Gemeinsamer Warnstreik der Eisenbahner und im öffentlichen Dienst

„Die Preise explodieren; man merkt’s am täglichen Bedarf. Der Lohn reicht vorne und hinten nicht mehr“ – mit diesen Worten drückte ein Potsdamer Straßenbauarbeiter aus, was Hunderttausende antreibt: „So geht’s nicht weiter. Es muss wohl erst richtig wehtun, bevor sich was bewegt.“

Arbeiter des Öffentlichen Dienstes und der Bahn sprechen über ihren Streik

Der größte Warnstreik seit über 30 Jahren legte gestern den Nah- und Fernverkehr, die großen Flughäfen und die Güterschifffahrt lahm. An dem Streik beteiligten sich viele Zehntausende Eisenbahner, Bus-, Straßen- und U-Bahnfahrer, Techniker, Wartungs- und Autobahnarbeiter, Flughafen-Bodendienste-, Security- und Schalter-Personal sowie Beschäftigte der Häfen und der Autobahnmeistereien. Die Bahn sah sich gezwungen, den Schienenverkehr bundesweit stillzulegen, und in sieben Bundesländern wurden die öffentlichen Nah- und Fernverkehrsdienste gemeinsam bestreikt.

Die Flughäfen München, Düsseldorf, Frankfurt, Berlin, Hannover, Hamburg und Bremen waren im Streik, und bundesweit konnten rund 380.000 Reisende ihre Flüge nicht antreten. In München hatte der Streik schon am Sonntag begonnen und wurde auf zwei Tage ausgedehnt. An mehreren Flughäfen beteiligten sich auch Bodenverkehrsarbeiter und Security-Personal der Subunternehmen und Dienstleister wie z.B. WISAG. „Seit Jahren haben wir kaum je höhere Zuschläge erhalten, trotz Überstunden, Samstags-, Sonn- und Feiertagsschichten. Dabei sind wir es, die den ganzen Betrieb am Laufen halten“, sagte ein Münchner Bodendienst-Arbeiter im ARD-Mittagsmagazin.

Geisterbahnhof: Leere Hallen während des Eisenbahnerstreiks vom 27. März 2023 in Frankfurt am Main (Foto: WSWS)

Im Gegensatz zur großen Streikbereitschaft gaben die Kundgebungen das Ausmaß des Ausstandes nicht annähernd wieder. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) organisierten zusammen kleine Kundgebungen von jeweils ein paar hundert Teilnehmern, an denen die Funktionäre die Mehrheit stellten und den Ton angaben.

Allein in Baden-Württemberg waren an diesem Tag mindestens 10.000 im Streik. In NRW, Niedersachsen und anderswo wurden auch güterverkehrswichtige Schleusen gesperrt, wie die Schleuse Münster am Dortmund-Ems-Kanal, sowie die Schleusen Duisburg-Meiderich und Friedrichsfeld am Rhein-Herne-Kanal. Dagegen sorgte Verdi in Sachsen an der Autobahnstrecke Dresden–Prag dafür, dass trotz eines Streiks bei der Autobahn GmbH der Tunnelverkehr durch einen Notdienst offenblieb.

Streikversammlung am 27. März 2023, Flughafen München (Foto: WSWS)

Die Gewerkschaften versuchten, mit dem Warnstreik „Dampf abzulassen“, während ihre Spitzen sich in Potsdam mit der Arbeitgeberseite trafen, um hinter verschlossenen Türen die Einzelheiten eines bereits beschlossenen Ausverkaufs zu verhandeln.

Für den öffentlichen Dienst verhandelt Verdi in dieser Woche abschließend den Tarifvertrag, der sich auf 2,5 Millionen Beschäftigte auswirken soll. Verdi fordert offiziell 10,5 Prozent Lohnerhöhung, bzw. 500 Euro monatlich für eine Laufzeit von zwölf Monaten. Was die EVG betrifft, die am 24. April wieder Verhandlungen führt, so lautet ihre Forderung ähnlich: eine Lohnerhöhung um 12 Prozent, mindestens aber 650 Euro monatlich, bei einer Laufzeit von 12 Monaten.

Doch EVG und Verdi wollen diese Ziele gar nicht ernsthaft durchsetzen. Sie sind aufs Engste mit den Unternehmen und Regierungen verbunden und fürchten eine echte Mobilisierung ebenso wie diese. Bei der Post hat Verdi einen Streik gerade abgewürgt und sich hinter das provokative Angebot des Konzerns gestellt, das empfindliche Reallohnsenkungen vorsieht.

Die Angebote von Bund und Ländern sehen ebenfalls monatelange Nullrunden in diesem Jahr und eine Laufzeit von 27 Monaten vor, in denen es sowohl im öffentlichen Dienst wie bei der Bahn nur insgesamt 5 Prozent mehr geben soll. Von dieser Reallohnsenkung sollen „Inflationsausgleichsprämien“ als Einmalzahlungen ablenken, die jedoch höchstens dazu taugen, die schlimmsten Löcher zu stopfen, aber die Löhne nicht nachhaltig verbessern.

