an: „Die erbetenen Informationen berühren somit derart schutzbedürftige Geheimhaltungsinteressen, dass das Staatswohl gegenüber dem parlamentarischen Informationsrecht überwiegt und das Fragerecht der Abgeordneten ausnahmsweise gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung zurückstehen muss.“
Auch die Frage, „welche Nato-Schiffe und Truppenteile“ sich in der Region aufhielten, wollte die Bundesregierung nicht beantworten. Eine Antwort „würde die Preisgabe von Informationen beinhalten, die das Staatswohl in besonderem Maße berühren“, schrieb das Auswärtige Amt. „Auch nur die geringe Gefahr des Bekanntwerdens“ könne nicht hingenommen werden.
Mit anderen Worten: Die Bundesregierung wusste, dass die USA den Anschlag verübt hatten, leugnete dies aber aus politischen Gründen.
US-Präsident Joe Biden hatte entsprechende Pläne zwei Wochen vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine sogar öffentlich verkündet. „Wenn Russland einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben, wir werden dem Projekt ein Ende setzen,“ drohte er auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz. Und auf die Frage, wie dies möglich sei, wenn Deutschland die Pipeline kontrolliere, antwortete er: „Ich verspreche, dass wir in der Lage sein werden, es zu tun.“ Zu diesem Zeitpunkt lagen die ausgearbeiteten Pläne zur Sprengung der Pipeline bereits vor.
Einer der Hauptvorwürfe gegen Hersh lautet, er berufe sich auf eine einzige Quelle im US-Sicherheitsapparat, deren Identität er aus Sicherheitsgründen geheim hält, während die journalistische Sorgfaltspflicht mindestens zwei Quellen verlange. Tatsächlich ist eine der wichtigsten Quellen von Hersh die Drohung des Präsidenten und die stellvertretende Außenministerin Victoria Nuland, die sich ähnlich äußerte und nach dem Anschlag jubelte, sie sei erfreut, „dass Nord Stream 2 jetzt, wie man so schön sagt, ein Haufen Schrott auf dem Meeresgrund ist“.
Das Wissen über die Verantwortung der USA für den Anschlag sei weit verbreitet, sagte Hersh der Berliner Zeitung. „Die Menschen in Amerika und Europa, die Pipelines bauen, wissen, was passiert ist… Die Leute, denen Unternehmen gehören, die Pipelines bauen, kennen die Geschichte.“ Er habe sie „nicht von ihnen erfahren“, aber er habe „schnell erfahren, dass sie es wissen“.
In Deutschland ermittelt inzwischen Generalbundesanwalt Peter Frank wegen des Anschlags gegen „Unbekannt“. Doch auch er beruft sich auf die Geheimhaltungspflicht und legt – gelinde gesagt – keinen besonderen Ermittlungseifer an den Tag.
Auf eine parlamentarische Anfrage Wagenknechts, ob die Bundesregierung die detaillierten Hinweise von Hersh überprüfen werde, antwortete das Justizministerium, dem Generalbundesanwalt lägen „keine Erkenntnisse im Sinne der jüngsten Veröffentlichung“ vor. Eine Auskunft zu Erkenntnissen aus dem Ermittlungsverfahren lehnte das Ministerium mit der Begründung ab, das würde „weitergehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln“.
Dass die USA den Anschlag geplant und ausgeführt haben, ist die einzige plausible Erklärung für die Zerstörung von Nord Stream. Hersh hat dafür zahlreiche Indizien und Fakten geliefert. Die nach dem Anschlag gestreute Behauptung, Russland habe die Pipeline selbst zerstört, ist derart absurd, dass sie schnell wieder fallen gelassen wurde. Selbst Generalbundesanwalt Frank hat öffentlich bestätigt, dass es dafür keine Beweise gibt.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die USA verfügen dagegen nicht nur über die notwendigen Mittel für eine derart aufwändige Operation, sondern auch über ein Motiv. Von der Berliner Zeitung danach gefragt, wies Hersh auf eine Pressekonferenz von Antony Blinken kurz nach der Sprengung der Pipelines hin. Der US-Außenminister hatte dort die Zerstörung der Pipelines als „ungeheure Chance“ bezeichnet, als „Chance, Russland die Möglichkeit zu nehmen, die Pipelines als Waffe einzusetzen“. Russland könne Westeuropa nun nicht mehr unter Druck setzen, die Unterstützung der USA im Ukraine-Krieg zu beenden.