Nicht zufällig fand parallel zu den Potsdamer Verhandlungen mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) in Berlin gerade die Kabinettssitzung der Ampel statt, in der es darum geht, dass sämtliche Ausgabensteigerungen für das Militär und den Ukrainekrieg künftig strikt durch Einsparungen aufzubringen seien.

Gleichzeitig tun die Gewerkschaftsführer alles in ihrer Macht Stehende, um einen großen Streik zu verhindern. So sagte die zweite Verdi-Sekretärin von Baden-Württemberg, Maike Schollenberger, der Warnstreik habe vor allem „ein Ziel: die öffentlichen Arbeitgeber noch rechtzeitig wachzurütteln, um einen wochen- oder gar monatelangen Tarifkonflikt zu vermeiden“. Und die EVG-Führung gab bekannt, dass sie jedenfalls nicht plane, an den Osterfeiertagen zu streiken.

Conny, Marco und Mario, Verkehrsgesellschaft Frankfurt (Foto: WSWS)

Für Conny, Marco und Mario, drei Beschäftigte der VGF (Verkehrsgesellschaft Frankfurt), die an der Kundgebung vor dem Frankfurter Hauptbahnhof teilnahmen, ist besonders die Erhöhung des Monatslohns um mindestens 500 Euro wichtig. „Wir haben das Leben unter Corona-Bedingungen aufrechterhalten“, sagte Mario. „Jetzt kommt die Energiekrise und die Inflation dazu.“ In einer Stadt wie Frankfurt könne das keiner mit seinem bisherigen Gehalt mehr stemmen. „Ein trockenes Danke reicht uns nicht“, sagte Conny. Das bisherige Angebot sei eine „Lachnummer“.

Mario, der als Techniker arbeitet, wies darauf hin, was eigentlich alles geleistet wird, damit die Straßenbahn täglich fährt. „Der Öffi ist selbstverständlich – aber Fachkräfte fehlen überall, das Gehaltsgefüge reicht einfach nicht aus.“ Das gehe allen so, ergänzte Conny: „Auch den Verkäuferinnen, Pflegekräften, Eisenbahnern – alle tragen eine große Verantwortung.“ Mit Blick auf die Investitionen in die Rüstung sagte Mario: „Dieses ganze Geld kommt einfach nicht mehr da an, wo es wirklich gebraucht wird.“

EVG- und Verdi-Warnstreik und Demonstration, 27. März 2023 in Leipzig (Foto: WSWS)

Der Gegensatz zwischen den Zielen der Gewerkschaften und dem, was Arbeiter benötigen und erwarten, kam auch anderswo deutlich zum Ausdruck.

Von dem Kongresshotel am Templiner See, dem Verhandlungsort, fand bundesweit die größte Kundgebung und Demonstration statt. Dort hatte die Dienstleistungsgewerkschaft gemeinsam mit GEW, EVG und der Gewerkschaft der Polizei (GdP) etwa 2.000 Streikende mobilisiert. Ausschließlich für Potsdam hatte Verdi auch Kliniken, Kitas und andere Betriebe in den Streik gerufen.

Obwohl die Kundgebung von Funktionären und Vertrauensleuten dominiert war, die jede Diskussion zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und WSWS-Reportern zu unterbinden versuchten, kam es doch zu einigen offenen Gesprächen. Mehrere Teilnehmer äußerten weitergehende Forderungen und befürworteten einen gemeinsamen Kampf mit den Streikenden in Frankreich.

Fabiana, eine Pflegekraft im Vivantes-Konzern seit November 2021, sagte: „Seit ich angefangen habe, ist es immer schlimmer geworden. Vielen Kollegen wurde gekündigt. Der Leitung sind die Konsequenzen für das Personal und die Patienten offenbar egal. Kolleginnen werden immer häufiger krank – wofür sie auch noch Abmahnungen bekommen.“

Auf die Ereignisse in Frankreich angesprochen, wurde Fabiana lebhaft und sagte, dass sie diese Streiks begrüße. Eine Pflegerin sagt im Vorübergehen: „Wir hier in Deutschland haben die Rente mit 67 stillschweigend hingenommen. Die Franzosen sind wirkliche Revolutionäre.“ Fabiana erklärte: „Hier bei uns ist die Streikpolitik sehr lahm. Wenn man sich nicht gegen das System auflehnt, erreicht man nichts. Der deutsche Staat ist immer noch sehr rechtsextrem, und Menschen werden massiv ausgebeutet.“

Streikende Erzieherin aus Potsdam (Foto: WSWS)