„Die Befürchtung war, dass Westeuropa nicht mehr mitmachen würde,“ so Hersh. „Ich glaube, der Grund für diese Entscheidung war, dass der Krieg für den Westen nicht gut lief und sie Angst vor dem nahenden Winter hatten. … Die USA hatten Angst, dass Deutschland die Sanktionen wegen eines kalten Winters aufheben würde.“ Hinzu komme, dass die USA eine Menge Geld mit Flüssiggas (LNG) verdienten, das sie nun an Europa verkauften.
Wenn deutsche Medien und Politiker die Verantwortung der USA trotzdem leugnen und stattdessen Hersh denunzieren, hat dies ausschließlich politische Gründe. Die Sprengung der Pipelines durch die USA zerstört den offiziellen Mythos, die Nato sei ein Bündnis demokratischer Staaten, das in der Ukraine für Freiheit kämpfe. Sie zeigt die Nato, wie sie wirklich ist: Als ein Bündnis imperialistischer Räuber, die sich gegen einen gemeinsamen Gegner verbündet haben, während sie hinter dem Rücken längst das Messer gezogen haben, um sich gegenseitig zu zerfleischen.
Die USA führen seit dreißig Jahren einen brutalen Krieg nach dem anderen, um ihre Stellung als dominierende Weltmacht zu sichern. Auf der eurasischen Landmasse verfolgen sie dabei das 1997 vom Geostrategen Zbigniew Brzezinski formulierte Ziel, „das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht zu verhindern“. Das richtet sich in erster Linie gegen China und Russland, aber auch gegen Deutschland, das nicht zur dominierenden Macht Europas aufsteigen soll.
Die herrschenden Kreise Deutschlands betrachten den gegenwärtigen Krieg dagegen als Chance, eben dies zu erreichen, endlich wieder massiv aufzurüsten und – wie sie offen verkünden – zur „militärischen Führungsmacht Europas“ zu werden. Langfristig halten sie einen offenen Konflikt mit den USA für unvermeidlich, wie dies der außenpolitische Experte Josef Braml in seinem Buch „Die transatlantische Illusion“ dargelegt hat. Aber sie wollen diesen Bruch so lange hinauszögern, bis sie sich stark genug fühlen, dem Druck der USA standzuhalten.
Darüber bestehen taktische Differenzen. In allen politischen Parteien und in der Wirtschaft gibt es Vertreter, die für einen sofortigen Bruch mit den USA eintreten und den gegenwärtigen Krieg gegen Russland für falsch halten. Besonders stark sind sie in der AfD und im Wagenknecht-Flügel der Linken vertreten, die versuchen, ihr Eintreten für eine eigenständige deutsch-europäische Großmachtpolitik als „Friedenspolitik“ auszugeben.
Die Sprengung der Nord Stream-Pipelines bestätigt, dass die USA bei der Verfolgung ihrer imperialistischen Ziele vor nichts zurückschrecken. Doch ihre Partner und Rivalen in Deutschland stehen ihnen darin in nichts nach. Mit der Wiederbelebung des deutschen Militarismus treten sie immer offener in die Fußstapfen der Wehrmacht und der Nazis, die die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen haben.
Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg erfordert den Aufbau einer internationalen Bewegung der Arbeiterklasse, die für den Sturz des Kapitalismus und für ein sozialistisches Programm eintritt. Dafür kämpfen die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Schwesterparteien im Internationalen Komitee der Vierten Internationale.
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