Anja und Christine, zwei Erzieherinnen, sagten: „Bei uns geht’s nur noch darum, die Kinder aufzubewahren, nicht mehr um den eigentlichen Bildungsauftrag.“ Der Schlüssel habe sich immer weiter verschlechtert, berichtete Anja. Heute betreuten sie zu zweit 20 Kinder, im Kindergarten sogar 25 Kinder. „Vor allem gegen diese Bedingungen streike ich“, so Anja. Christine, die im Hort arbeitet, bestätigte dies und sagte: „Ich fordere nicht nur mehr Lohn, was verständlich genug ist. Es fehlt auch massiv an Personal. … Für die junge Generation sieht es schlecht aus.“ Anstatt den Beruf attraktiver zu machen, werde auf ungelernte Kräfte zurückgegriffen. „Dabei fangen viele bei uns an, weil ihnen der Beruf wirklich am Herzen liegt. Und ihre Ausbildung müssen sie selbst bezahlen.“

Zu den Streiks in Frankreich sagt Christine: „Ich denke, es wird bei uns auch so kommen. Es verschlechtert sich alles. Wie soll man anders als durch Streik etwas erreichen? Wenn sich der Landtag seine eigenen Bezüge massiv erhöht, ist das kaum eine Meldung wert. Aber heute werden Leute in den Medien angegriffen, die für ein paar Prozent mehr Lohn streiken.“

Zwei Straßenbauarbeiter, Michael und Alfons, die auf dem Bauhof in Potsdam arbeiten, erklärten, dass die Forderung nach 10,5 Prozent mehr Lohn die unterste Grenze sei. Eigentlich hätten es mindestens 15 Prozent sein sollen. „Die Preise explodieren ja“, sagte Michael, seit 23 Jahren im Beruf und kurz vor der Rente. Es reiche vorne und hinten nicht mehr. „Die Mieten sind Wahnsinn“, erklärten die beiden. „Für eine Wohnung in Potsdam von, sagen wir mal 80qm unter 1000 Euro, muss man schon richtig suchen.“ Alfons deutete auf einen Neubaublock gegenüber des Alten Markts in Potsdam: „Das sind alles Eigentumswohnungen. Ein normaler Arbeiter kann sich sowas nicht leisten.“

Mit Blick auf die Streiks in Frankreich sagte Michael, diese Arbeiter machten es richtig: „Wir lassen uns wieder einmal unterbuttern.“ Er kommentierte: „Es ist eine absolute Frechheit, wenn man bedenkt, dass ein Rentner 750–800 Euro bekommt, während gigantische Boni an die Manager ausgeschüttet werden.“ Darauf angesprochen, dass EVG-Funktionäre genau solche Boni in den Aufsichtsräten durchwinken und jetzt die Tarifverhandlungen führen, stimmte Alfons zu: „Da hat er recht“, und beide nahmen sich interessiert einen Flyer vom unabhängigen Aktionskomitee.

Katrin, eine langjährige Erzieherin, die aus Dessau in Sachsen-Anhalt angereist war, um die Streikversammlung zu unterstützen, sagte: „Wir haben zum letzten Mal im Jahr 2015 unbefristet gestreikt – damals vier Wochen lang. Das war nur möglich, weil wir den Rückhalt der Eltern hatten, obwohl es sehr schwierig für sie war.“

Der gestrige Warnstreik hat bestätigt, was im Statement des Aktionskomitees Öffentlicher Dienst steht, das auf zahlreichen Demonstrationen verteilt wurde:

Unsere Arbeitsbedingungen werden sich nur verbessern und unsere Löhne können nur verteidigt werden, wenn nicht Krieg und Profit im Zentrum stehen, sondern unsere Bedürfnisse. Dafür können wir nur selbst kämpfen und nur unabhängig von den Gewerkschaftsbürokraten von Verdi.

Das Statement ruft die Arbeiter auf, sich unabhängig von den Gewerkschaften zu organisieren und den Kampf gemeinsam mit Kollegen in Frankreich und anderen europäischen Ländern zu führen. Wie der gestrige Warnstreik zeigt, ist die Arbeiterklasse durch einen großen, unbefristeten Streik auf dieser Grundlage sehr wohl in der Lage, ihre berechtigten Forderungen und noch viel mehr durchzusetzen. Um den Kampf gegen die Kürzungs- und Kriegspolitik der Regierungen zu führen, brauchen sie jedoch ihre eigenen Kampforganisationen und eine sozialistische Perspektive.

Darauf angesprochen, reagierten viele Arbeiter interessiert, wie die Erzieherin Katrin aus Dessau, die zu den Aktionskomitees sagte: „Das ist eine gute Sache. Irgendwann muss man ja anfangen, so zu denken.“ Von Verdi sei sie schon vor zwei Jahren ausgetreten. „Wir haben uns von Verdi nicht mehr verstanden gefühlt. Sie kochen ihr eigenes Süppchen.“

Loading